Erkrankungen der Atemwege führten schon vor der COVID-19-Pandemie zu zahllosen Rechtsfragen – ein feuilletonistischer Überblick zum Start der neuen Influenza-Saison.
In dieser Woche beginnt die "Arbeitsgemeinschaft Influenza" des Robert-Koch-Instituts mit der regelmäßigen Berichterstattung zur Entwicklung der Virusgrippe-Erkrankungen in Deutschland in der neuen Saison 2020/2021.
Gemessen an ihrem volkswirtschaftlichen wie individuellen Schaden wurde dieser Infektionskrankheit stets relativ schwache Aufmerksamkeit geschenkt. Von der weniger bedrohlichen Rhinitis, dem gewöhnlichen Schnupfen, ganz zu schweigen.
Das RWI – vormals Rheinisch-Westfälisches Institut für Wirtschaftsforschung – beziffert den volkswirtschaftlichen Schaden einer "heftigen" Grippesaison auf 2,2 Milliarden Euro. Die Produktionsausfälle und Wertschöpfungsverluste in Folge von Arbeitsunfähigkeit wegen Krankheiten des Atemsystems kosteten nach Angaben des Statistischen Bundesamts im Jahr 2018 die deutsche Volkswirtschaft rund 34 Milliarden Euro – das war Platz 3 nach Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems und psychischen Störungen.
Vom frischen Auswurf der Atemwege stets treu umgeben, hat sich in der Rechtsprechung natürlich ein reicher Fundus an Erkenntnissen zu diesen Erkrankungen angesammelt.
Ist eine Erkältung überhaupt eine Erkrankung?
Gemäß § 367 Abs. 1 Nr. 3 Strafgesetzbuch (StGB) wurde bis 1961 bzw. 1975 wegen Übertretung strafrechtlich verfolgt, "wer ohne polizeiliche Erlaubniß Gift oder Arzneien, soweit der Handel mit denselben nicht freigegeben ist, zubereitet, feilhält, verkauft oder sonst an Andere überläßt".
Nachdem das Amtsgericht Bremen in einem Fall aus den späten 1950er Jahren einen Drogisten auf dieser Grundlage wegen des Verkaufs von "Spalt"-Tabletten verurteilt hatte, wollte das Oberlandesgericht (OLG) Bremen seiner Revision mit Blick auf die "Kaiserliche Verordnung betreffend den Verkehr mit Arzneimitteln vom 22. Oktober 1901" stattgeben. Denn als Arznei sollte nach Auffassung des OLG Bremen nur gelten, was zur Behandlung einer Krankheit diente. Daran sollte es hier fehlen, weil das OLG meinte, dass "geringfügige Normabweichungen, sogenannte Beschwerden oder Unpäßlichkeiten, wie gewöhnliche Kopfschmerzen, Witterungsbeschwerden, Schnupfen oder Sodbrennen, noch nicht als Krankheit bezeichnet werden könnten".
Mittel zur Behandlung von "Beschwerden oder Unpäßlichkeiten" wären dann nicht als Arznei zu werten. Weil jedoch das Kammergericht mit Urteil vom 26. September 1956 erklärt hatte, dass "als Krankheit jede Störung der körperlichen und geistigen Gesundheit, d.h. jede Abweichung von der Norm" gelten solle, "die geeignet ist, das Wohlbefinden zu beeinträchtigen", hatte das OLG Bremen um Entscheidung des Bundesgerichtshofs (BGH) ersucht, der sich mit Beschluss vom 21. März 1958 den Berliner Richtern anschloss (Az. 2 StR 393/57).
Wer unter einer noch so harmlosen Erkältung leidet, darf sich also seit dem 21. März 1958 offiziell krank nennen.
Sozialadäquanzlehre des nicht allzu schweren Schnupfens
Auf diesen bemerkenswert modernen Krankheitsbegriff folgte jedoch dort, wo es für die meisten Menschen darauf ankommt – im Arbeitsrecht – eine Art Sozialadäquanzlehre des Schnupfens.
