Rechts- und Medizingeschichte: Elektrifizierung des Strafvollzugs

von Martin Rath

16.11.2014

2/2: Ist die Strafe zu brutal, wird eben anders begründet

Edison hatte erfolgreich "seine" Leute im Strafvollzug von New York installiert, die für die Anschaffung von Westinghouse-Wechselstromapparaten im Strafvollzug sorgten. Damit sollte der Wechselstrom im öffentlichen Bewusstsein untrennbar mit der Todesstrafe verbunden werden. Im Gegenzug sponserte sein wirtschaftlicher Konkurrent Westinghouse dem verurteilten "Axtmörder" William Kemmler einen hochkarätigen Strafverteidiger, der in einem Haftprüfungsverfahren das Argument vortrug, die elektrifizierte Tötung sei "grausam und ungewöhnlich", mithin nach dem 8. Zusatzartikel zur US-Verfassung rechtswidrig. Bei der gerichtlichen Anhörung, die man zum Schlagabtausch der Elektro-Giganten umfunktionierte, wurde Edison, insbesondere wegen seiner medizinisch-biologischen Inkompetenz, regelrecht vorgeführt.

Trotz vieler vorgebrachter Unsicherheiten in der Tötung durch Elektrizität machte das Gericht von seiner Kompetenz zur Auslegung der gesetzgeberischen Wertung ganz zurückhaltend nicht Gebrauch. Formalistisch entschied er, die Tötung sei nicht grausam, denn der Gesetzgeber habe das so entschieden. Dies stimmte zwar, doch war die gesetzliche Grundlage für den "elektrischen Stuhl" geschaffen worden, bevor die entsprechenden Geräte überhaupt existierten.

Statt zu einer "euthanasia by electricity" zu kommen, wie es der humanistischen Idee der New Yorker Politiker entsprach, die den mittelalterlichen Galgen hatten abschaffen wollen, gerieten die ersten Hinrichtungen auf dem "elektrischen Stuhl" zu grausamen Inszenierungen der Staatsgewalt: Wiederholte Stromstöße waren vonnöten, verkochtes und verbranntes Fleisch die Folge, Tötungsgeräte fielen aus. Die Öffentlichkeit erfuhr trotz einer eigens etablierten Maulkorb-Vorschrift durch empörte Zeitungsleute vom neuen Ritual des Tötens. Entsprechend wurde politisch nachgebessert, allerdings nur auf dem Gebiet der Rhetorik: Statt der Humanisierung sollte die Tötung durch Strom nun der besseren Abschreckung dienen.

Stromschläge als allgemeines Disziplin-Mittel

Markus Hedrichs Arbeit legt den Schwerpunkt jedoch nicht auf diese Oberflächen-Medienphänomene, sondern hat aus seiner Auswertung der nur für die historische Forschung zugänglichen Akten der New Yorker Justiz- und Gesundheitsbehörden ein sehr viel reicheres Bild davon zeichnen können, wie das teils eher klandestine Zusammenspiel von Medizinern, Politikern, Juristen verlief.

So zeigt Hedrich am Beispiel des Arztes Frederick Peterson (1859-1938), wie sich ein Amalgam aus Verfügbarkeit technischer Mittel, sozialtechnologischer Ideologie und juristischer Praxis bildete: Zunächst diente Elektrizität als Mittel gegen jederlei psychische Auffälligkeit – Stromstöße von beinah tödlicher, jedenfalls hochgradig schmerzhafter Qualität wurden z.B. Melancholikern zur Heilung von ihren Depressionen verabreicht, "hysterischen" Frauen zur Unterdrückung sexueller Irritationen, trinkenden Landstreichern zur Beseitigung ihrer Aggressionen.

Hedrich belegt, dass parallel zur Einführung des "Elektrischen Stuhls" im New Yorker Strafvollzug die Zahl der elektro-"therapeutischen" Geräte in den staatlichen Psychiatrien stark anstieg. Unter den amtlichen Zeugen, die den Hinrichtungen beiwohnten, fanden sich in stetig wachsender Zahl eben jene Mediziner, die im Krankenhausalltag mit nahezu absoluter, rechtlich unkontrollierter Gewalt über psychisch kranke und/oder sozial auffällige Menschen verfügen durften.

Ideologische Orientierung brachte man auch gern vom Medizinstudium in deutschen Landen mit: Neben Cesare Lombroso (1835-1909), dem bekannten italienischen Vordenker kriminalbiologischer Verbrecher-Bekämpfung, inspirierte der österreichische Neurologe Moriz Benedikt (1835-1920) Ideen zur Beseitigung des Verbrechens im Allgemeinen durch medizinischen Eingriff am Verbrecher im Besonderen – tödlich oder therapeutisch, das wurde wohl mehr pragmatisch-graduell als grundsätzlich-moralisch ins Auge gefasst.

Während fromme protestantische Prediger in dieser Zeit davon fantasierten, alle Gefängnisinsassen durch Chloroform zu töten, um die biologische Qualität des Volkes zu erhöhen, schalteten sich Mediziner wie Peterson ein, sobald die politische Forderung nach einer "Humanisierung" des Strafvollzugs Möglichkeiten bot, hier medizinische Denkweisen auf die Probe zu stellen.

Medizinische Allmachtsphantasie: Erkennen und bekämpfen

Diesen Komplex medizinisch begründeter All-Gewalt und die hier nur angedeuteten Abgründe an wechselseitiger intellektueller und moralischer Korrumpierung zwischen Medizinern und Politikern von Hedrich aufgeschlüsselt zu bekommen – formal geordnet denkende Juristen kommen wohl noch am besten davon –, mag man als längst abgearbeiteten historischen Befund werten, der für die Meinungs- und Herzensbildung unter Juristen und anderen Menschen so wertvoll ist wie ein Horror-Roman von Stephen King. Also eher vernachlässigenswert.

Verrückt, jedenfalls im psychiatrischen Sinn, sind bekanntlich immer die anderen. Allzu gern verschiebt man das Thema in die düstere Vergangenheit oder gleich ins Horror-Genre. Was aber, wenn die oft bemühte Phrase vom "demografischen Wandel" der deutschen Gesellschaft dahin führt, dass wir in Zukunft mit sehr vielen mehr oder weniger (alters-) verschrobenen Menschen zusammenleben, es im Zweifel selbst werden? Dann darf man – wie es US-Mediziner übrigens tun – diese finstre Geschichte zum Anlass nehmen, medizinische Allmachtsphantasien so früh wie möglich zu erkennen, zu benennen und zu bekämpfen. Wer hätte dazu die besten Waffen, wenn nicht Juristinnen und Juristen.

Hinweis: Marcus Hedrich: "Medizinische Gewalt". Elektrotherapie, elektrischer Stuhl und psychiatrische ´Elektroschocktherapie‘ in den USA, 1890-1950. Verlag: transcript, ISBN 978-8376-2802-9, 346 Seiten, 34,99 Euro.

Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Köln.

Zitiervorschlag

Martin Rath, Rechts- und Medizingeschichte: Elektrifizierung des Strafvollzugs . In: Legal Tribune Online, 16.11.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/13820/ (abgerufen am: 19.04.2024 )

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