Am 8. Mai 1945 endete der Zweite Weltkrieg in Europa. Der 70. Jahrestag war 2015 wieder einmal Anlass, sich des Datums zu erinnern. Doch was geschah im Jahr nach dem Kriegsende? Ein Blick in historische Juristen-Blätter.
In den Beständen des Landesarchivs Baden-Württemberg sind zwei Unterlagen zu finden, die sogar unter heutigen Eheleuten Seltenheitswert haben: Zwischen dem Scheidungsurteil von Gerta und Reinhold Maier und ihrer Heiratsurkunde liegen, in dieser Reihenfolge zweieinhalb Jahre. Erstmals hatten Reinhold Maier und Gerta Goldschmidt im Jahr 1929 geheiratet. 1939 konnten Frau und Kinder des liberalen Politikers und Rechtsanwalts ins Exil nach England fliehen, ihr Scheidungsurteil datiert auf den 1. Juli 1943, die Urkunde über ihre – erneute – Heirat auf den 18. Januar 1946.
Zu diesem Zeitpunkt war Reinhold Maier bereits Ministerpräsident eines jener drei Teilstaaten, in die sich das Gebiet des heutigen Baden-Württemberg unter alliierter Besatzung gliederte, im US-amerikanischen Nordstaat Württemberg-Baden. Seine Existenz soll dieses bis 1952 bestehende Land der Bundesrepublik Deutschland der Autobahn Karlsruhe-München verdanken. Die amerikanische Besatzungsmacht behielt gerne die Kontrolle über wichtige Verkehrswege: Auch das gern überschuldete Bremen verdankt ein Gutteil seiner bundesstaatlichen Fortexistenz nach 1945 der Bedeutung seines Hafens für die US-Streitkräfte.
Die Quelle aller BRD-GmbH-Fantasien
Eine "Stunde null", die mit dem Kriegsende in Europa geschlagen haben soll, wurde später oft gesprochen, zumeist um das Fehlen eines moralischen Einschnitts zwischen NS- und Nachkriegszeit zu beklagen. Nicht allein die Ehedokumente der Eheleute Maier belegen, dass Einschnitte und Heilung gestörter Rechtsverhältnisse solch starre Datumsgrenzen nicht kennen.
Auch der Blick in die juristische Fachpresse des ersten Nachkriegsjahres zeigt ein Nebeneinander von Neubeginn und Kontinuität, manchmal in der dicht gedrängten Form einer Gesetzgebungsübersicht.
"Die Oberste Regierungsgewalt Ober Deutschland ist von den Regierungen der 4 Besatzungsmächte übernommen worden. Sie wird nach den Instruktionen ihrer Regierungen von den Oberkommandierenden der Streitkräfte der USA., der Vereinigten Königreiche, der UdSSR. und der französischen Republik ausgeübt, von jedem in seiner eigenen Besatzungszone und gemeinschaftlich in Angelegenheiten, die Deutschland als Ganzes betreffen, in ihrer Eigenschaft als Mitglieder des Kontrollrates", klärt beispielsweise die "Süddeutsche Juristen-Zeitung" über die aktuelle Staatsordnung Deutschlands auf.
Eisenhower beseelt deutsche Staaten
"Die gesetzgebende, rechtsprechende und vollziehende Gewalt, die bei Beginn der Besatzung ausschließlich in der Person des obersten Befehlshabers der alliierten Streitkräfte und Militärgouverneurs (General Eisenhower) vereinigt war", ging dann auf die Oberkommandierenden, dann auf die Militärregierungen über, um dann in der amerikanischen Zone den "mit der Bezeichnung als Staaten gebildeten Verwaltungsgebieten Großhessen, Württemberg-Baden und Bayern übertragen" zu werden.
Um zum Arbeitsgebiet des liberalen Rechtsanwalts a.D. und Regierungschefs Reinhold Maier zu gelangen, mag dies ein etwas langes Zitat sein – doch wird man schwer das Bild wieder los, dass selbst ein solch stolzes Staatsgebilde wie Bayern gleichsam von der in der Person von General Eisenhower vereinigten Staatsgewalt neu beseelt werden musste.
Im Staatsrecht spuken ja gerne Metaphysik und Inkarnationsmetaphern umher, die man dann aber auch unbeschwert wieder vergessen kann, wenn die jeweils neueste Staatsmetaphorik sich als leistungsfähiger erweist. Im Jahr 1946 nimmt man dankbar an, was die Eisenhower-Inkarnationen in Deutschland leisten – indem sie etwa ungeliebte Behörden beseitigten: "Da das Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda nebst seinen Zweigstellen und ihm sonstwie angeschlossenen Dienststellen nicht mehr existiert, sind alle Bestimmungen des deutschen Rechts aufgehoben, welche die Überprüfung, Genehmigung oder Ermächtigung durch das genannte Ministerium … vorschreiben."
Siebzig Jahre nach der Beseitigung der gelenkten Presse, jedenfalls in Westdeutschland, glaubt rund die Hälfte der befragten Deutschen, die heutigen Medien seien zentral gelenkt. Man weiß nicht, ob man dies zum Lachen oder zum Fürchten finden soll.
2/2: Arbeitsplatz Reinhold Maier
Im zunächst kleinen Teilländle des Reinhold Maier – 1952 sollte der FDP-Mann auch als Ministerpräsident des vereinigten Baden-Württemberg reüssieren – regulierte die US-Besatzungsmacht die Wiederherstellung von öffentlicher Kommunikation freilich mit harter Hand: Für die unerlaubte Veranstaltung öffentlicher Versammlungen wurden bis zu zwei Jahren Gefängnis angedroht, ebenso für die Vernichtung oder Beschädigung von "Ankündigungen" und "Plakaten".
