Vor 70 Jahren begann im Pariser Justizpalast ein Sensationsprozess, der knapp vier Monate dauern sollte: Ein Flüchtling aus der Sowjetunion verklagte Journalisten, die behauptet hatten, seine Darstellung der Stalin-Herrschaft sei erlogen.
Im Juli 1943 reiste der Metallurgie-Ingenieur Wiktor A. Krawtschenko (1905–1966) als Angehöriger der sowjetischen Handelsmission in die USA. Man war als Einkäufer im Rahmen des Leih- und Pachtgesetzes unterwegs: Das industrielle Potenzial der USA war massiv, vielleicht kriegsentscheidend auch zugunsten der verbündeten Sowjetunion mobilisiert worden.
Am 2. April 1944 verließ Krawtschenko die Mission, nachdem er in den Monaten zuvor – während konspirativer Ausflüge aus dem diplomatischen Betrieb – in amerikanischen Bibliotheken kritische Literatur zum totalitären Regime der Sowjetunion entdeckt hatte.
Mit dem Wunsch, in den USA Aufnahme zu finden, traf Krawtschenko jedoch auf wenig Gegenliebe. Denn bis zum Ende der Präsidentschaft von Franklin D. Roosevelt (1882–1945, im Amt 1933–1945) blieb die amerikanische Regierung offen für das Anliegen der sowjetischen Behörden, ihn als "Verräter" an sie auszuliefern. Die Stalin-freundliche Haltung der Regierung Roosevelt voraussehend, trat Krawtschenko die Flucht in die Öffentlichkeit an: Indem die "New York Times" am 4. April 1944 seine Erklärung zu den Gründen abdruckte, in den USA bleiben zu wollen, schützte sie Krawtschenko vor der zügigen Überstellung an die sowjetischen Alliierten.
In dieser Lage gefangen – Roosevelt verstarb erst am 12. April 1945 – begann Krawtschenko, seine Geschichte zu Papier zu bringen. Bereits 1946 erschienen seine Memoiren, in denen er u. a. das mörderische System der Zwangsarbeitslager in der UdSSR und den Holodomor beschrieb – und zwar unter dem Titel "I chose freedom – the personal and political life of a Soviet official".
Französische Kommunisten wollen weiter ans sowjetische Paradies glauben
Was der vormalige Sowjet-Beamte und überzeugte Sozialist von der UdSSR zu berichten wusste, traf auf breites Interesse. Krawtschenkos Buch wurde zum internationalen Bestseller - jedenfalls in den Ländern des Westens.
Am 13. November 1947 veröffentlichte die kommunistische Wochenzeitung "Les Lettres françaises" einen Artikel unter dem erst 30 Jahre später enthüllten Pseudonym Sim Thomas (d.i. André Ulmann, 1912–1970), in dem u. a. die Behauptung aufgestellt wurde, Krawtschenko sei vom amerikanischen Geheimdienst "erschaffen worden" und die Darstellungen seines Werks seien wahrheitswidrige Fabrikationen der amerikanischen Propaganda. Das französische Blatt brachte noch zwei weitere Artikel, in denen, ganz im Stil der oft äußerst plumpen stalinistischen Presse, nicht nur heftig und vulgär gegen den "Verräter" polemisiert wurde. Man scherte sich auch nicht darum, dass einige Aussagen im Sim-Thomas-Artikel bereits in sich schlichten Denkgesetzen widersprachen.
Krawtschenko tat daraufhin etwas für ein Objekt stalinistischer Propaganda Unerwartetes: Er verklagte das Wochenblatt – respektive in Person von André Wurmser (1899–1984), Claude Morgan (1898–1980) und dem zu diesem Zeitpunkt unbekannt bleibenden Sim Thomas seine Autoren – wegen Verleumdung.
