Unpopuläre Seelenzustände: Gefühle für Juristen (m/w/d) – Ein­sam­keit

von Martin Rath

19.04.2020

Vom achtjährigen Jungen, den niemand versteht, weil er ein Lexikon komplett gelesen hat, bis zur 80-jährigen Seniorenheim-Insassin hat Einsamkeit viele Graustufen. Auch aus juristischer Perspektive ist sie ein vielfältiges Gefühl.

Wenige seelische Zustände dürften – sieht man von Schmerz und Langeweile einmal ab – derart unpopulär sein wie die Einsamkeit.

Anhaltende Einsamkeit als Genuss zu erleben, scheint die Sache von Sonderlingen und Genies zu sein und Freiwilligkeit vorauszusetzen, während das erzwungene Alleinsein schnell auf die Seele schlägt.

Die "Kritische Zeitschrift für Rechtswissenschaft und Gesetzgebung des Auslandes" wusste zum Beispiel im Jahr 1840 (S. 251–261) von polnischen Untertanen des russischen Zaren zu berichten, die in die zwar kleinen, aber zentral beheizten und auch sonst recht modernen Zellen des neuen "pennsylvanischen Gefangenenhauses" in Warschau geraten waren. Zunächst der Ansicht, dass dieses erst später berüchtigte Pawiak-Gefängnis einen höheren Komfort biete als ihre erbärmlichen eigenen Wohnungen, seien diese einfachen Leute durch die architektonisch konsequent umgesetzte Möglichkeit der "getrennten Einsperrung" mit einem "mächtigen moralischen und physischen Eindruck" eines Besseren belehrt worden.

Wenngleich sich hier schnell ein Konsens zwischen normalsterblichen und Menschen mit der Befähigung zum Richteramt herstellen lässt, dass es einen Unterschied macht, ob die Einsamkeit gesucht und freiwillig oder erzwungen und unausweichlich ist – es gilt doch: Erst wenn Gefühle den Juristinnen und Juristen zur gesonderten Bearbeitung überlassen werden, sind wirklich erstaunliche Aspekte des Seelenlebens zu entdecken.

Deutsche Einsamkeit im Ausland

Einen recht spezifischen Grauton der Einsamkeit entdeckten deutsche Anwälte etliche Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, manchmal fanden sie mit ihr sogar Gehör bei Gericht.

Deutsche aus dem Osten konnten in den Genuss von Rechtswohltaten nach dem Bundesvertriebenengesetz (BVFG) vom 19. Mai 1953 kommen. Mit wachsendem Abstand von der Zwangsmigration in den unmittelbaren Nachkriegsjahren gefiel es dem Gesetzgeber jedoch, ihre Aufnahme vom Beweis abhängig zu machen, dass ihnen nach gewissen Stichtagen noch "Benachteiligungen oder Nachwirkungen früherer Benachteiligungen auf Grund deutscher Volkszugehörigkeit" – so etwa § 4 Abs. 2 BVFG – entstanden waren.

Weil der Beweis unmittelbarer Diskriminierung als Deutscher mit den Jahren vielfach immer schwerer fiel, wurde nun oft argumentiert, dass sich aus der Flucht, Vertreibung und Aussiedlung der vormaligen deutschen Nachbarschaft für die beispielsweise in Tschechien verbliebenen Volksdeutschen eine schmerzhafte persönliche Vereinsamung ergebe – so etwa im Fall einer 1933 geborenen Frau, die mit dieser Begründung im Alter von 58 Jahren als Aussiedlerin nach Deutschland auswandern wollte. Ihr war – trotz übler Erfahrungen als Angehörige einer ethnischen Minderheit – damit vor dem Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen (Urt. v. 08.11.1996, Az. 2 A 1309/96) jedoch kein Erfolg beschieden.

Früher war man hier großzügiger gewesen. So hatte das Bundesverwaltungsgericht in den 1960er Jahren noch formuliert, es "sei und bleibe für einen Deutschen zunächst auch weiterhin unzumutbar, in diesen von der deutschen Bevölkerung planmäßig entblößten Gebieten zu leben, gleichgültig, ob er selbst jemals von irgendwelchen Verfolgungsmaßnahmen betroffen worden sei oder betroffen worden wäre und zu welchem Zeitpunkt und aus welchen Gründen er zu der Erkenntnis gelangt sei, in seiner alten Heimat nicht weiter leben zu wollen oder zu können" (Urt. v. 12.06.1969, Az. VIII C 125.67).

