Recht frech / Eine etwas andere Literaturübersicht: Ein singender Staatsrechtler, Linklaters-Gesetze und Herrenclubs

von Martin Rath

11.11.2012

Fixe Ideen in Raum und Zeit – ein Aufsatz in der Zeitschrift "Der Staat" erinnert an einen ebenso scheußlichen wie idiotischen Horrorfilm. Die weitere Zeitschriftenlektüre überfliegt das Gesetzgebungsoutsourcing an Linklaters, die Ökonomie der Normsetzerei und erklärt, wieso britische Herrenclubs als Bürgerwehren kein Erfolgsmodell waren. Fremde Gedankengänge, nachgeschritten von Martin Rath.

Der Polizeibeamte John Hobbes, gespielt von Denzel Washington, gerät im Film "Fallen" von 1998 ("Dämon – Trau keiner Seele") mit dem bösen Geist "Azazel" aneinander. Azazel entweicht anlässlich einer Hinrichtung dem Körper eines Serienmörders und springt nun – durch Körperkontakt übertragen – von einem Menschen zum anderen. Detective Hobbes findet heraus, dass der böse Dämon außerhalb eines Körpers nicht lange überleben kann und wird schließlich selbst in einer einsamen Waldhütte von Azazel ergriffen, wo er versucht, dem Dämon durch Suizid die materielle Grundlage zu entziehen.

Horrorfilme sind dämlich, der Gegenbeweis ist nicht geführt. Man wird die Analogie nicht zu weit treiben dürfen, aber die Lektüre eines Essays in der rechtswissenschaftlichen Zeitschrift "Der Staat" (2012, S. 417-445) weckt eine ähnliche Gefühlsmischung wie der sarkastisch-distanzierte "Genuss" des Mainstream-Horrorfilms.

Göttlicher Staatsgedanke durchweht Juristenkörper?

Für ein juristisches Vierteljahresmagazin recht ungewöhnlich, singt der emeritierte Staatsrechtler Walter Leisner ein Loblied auf die Dichtung des römischen Staatspoeten Publius Vergilius Maro, kurz Vergil.

Leisners Tonfall als "Singen" zu bezeichnen, ist nicht polemisch: Die "Aeneis" des Vergil (70 bis 19 v. Chr.), das Epos erzählt von der Flucht des Aeneas aus dem brennenden Troja, der zum mythologischen Stammvater der antiken Römer wird.   Die "Aenis" beginnt mit den Worten "Arma virumque cano…" – "Ich besinge die Waffen und den Mann…", der dann Rom erbauen kann. Leisner schwärmt über "(d)iese wunderbare Vokalkombination, die jedem Laut seinen Wert lässt, seine Kraft gibt – das ist vom römischen Befehl zur imperialen Musik geworden, für viele Generationen. Nicht Zorn und List ist da wie an homerischen Anfängen, Ordnung wird verkündet, der kommende Staat."

Dieser vom römischen Dichter besungene "Staat" steht, um Leisner weiter zu zitieren, in einer "Dimension der Zeitlosigkeit, wie sie auch heute noch 'stillschweigend' – Schweigen ist zeitlos – aller Dogmatik des Öffentlichen Rechts, des Rechts überhaupt, zugrunde liegt. Der Staat kann nicht sterben, da die Ordnung nicht aufhören kann."

Leisner schreibt der Dichtung des Vergil, animiert wohl durch die Herrschaft des ersten römischen Princeps Augustus (63 v. Chr.- 14 n. Chr.) nach Jahren des Bürgerkriegs, eine "geistige Wirkmächtigkeit" zu, die "bis in ein Jenseits [stieg]", das alles erfasste, "vor allem den Staat auf Erden – das Reich".

Der Geist durchwehte im Lauf der Geschichte dann so manchen Juristenknochen. Versteht man Leisner richtig, haben sich 1948/49 etwa die Abgeordneten des Parlamentarischen Rats nicht nur zusammengesetzt, dem Land eine provisorische Verfassung zu geben, nein: Wird der "Staat des Vergil", diese "Fluchtburg aus der Not" durch "teuflische List und aus Sorglosigkeit" zerstört, so wird er neu aufgebaut, "so haben die Deutschen ihre alten Götter mitnehmen wollen, nicht nur Götzen, aus dem Brand von Berlin hinüber in ihren neuen Staat".

Staatsbildungsprozesse ohne Gesang

Wahrscheinlich ohne Gesang und hoffentlich mit weit weniger Schwülstigkeit ging es wohl wirklich zu, als die Leute in grauer Vorzeit ihre Verhältnisse juristisch zu regeln begannen. In der "Historischen Zeitschrift" (2012, S. 62-77) berichtet der Greifswalder Historiker Karl-Heinz Spieß aus einer Epoche, die man sich gemeinhin lieber mit Minne-Gesang und Ivanhoe-Kostümen ausmalt als in ihren juristischen Dimensionen.