Damit begab er sich endgültig unter Hyänen. Denn ein beträchtlicher Teil der Franzosen glaubte seinerzeit, Stalin führe die Sowjetunion in eine viel lichtere Zukunft als sie für Frankreich zu erwarten sei. Die Meriten kommunistischer Résistance-Angehöriger machten vergessen, wie eng die deutsch-sowjetische Freundschaft zwischen 1939 und 1941 gewesen war und wie Moskau-hörig sich auch die französischen Kommunisten während Stalins Flirt mit Hitler verhalten hatten.
Mit 28,8 Prozent der Stimmen war die Parti communiste français im Jahr 1946 sogar als stärkste Kraft aus den Wahlen zur Nationalversammlung hervorgegangen: Geführt von inbrünstigen Stalinisten, umkreist von den notorischen Pariser Großintellektuellen, die zu weiten Teilen nicht glauben wollten, dass der sowjetische Staatsapparat von einem Menschheitsverbrecher geführt wurde – und falls doch, sicher nur im Dienst des Fortschritts, denn: "On ne fait pas d’omelette sans casser des œufs" – vergleichbar mit der deutschen Redewendung "wo gehobelt wird, da fallen Späne".
Gerichtshof in Paris wird Monate lang zum politischen Weltgericht
Dieser politischen Kulisse wurde der Verleumdungsprozess, der am 24. Januar 1949 begann, mehr als gerecht. Beide Seiten fuhren nachgerade zahllose Zeugen auf.
Die Beklagten ließen beispielsweise, mit freundlicher Unterstützung aus Moskau, die in der Sowjetunion zurückgebliebene Ex-Gattin Krawtschenkos anreisen, die seinen Charakter als Lügner und Heuchler bezeugen sollte. Der Dean der Kathedrale von Canterbury, Hewlett Johnson (1874–1966), seit 1931 sozialistisches Schreckgespenst der anglikanischen Kirche und seit 1945 Träger des sowjetischen Ordens des Roten Banners der Arbeit, schwärmte von der körperlichen Schönheit Stalins und den liebreizenden Verhältnissen, die er während seiner wiederholten Reisen durchs Land zu Gesicht bekommen habe: Bei keinem seiner Flüge durch die Sowjetunion sei ihm je ein Zwangsarbeitslager begegnet.
Für Krawtschenko, der mit seinen Zeugen wohl eine egalitaristische Haltung unterstrich, sagten gutteils einfache Leute aus; Überlebende des sowjetischen Terrors.
Das war eine heikle Strategie. In seinem Buch "Der seltsame Prozess oder: ein Überläufer in Paris" (Berlin, 1992) macht Boris Nossik anhand der historischen Zeugnisse einige Ungeduld auf Seiten des Vorsitzenden Richters Durkheim aus, als etwa eine schlichte Frau von ihrer Verhaftung und Leidensgeschichte im sowjetischen Lagersystem erzählte oder ein ukrainischer Bauer davon, wie er im Holdomor mit über 100 Leidensgenossen wie ein Dosenhering in einer viel zu kleinen Zelle stand, um hernach zum Goldschürfen ins sibirische Magadan verschleppt zu werden.
Ein französischer Soldat, der in den Reihen der sowjetischen Streitkräfte gekämpft hatte, berichtete von ausgemergelten Zwangsarbeiterinnen im Dienst der Truppe. Nach dem Kriegsende im Westen gebliebene und in den Westen gekommene Rotarmisten, die das Pech gehabt hatten, in die Kriegsgefangenschaft der Wehrmacht geraten zu sein, äußerten ihre – begründete – Furcht, nunmehr in der Sowjetunion unbesehen als "Verräter" neuerlich in mörderische Gefangenschaft genommen zu werden.
Zu den prominenteren Zeugen Krawtschenkos zählte Margarete Buber-Neumann (1901–1989), Witwe des vormaligen KPD-Funktionärs und Reichstagsabgeordneten Heinz Neumann, der 1937 anlässlich einer der stalinistischen "Säuberungen" erschossen worden war. Buber-Neumann war selbst 1938 als "gefährliches Element" in ein sibirisches Straflager verbracht, auf dem Höhepunkt der deutsch-sowjetischen Freundschaft 1940 aber ins Deutsche Reich überstellt worden, wo sie fünf Jahre im KZ Ravensbrück überlebte. Als Kennerin des sowjetischen wie des deutschen Terrorsystems und Trägerin eines berühmten Namens – Martin Buber (1878–1953) war zeitweise ihr Schwiegervater gewesen – hatte ihr Zeugnis augenscheinlich einiges Gewicht.