Einsamkeit und "hausfrauliche Betreuung"

Mit individueller Einsamkeit befassten sich Gerichte früher vielfach aus zwei Gründen: Bis 1977 bot das restriktive Ehescheidungsrecht Spielräume für richterliche Neugier, was das Seelenleben der Prozessparteien betraf. Außerdem suchten Richter selten den Rat von psychiatrischen Sachverständigen.

In einem scheidungsrechtlichen Urteil des BGH vom 30. November 1960 (Az. IV ZR 111/60) wurde zum Beispiel die Einsamkeit des Ehemanns mit einem zugleich absurden wie beinah anrührenden Prinzip ehelicher Treue abgewogen.

Der 1908 geborene Kläger war als Rumäne deutscher Ethnizität im Jahr 1943 in die Waffen-SS aufgenommen worden und nach dem Krieg nicht nach Siebenbürgen zurückgekehrt, wo seine Frau und zwei Söhne von Anfang 20 Jahren verblieben waren. Nach erfolglosen Bemühungen, die Familie in die Bundesrepublik nachzuholen, nahm der Mann 1954 – zehn Jahre nach der Trennung von seiner Familie – in Deutschland eine außereheliche Beziehung auf. Seit 1955 begehrte er die Scheidung nach §§ 43 oder 48 Ehegesetz (1946) aufgrund von "anderen schweren Eheverfehlungen" seiner Frau in Rumänien bzw. wegen Aufhebung der häuslichen Gemeinschaft zuzüglich unheilbarer Zerrüttung der Ehe. Die Gattin widersprach aber der Scheidung.

Jedoch konnte der Widerspruch unbeachtlich bleiben, wenn die "Aufrechterhaltung der Ehe bei richtiger Würdigung des Wesens der Ehe und des gesamten Verhaltens beider Ehegatten sittlich nicht gerechtfertigt ist" (§ 48 Nr. 2 S. 2 EheG [1946]).

Es ist nicht richtig, hier den BGH-Richtern der Epoche einfach nur moralische Überheblichkeit zu attestieren. So erklärten sie hier zwar, dass die politischen Umstände, die Trennung von Eheleuten durch den "Eisernen Vorhang", allein nicht für die Zerrüttung sprechen könnten – gerade in diesen schwierigen Zeiten hätten sie für einander einzustehen.

Gegen dieses hohe Gewicht der Treue wog der BGH die Gefahr des Klägers ab, weiter zu vereinsamen. Ohne die Chance einer Wiederverheiratung sei ihm ein "menschenwürdiges Dasein" und die Bewahrung einer "sittlichen Persönlichkeit" erschwert – im vorliegenden Fall sei aber vor einer Scheidung zu prüfen, ob dem Mann, statt einer neuen Gattin, nicht andere nahestehende Personen beistehen könnten. Gänzlich verschließen wollte sich der BGH jedoch nicht der Auffassung des Oberlandesgerichts, demzufolge der über 50-jährige Mann "zur Erhaltung seiner Gesundheit und seiner Arbeitskraft … – und künftig in immer steigendem Maße – der hausfraulichen Betreuung" bedürfe, "die er sich als heimatvertriebener, nicht mehr junger Arbeiter in wirtschaftlich und menschlich angemessener Form normalerweise nur durch Eingehung einer anderen Ehe verschaffen könne".

Hetero- und homosexuelle Einsamkeiten

Abseits von solcher Einsamkeit zwischen scheidungsrechtlicher Treuemetaphysik und hausfraulichem Nutzenkalkül findet sie sich in den 1950er und 1960er Jahren auch im Rahmen einer Küchenpsychologie nach Richterart.

