Gegenseitige Besuche der deutsch-französischen Parlamente und eine bescheidene Erneuerung des Élysée-Vertrags – alles etwas dürr. 1962 waren die Staatsmänner noch mit Bahn und Schiff unterwegs, dachten aber in größeren Dimensionen.
Erhöht der Blick in einen völkerrechtlichen Vertrag die Rechtserkenntnis? Selbstredend bewahrheitet sich die juristische Weisheit auch im Fall des deutsch-französischen Freundschaftsvertrags, der am 22. Januar 1963 im Élysée-Palast zu Paris unterzeichnet wurde und zumeist nach dem Gebäude benannt wird – um doch gleich wieder enttäuscht zu werden.
Denn viel von dem, was man guten Gewissens als positives Recht bezeichnen könnte, enthielt das Dokument nicht, dessen Ausarbeitung Bundeskanzler Konrad Adenauer (1876–1967) und der französische Präsident Charles de Gaulle (1890–1970) im Jahr zuvor in Auftrag gegeben hatten.
Hinter manchen Ideen der beiden Alten – der Präsident stand im 72., der Kanzler im 87. Lebensjahr – bleiben noch heute, 55 Jahre später, die Ergebnisse der von Staats wegen erklärten Völkerfreundschaft zurück, möglicherweise, weil um das deutsch-französische Verhältnis mehr feierliches Glockengeläut gemacht wird als zähl- und messbare soziale Praxis.
Ihre Pläne schmiedeten die beiden Staatsmänner auf einem Schachbrett, das ungleich komplizierter ist als heute. Beginnen wir damit, bevor über den Élysée-Vertrag zu sprechen sein wird.
Europa um 1960: ein nonagonales Schachbrett
Ob es heute die Einflussversuche der paramafiösen russischen Regierung sind, die Aufkündigung gemeineuropäischer Solidarität seitens der Visegrád-Staaten oder der Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU: Wenn diese Entwicklungen inzwischen Bedrohungsgefühle auslösen können, hängt dies wohl damit zusammen, dass in den vergangenen Jahrzehnten die Geschichte von der europäischen Einigung als eine Legende vom harmonischen, jedenfalls annäherungsweise linearen Modernisierungsprozess erzählt wurde.
Vielleicht sind Juristen von diesem Narrativ sogar stärker als Normalsterbliche betroffen, arbeiten sie doch mit der Kraft ihrer dogmatischen Künste am rationalsten Komplex dieser Modernisierung: der gemeinsamen europäischen Rechtsordnung.
Doch standen die Völker Belgiens, Deutschlands, Frankreichs, Italiens, Luxemburgs und der Niederlande 1957 – mit der Unterzeichnung der Römischen Verträge, der Gründung der Europäischen Gemeinschaften – durchaus nicht vor einem gemachten Bett, in dem sie erst neuerdings von kakophonen Kräften im Schlaf gestört werden.
Der Élysée-Vertrag von 1962 gibt ein Beispiel für die Konflikte unter den demokratischen Staaten Europas, denn ihm gingen Winkelzüge, ja regelrechte Rempeleien voraus, die an den Versuch erinnern, auf einem hexa- bis nonagonalen Schachbrett ein nachvollziehbares Spiel zu absolvieren.
Winkelzüge im konfliktreichen Westeuropa
Um nur einige der Spieler und ihrer Züge vorzustellen: Die französische Europapolitik war seit 1944/45 von der Idee geprägt gewesen, die Bedrohung durch Deutschland kleinzuhalten, u. a. indem das Saarland unter möglichst direkter französischer, das Ruhrgebiet unter internationaler Kontrolle verbleiben sollte.
Dem wirkte die neue Bedrohung seitens der Sowjetunion entgegen, womit sich solche französischen Pläne erübrigten, die in Westdeutschland Widerstände gegen die Westintegration auslösen mussten. Zwar bestand unter seinen westlichen Verbündeten einerseits verständliches Misstrauen, was die Wiederbewaffnung Deutschlands betraf, andererseits fragten sich etwa die britischen und amerikanischen Generalstäbe auch, was vom französischen Militär zu halten war: Jeder Vierte der jungen Männer, die dort dienten, zählte zu den Wählern der Kommunistischen Partei Frankreichs. Von den Verhältnissen in Italien gar nicht zu reden.
In Großbritannien waren die Konservativen der frühen 1960er Jahre tendenziell bereit, sich den Europäischen Gemeinschaften anzuschließen. Nach 1958 hatte es entsprechende Verhandlungen gegeben. Nicht unüberwindbar schien das Problem, die wirtschaftlich und – über den Privy Council als Appellationsinstanz – rechtlich noch eng mit dem Königreich verflochtenen Übersee-Gebiete mit den neuen europäischen Strukturen zu assoziieren. Umgekehrt hatten die europafreundlichen Briten ja sogar die Europäische Menschenrechtskonvention in etlichen Kolonien in Kraft gesetzt.
Den britischen Bestrebungen wiederum stand eine französische Vorstellung nationaler Größe entgegen, die nicht zuletzt Charles de Gaulle, dem starken Mann Frankreichs 1944–1946 und 1958/59–1969, als beinah religiös fixe Idee diente und von der historizistischen Erkenntnis geprägt war, dass die Briten mindestens zwei Jahrhunderte lang die Konflikte auf dem Kontinent geschürt hatten – und nun nicht unbedingt dabei sein sollten.
Martin Rath, 55 Jahre Élysée-Vertrag: . In: Legal Tribune Online, 21.01.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/26581 (abgerufen am: 03.12.2024 )
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