Behauptungen der kommunistischen Presse und von Zeugen der Beklagtenseite, der Archipel Gulag – ein Name, unter dem Alexander Solschenizyn (1918–2008) die sowjetischen Lager 25 Jahre später wieder ins Bewusstsein rücken sollte – biete bekömmliche Haftbedingungen, entkräftete sie sachkundig.
Drei Francs sind am Ende doch genug für einen Bestseller-Autor
Der Beklagtenseite, dem kommunistischen Wochenblatt und seinen drei Autoren, misslang der entlastende Wahrheitsbeweis dahin, dass Krawtschenkos Werk ein amerikanisches Geheimdienstfabrikat sei – obgleich sich das Gericht ihnen durchaus gewogen zeigte. Wurmser und Morgan seien Ehrenmänner des Widerstands gegen die deutsche Besatzungsmacht, hieß es bei der Urteilsverkündung. Gleichwohl wurden die Beklagten verurteilt, dem Kläger drei mal 50.000 Francs zu zahlen (im Jahr 1949 insgesamt rund 430 US-Dollar, also ungeführ 1.800 DM).
Die Berufungsinstanz reduzierte diesen Anspruch dahin, dass für jeden der verleumderischen Artikel nur ein symbolischer Franc zu leisten sei – ein Vorgang, mit dem anderenorts gelegentlich Zweifel an der Ehre des Klägers ausgedrückt wurden. Begründet wurde dies damit, dass der Medienwirbel den Absatz von Krawtschenkos Buch befördert habe. Tatsächlich hatten die stalinistischen Polemiker einen Streisand-Effekt avant la lettre ausgelöst: Krawtschenkos "J’ai choisi la liberté!" soll sich allein in Frankreich über 500.000 Mal verkauft haben.
Der amerikanische Auslandsgeheimdienst CIA engagierte sich, soweit erkennbar, nun erst in Reaktion auf die weiten intellektuellen Freundeskreise der Sowjetunion in den westlichen Ländern, beispielsweise mit der Förderung des "Kongresses für kulturelle Freiheit" oder dem Sponsoring für abstrakte Kunst. Während der surreale Stalin-Kult westlicher Intellektueller seither in freundliche Vergessenheit geriet und über den geschichtspolitischen Scheußlichkeiten im Regime des Ex-KGB-Offiziers Wladimir Putin (1952–) kaum ein Hahn kräht – sie reichen von neuer Stalin-Verehrung bis zum Kujonieren der rührigen "Stiftung Memorial" –, ist das Schlagwort "Atlantik-Brücke" zur pseudokritischen Internet-Trope für vermutete journalistische Korrumpierbarkeit geworden.
Wiktor A. Krawtschenko machte sich indes weder in seinem Exilland beliebt noch wurde er zum mustergültigen Sowjet-Gegner. So übte er beispielsweise deutliche Kritik daran, wie unter den Kampagnen von Senator Joseph McCarthy (1908–1957) die Freiheit der politischen Meinungsbildung in den USA beeinträchtigt wurde. Der Mann verstand sich weiterhin als Sozialist und verlor das Vermögen, das er mit seinen Büchern erwarb, durch – wie es heißt – menschenfreundliche Bergwerksprojekte in Lateinamerika. Krawtschenko starb 1966 in Manhattan, prima facie durch Suizid. Ob der KGB doch seine Hand im Spiel hatte, verlor sich im üblichen Geraune solcher Fälle.
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist.
Politische Prozesse: . In: Legal Tribune Online, 20.01.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/33309 (abgerufen am: 10.12.2024 )
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