Vielleicht lohnt es sich, sich die Geschichte in der Nussschale einer solchen, trotz Strafandrohung harmlos klingenden Norm bildlich vorzustellen: Heute geht kaum ein Mensch, der im Leben steht, ohne Smartphone durch die Welt (Gehen und Stehen sind dabei oft schwer auseinanderzuhalten), ist damit Adressat eines nicht enden wollenden Informationsstroms. Vor 70 Jahren ist es neben dem Radio einzig und allein das amtlich aufgehängte Plakat, das Informationen mit dem Anspruch auf allgemeines Gehör verbreiten kann.
Die erschreckende Armut im Staate Württemberg-Baden fand nun auch in dem Ausdruck, was auf solchen Plakaten als neues Recht dem Volk beizubringen war, etwa eine Verordnung, der zufolge "Personen, welche einen unsittlichen Lebenswandel führen, vorläufig festgenommen und dem Gesundheitsamt bzw. einem Arzt zugeführt werden" konnten: "Wird eine Geschlechtskrankheit festgestellt, so muß die kranke Person zur Durchführung des Heilverfahrens in ein Krankenhaus verbracht werden, aus dem sie erst entlassen werden darf, wenn eine Gefahr … nicht mehr begründet ist."
Kontinuitäten und Brüche
Das erste Gesetzblatt des benachbarten Bayern für das Jahr 1946 verkündet die Aufhebung des 1933 in Kraft getretenen "Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses". In der Nachkriegszeit ist in Bayern der antipreußische Affekt stark. Er rührt daher, weil die historische Eigenstaatlichkeit Bayerns noch keine CSU-Folklore ist (und man von einer Wiederbeseelung durch Herrn Eisenhower im Zweifel nichts wissen mochte).
Ob die legislative Scheußlichkeit eines Gesetzes, auf dessen Grundlage Zehntausende Menschen von Rechts wegen zwangssterilisiert wurden, in Bayern auch deshalb früh aufgehoben wird, weil die Vorarbeiten zum Gesetz schon 1932 vom preußischen Gesundheitsamt geleistet wurden?
Mit anderen Erbstücken des NS-Rechts tat man sich schwerer. § 48 Absatz 2 des "Gesetzes über die Errichtung von Testamenten und Erbverträgen" vom 31. Juli 1938 enthielt etwa folgende Regelung: "Eine Verfügung von Todes wegen ist nichtig, soweit sie in einer gesundem Volksempfinden gröblich widersprechenden Weise gegen die Rücksichten verstößt, die ein verantwortungsbewußter Erblasser gegen Familie und Volksgemeinschaft zu nehmen hat."
Volksempfinden wird man nur sehr langsam los
Der Eingriff des NS-Staats wurde noch zu Kriegszeiten von der Testier- auf die gesetzliche Erbfolge ausgedehnt, die Richterschaft ermächtigt und verpflichtet, den Vermögenswechsel im Todesfall unter Gesichtspunkten eines sogenannten "gesunden Volksempfindens" zu modellieren.
Bemerkenswert ist, dass sich hier bereits 1945 einzelne Oberlandesgerichtspräsidenten, beispielsweise in Hamburg oder in Düsseldorf, darum bemühten, den ungeliebten § 48 Testamentsgesetz außer Vollzug zu setzen, ein durchaus mühsames Unterfangen, war die Bitte doch an die jeweils zuständige Militärregierung zu adressieren und entsprechend eher kleinräumig in die Tat umzusetzen.
Dort, wo es nicht im die Testierfreiheit des Bürgers, sondern im Zweifel um die Taten finstrer Gesellen ging, war der Änderungsbedarf an der fragwürdigen "Volksempfinden"-Vokabel weniger stark ausgeprägt: Erst zum 1. Oktober 1953 tauschte der Bundesgesetzgeber die Phrase, wonach die Nötigung, § 240 Strafgesetzbuch, rechtswidrig ist, wenn "die Zufügung des angedrohten Übels zu dem angestrebten Zweck dem gesunden Volksempfinden widerspricht" gegen die heute bekannte Formulierung, wonach bereits die "Androhung des Übels" als "verwerflich" einzuschätzen sein muss.
Teilung Deutschlands ist noch Zukunft
Mit großer Nüchternheit werden 1946 die Veränderungen auch im sowjetisch besetzten Teil Deutschlands wahrgenommen und beispielsweise in der Deutschen Rechts-Zeitschrift (DJZ, 1946, S. 26–28) referiert.
Zu den juristischen Nachrichten aus Sachsen zählte beispielsweise neben der Ersetzung von Berufs- durch meist linientreue Laienrichter die 1946 schon vollzogene sogenannte Bodenreform: "Sie bestand in der entschädigungslosen Enteignung des Grundgesetztes der Kriegsverbrecher und NS-Aktivisten", heißt es ganz unkritisch im westdeutschen Juristenblatt des Jahres 1946. Dies sollte sich in der historischen Rückschau doch überwiegend noch einmal ganz anders darstellen.
Aber das Verständnis ist ohnehin zeitabhängig. 1946 überschrieb die "Deutsche Juristen-Zeitung" den Bericht aus dem Osten: "Die Rechtsentwicklung in der Provinz Sachen". Heute könnten Politikwissenschaftler diese Überschrift für aktuelle Lageberichte recyceln.
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Ohligs.
Martin Rath, Recht vor 70 Jahren: Deutschland im Jahr 1 . In: Legal Tribune Online, 08.05.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/19307/ (abgerufen am: 29.03.2024 )
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