Ein schönes Beispiel gibt hierfür das Urteil des Landesarbeitsgerichts (LAG) Schleswig-Holstein vom 12. September 1983 (Az. 5 [2] Sa 343/82). Einer 25-jährigen Küchenhilfe aus Elmshorn war das Arbeitsverhältnis gekündigt worden, weil sie während einer Krankschreibung Anfang Januar 1982 dabei beobachtet worden sein soll, eine "Kraftdroschke" – zu Deutsch: ein Taxi – gelenkt zu haben. Das LAG erklärte bei dieser Gelegenheit, dass ein "leichter Schnupfen oder Katarrh" die Arbeitsfähigkeit regelmäßig "nicht wesentlich beeinträchtigen" werde, es komme auf die "Schwere der Erkrankung" und die "Art der zu erbringenden Arbeitsleistung" an.
Im Anschluss an andere Gerichte befand das LAG Schleswig-Holstein, dass es aus der Treuepflicht gegenüber dem Arbeitgeber nicht nur geboten sei, sich den vom Arzt vorgeschriebenen Formen der Therapie und Schonung zu unterziehen, sondern jede private Tätigkeit zu unterlassen, die den Eindruck vermitteln könnte, der Arbeitnehmer "feiere krank" – auch mit Blick auf das schlechte Vorbild, das durch einen allzu entspannten Umgang mit der Krankheit den Kollegen gegeben werde.
Das Fahren einer "Kraftdroschke" ist natürlich kein therapeutisch sinnvoller Sport an frischer Luft, doch liegen im moralischen Überschuss dieses Urteils möglicherweise die Anfangsgründe einer Art Privatdiagnostik von Arbeitnehmern wie Arbeitgebern: Auf die objektive Feststellung selbst einer Infektionskrankheit folgten nicht primär Überlegungen zur Fürsorge dem Arbeitnehmer und seinen Kollegen gegenüber, sondern Erwägungen dazu, dass es im Zweifel sozial adäquat sein könnte, auch krank zur Arbeit zu erscheinen. Der betriebs- und volkswirtschaftliche Schaden, der sich aus diesem sogenannten Präsentismus ergibt, soll beträchtlich sein – 2.400 Euro je Arbeitnehmer, national 130 Milliarden Euro aufs Jahr.
Generelle Tendenz, Atemwegserkrankungen nicht ganz ernst zu nehmen?
Der Blick in die Rechtsprechung lässt das Bild eines allgemein wenig befriedigenden Wissens über Erkältungskrankheiten zu.
Wie steht es beispielsweise um die Gefahren von Zugluft? – In einem Urteil vom 29. September 1952 dokumentierte der BGH noch die klassische Güterabwägung: Zwischen Bad Heilbrunn und Bad Tölz war eine Frau aus dem fahrenden Bus gestürzt, ihre Übelkeit womöglich auf die schlechte Luft im dicht besetzten Fahrzeug zurückzuführen – eine Lüftung sei wegen Zugluftgefahr aber unzumutbar gewesen (Az. III ZR 201/51). Bereits 1968 behaupteten zwei südafrikanische Mediziner dagegen in der renommierten "Lancet", dass dies empirisch nicht zu belegen sei – die Furcht vor der Zugluft beruhe auf einem altorientalischen Aberglauben, durch die geöffneten Fenster könnten sich Dämonen Zugang verschaffen. Aktuell ist ein gewisser Opportunismus (hier oder hier) in dieser Frage virulent.
Sehr unzugänglich zeigten sich die Gerichte dem Gedanken, dass eine schwere Erkältung – ein Mann hatte Seite an Seite mit seinem Pferdegespann ein Fuhrwerk durch die eisigen Wege der unwirtlichen Eifel gezogen – für seinen Herztod mitursächlich sein könnte. Allerdings war hier die Verachtung der Erkältungskrankheit gegenüber wohl darauf zurückzuführen, dass es sich um einen Soldaten im Bäckereidienst der Wehrmacht gehandelt hatte und im Winter 1939/40 Menschen aus sehr viel näherliegenden Gründen starben – was seiner Witwe, 30 Jahre später, aber kaum Trost gewesen sein wird (Bundesverwaltungsgericht, Urt. v. 03.02.1970, Az. II C 96/65).