Gegenwärtig wird ja oft über eine "Verrechtlichung aller Lebensverhältnisse" geklagt. Betrauert wird dabei, dass Nachbarn heutzutage bei Streitigkeiten lieber zum Rechtsanwalt laufen, statt sich nach der Sitte ihrer Großväter im Wirtshaus zu prügeln. Oder dass Schüler wegen schlechter Noten vors Verwaltungsgericht ziehen.

Unter dem Titel "Formalisierte Autorität" betrachtet Spieß "Entwicklungen im Lehnsrecht des 13. Jahrhunderts". Vor der "Verrechtlichung" stand damals erst noch die "Verschriftlichung" und auch mit den "Berufsträgern" war es noch nicht weit her: "Juristen als Berufsstand gab es nicht und konnte es der Sache nach gar nicht geben, weil prinzipiell jeder erwachsene Mann rechtskundig war."

Wie Textbausteine und Juristen das Lehensrecht verkrusteten

Zu diesem Zweck sangen die erwachsenen, freien Männer des Mittelalters offenbar nicht die "Aenis" des Vergil, sondern fragten ihre "Dorf-, Standes- oder Lehnsgenossen" danach, was "Recht" ist. Im Lehensrecht zum Beispiel waren die Fragen auch ohne Gesang farbenfroh genug: "Wann musste der Vasall beim Lehnsempfang knien, wann durfte er stehenbleiben, was passierte bei dem Versäumnis der Mutungsfrist, wen durfte der Lehnsherr in das Lehnsgericht berufen, wer folgte beim Fehlen von Söhnen in das Lehen nach, was passierte bei der Minderjährigkeit des Nachfolgers u.s.w.?"

Im 13. Jahrhundert war, so Spieß, das mündlich von Fall zu Fall rekonstruierte Lehnsrecht noch  nicht durch schriftliches Fixieren erstarrt – auch wenn berühmte Rechtstexte wie der Schwabenspiegel das vielleicht nahelegen. Allerdings begann wohl die "im 12. Jahrhundert einsetzende schriftliche Fixierung lehnsrechtlicher Sachverhalte die Machtbalance zwischen Lehnsherr und Vasall" zu verändern. Lehnsherren gaben nicht nur Urkunden heraus, in denen sie ihren Vasallen etwa den Besitz über Land und Leute zusprachen – sie behielten auch eine Kopie bei ihren Akten.

Erst diese Akten ließen die Juristen wachsen: "Was die gewohnheitsrechtliche Tradition des Lehnsrechts im 15. und 16. Jahrhundert schließlich verkrusten oder versteinern ließ, waren nicht etwa das schriftliche Recht, sondern zum einen die stereotype Formulierung der zur Regel gewordenen Lehnsbriefe und Lehnsreverse, die in den regelmäßig geführten Lehnsbüchern zusätzlich kopiert wurden, zum anderen die zunehmende Unterwanderung der Mannengerichte durch Beamte und Juristen. Der Endpunkt war in den Territorien meist im 16. Jahrhundert erreicht, als das Lehnsgericht in eine zentrale Landesbehörde umgewandelt war."

Gesetzgebungsoutsourcing: "Schlanke Staaten" zurück auf dem Weg ins Vasallentum?

Angesichts der Promotionsaffäre des fränkischen Freiherrn ging in der öffentlichen Wahrnehmung fast völlig verloren, dass Karl-Theodor zu Guttenberg in seiner kurzen Amtszeit als Bundeswirtschaftsminister auch für einen Vorgang verantwortlich zeichnete, der einen leicht feudalen Beigeschmack hatte: Er legte dem Bundeskabinett einen Entwurf zur Änderung des Kreditwesengesetzes vor, der nicht allein von Linklaters-Anwälten "betreut", sondern gleich auf dem Briefpapier der Lawfirm gedruckt worden war, stammte er doch vollständig aus einem "Gesetzgebungsoutsourcing".

Dem Nürnberger Professor für öffentliches Recht Klaus Meßerschmidt ist nun eine ausführliche Kritik aus politik- und rechtswissenschaftlicher Perspektive zu verdanken: "Private Gesetzgebungshelfer – Gesetzgebungsoutsourcing als privatisiertes Regulierungsmanagement in der Kanzleiendemokratie?" (in: "Der Staat" 2012, S. 387-415).

Wegen der zunehmenden Bedeutung von "Think Tanks" außerhalb des engeren Parteien- und Parlamentsbetriebs, des liberalen Dogmas vom "schlanken Staat" und der allgemeinen Präferenz für wirtschaftliche "Kooperation" zwischen Verwaltung und privaten Unternehmen ("Public Private Partnership") ergibt sich eine nüchterne Haltung der Politikwissenschaftler. Aus ihrer "Sicht der Rolle des Staates bietet die Substitution von Teilen des tradierten Gesetzgebungsprozesses durch die Vergabe von Werkverträgen an privatwirtschaftliche Regulierungsdienstleister keine Überraschung".

Zitiervorschlag

Martin Rath, Recht frech / Eine etwas andere Literaturübersicht: Ein singender Staatsrechtler, Linklaters-Gesetze und Herrenclubs . In: Legal Tribune Online, 11.11.2012 , https://www.lto.de/persistent/a_id/7511/ (abgerufen am: 19.04.2024 )

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