Mit Urteil vom 11. August 1960 (Az. II D 129/59) sah sich der Bundesdisziplinarhof berufen, die Einsamkeit eines ehemaligen Berufsoffiziers der Wehrmacht zu seinen Gunsten zu würdigen. Der Mann hatte eine junge Bedienstete in seiner privaten Unterkunft gegen ihren Willen sexuell angegriffen. Das Gericht bewertete den Vorgang – der dem Amtsgericht zu einer sechsmonatigen Gefängnisstrafe genügt hatte – wie folgt:

"Er ist auch über das Angreifen des Oberschenkels über ihrem Unterrock nicht hinausgekommen, so daß eine wesentliche Verletzung der geschlechtlichen Ehre der Zeugin nicht eingetreten ist. Es ist auch zu berücksichtigen, daß sich der Beschuldigte infolge seiner langen Enthaltsamkeit in einer gewissen Geschlechtsnot befand und das Alleinsein mit der Zeugin ihn in eine starke Versuchung brachte […]."

Die erstinstanzliche Kürzung seines Übergangsgehalts für fünf Jahre reduzierte der Bundesdisziplinarhof mit ausführlichen Erwägungen zur Einsamkeit des Ex-Soldaten auf drei Jahre.

Weniger Glück im Mitgefühl der Einsamkeit hingegen fand ein Lehrer nach dem Urteil des Bundesdisziplinarhofs vom 3. Dezember 1957 (Az. I D 10/56). Der 48 Jahre alte, seit Kurzem verheiratete Beschuldigte, Vater einer noch nicht ein Jahr alten Tochter, war 1949 als hoch dekorierter Soldat aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt. Zwischen 1950 und 1953 hatte er sich unter anderem nach Erkenntnis des Landgerichts Göttingen mehrerer homosexueller Handlungen mit 17 bis 19 Jahre alten Minderjährigen schuldig gemacht. Mit Blick auf die Härten der Gefangenschaft in der Sowjetunion und seine Vereinsamung kam die Disziplinarkammer noch zu dem Ergebnis, dass von einer beamtenrechtlichen Disziplinarstrafe abgesehen werden könne. Die Bundesrichter hingegen urteilten, dass seine Beseitigung aus dem Staatsdienst zwingend sei.

Einsamkeit als "falscher Freund"

Die vielleicht berühmteste Form von "Einsamkeit" benannten die amerikanischen Juristen Samuel D. Warren (1852–1910) und Louis D. Brandeis (1856–1941) in ihrem berühmten Aufsatz "The Right to Privacy" angelehnt an ihren Kollegen Thomas M. Cooley (1824–1898) als "the right to be let alone". Das als Recht, allein (statt in Ruhe) gelassen zu werden, zu übersetzen, hieße zwar, einem "false friend" aufzusitzen.

Wenig bekannt ist aber, dass die – inzwischen sogar Urteile des BGH schmückende – Erfindung des "right to be let alone" von Warren/Brandeis nicht nur übersetzungstechnisch ein "falscher Freund" ist.  Denn zum Richter des U.S. Supreme Court (1916–1939) aufgestiegen trug Brandeis das sehr hässliche Urteil Buck v. Bell (1927) mit: Dem Staat Virginia wurde das Recht bestätigt, Carrie Buck (1906–1983), vom Sohn ihrer Pflegefamilie vergewaltigt, wegen angeblicher eugenischer Minderwertigkeit zwangsweise unfruchtbar zu machen. In diesem Fall konnte sich Brandeis, der als progressiver Jurist bis heute hoch verehrt wird, noch nicht einmal zu einer Abwägung zwischen der damals – von internationalistischen Feministinnen bis hin zu rechtsextremen Deutschnationalen – als äußerst modern gefeierten Pseudowissenschaft der Eugenik und dem Recht der Carrie Buck bemühen, in ihrer Sexualität vom Staat nicht belästigt zu werden.

Einsamkeit und Alleinsein sind ein heikles Gut, das weder durch unbedarften Jubel noch mit semantischem Genörgel an einsamkeitsrechtlichen Instituten hinreichend erschlossen wird.

Zitiervorschlag

Unpopuläre Seelenzustände: Gefühle für Juristen (m/w/d) – Einsamkeit . In: Legal Tribune Online, 19.04.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/41342/ (abgerufen am: 28.03.2024 )

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