Der Fall vom tödlichen Schnupfen am Eifeler Westwall des Jahres 1940 war einem Jurastudenten augenscheinlich unbekannt geblieben, der 1974 erfolglos beantragte, von der Wehrpflicht zurückgestellt zu werden, um sich das intellektuelle Resultat einer Anfängerübung im öffentlichen Recht nicht durch die Einberufung nach seinem dritten Fachsemester verderben zu lassen – das Bundesverwaltungsgericht befand bei der Gelegenheit, seiner angeborenen Schleimhautschwäche mit schneller Schnupfenneigung könne auch truppenmedizinisch angemessen abgeholfen werden (Urt. v. 11.06.1975, Az. VIII C 100.74).
Eher selten findet sich vorbildliche Sorge um die Erkältungsgefahr: Mit Urteil vom 1. März 1911 entschied das Reichsgericht zugunsten eines Mieters. Obwohl vertraglich vereinbart war, dass die Zentralheizung für den Fall befeuert werde, dass die Außentemperatur in den ersten Maiwochen unter 10 °R (Réaumur) – das sind 12,5 °C – fallen sollte, blieb, trotz dringender Aufforderung, die Wohnung zu heizen, die Raumtemperatur zwischen dem 1. und 7. Mai 1909 bei nur 12 °R (15 °C). Die Gerichte erkannten hier die Erkältungsgefahr so klar, dass fast unfassbar schnell eine einstweilige Verfügung zur Heizpflicht erging. Das hing aber vermutlich mit dem beinah herrschaftlichen Status der Wohnung und dem erkennbaren Wohlstand des Mieters zusammen, der soeben aus der Sonne des Südens und einem Kuraufenthalt in Wiesbaden zurückgekehrt war – es konnten zu Kaisers Zeiten kaum alle vom Tropfen bedrohten Nasen mit derartiger justitieller Sorge rechnen (Az. III 79/10).
Ein Beispiel dafür, dass das Zusammenspiel aus vermeintlich harmloser Erkältung und einer, durch sie womöglich erst aktivierten schwereren Infektionskrankheit, der Tuberkulose, Grund dafür gab, die Überwachungspflichten der zur Infektionskontrolle berufenen Sozialarbeiterinnen klar zu schärfen, findet sich indes auch – im Urteil des BGH vom 14. März 1960 (Az. III ZR 72/59). Es weckt, angesichts der oft quälenden politischen Diskussionen in COVID-19-Zeiten, wie viel Überwachung dem Volk und wie viel Arbeit den Behörden zuzumuten sei, leichte Melancholie.
Atemwegserkrankungen ernst genommen als Staatssymbol
Über die Frage, ob Atemwegserkrankungen vor dem aktuellen "Corona"-Elend in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht hinreichend ernst genommen wurden, lässt sich mit Blick auf diese Befunde gewiss streiten.
Sollte SARS-CoV-2 wider alle Hoffnungen der menschlichen Gesellschaft ähnlich hartnäckig erhalten bleiben wie die harmloseren Rhinoviren, die ja an sich schon Schaden genug verursachen, könnte es ein untrügliches Zeichen dafür geben, dass Atemwegserkrankungen nachhaltig angemessene Aufmerksamkeit erhalten: Sobald sich die Justizverwaltungen, müde gekämpft von jahrelangen Verfahren ums Kopftuch muslimischer Referendarinnen, einer zwingenden Abstimmung der dienstlichen Mundnaseabdeckung mit der Farbe und Textilqualität der übrigen Amtstracht widmen, dürfte es soweit sein.
Alternativ lässt sich natürlich auch auf einen ersten ehrengerichtlichen Streit unter Anwälten warten, der die Frage klärt, ob es standeswidrig ist, allzu feucht in die Armbeuge der Robe zu niesen – oder genau dies zu unterlassen.
Der Autor Martin Rath arbeitet gewöhnlich als freier Journalist und Lektor, aktuell ist er stark verschnupft.
Erkältungskrankheiten in der Rechtsprechung: . In: Legal Tribune Online, 04.10.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/42996 (abgerufen am: 08.10.2024 )
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