Dialogbereitschaft: Vom Recht, mit anderen reden zu müssen

von Martin Rath

22.04.2019

2/2: Vor der Dialogbereitschaft kommt die Frage nach der Macht

Die Antwort – die Spannung war ja kaum noch auszuhalten –  auf die eingangs gestellte Frage lautet: Richard von Weizsäcker (1920–2015). Ausgerechnet er, der in seiner Zeit als Bundespräsident (1984–1994) in den Ruf geriet, sich durch zwar geschmeidige, rhetorisch mitunter recht starke, inhaltlich jedoch wenig trennscharfe Beiträge zur politischen Rhetorik in Deutschland verewigen zu wollen, erinnerte daran, dass Politik zunächst in erster Linie eine Methode sei, anderen Menschen den eigenen Willen "aufzuzwingen", "um vorgegebene Ziele zu erreichen".

Weizsäckers Aufsatz in der Zeitschrift "Merkur" wirkt, von leichten Anachronismen abgesehen, wie für die Gegenwart geschrieben:

"Den Dialog will heute jedermann. Das Wort hat etwas Beruhigendes und Kultiviertes an sich. Wo der Dialog gepflegt wird, da ist man – so scheint es – den Niederungen des Tageskampfes enthoben. Wer für den Dialog ist, der wird gefördert; denn er ist auf der Höhe der Zeit. Dialog wird geführt zwischen Christen und Marxisten, zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern, zwischen Studenten und Etablierten. Bei so viel Bereitschaft zum Dialog ist Skepsis geboten. Der Verdacht drängt sich auf, mit dem Ruf zum Dialog würden die faktischen Gegensätze eher verschleiert als überwunden, vor allem wenn der Dialog gar als politische Methode empfohlen wird."

Der eingangs zitierten Erinnerung daran, dass "Politik und Wahrheit, Macht und Recht, Staatsgewalt und Gemeinwohl" keine harmonische Einheit bilden, zog Weizsäcker nur ein wenig den Zahn: Einerseits habe sich die Macht um das Gemeinwohl zu bemühen und an der Wahrheit zu orientieren, andererseits sei, da das Gemeinwohl nicht "ein für allemal erschöpfend bestimmt werden" könne, "die Politik auf den Dialog angewiesen". Dialog bleibt hier also stets Instrument der Macht, nicht Frohlocken förderndes Allheilmittel.

Allgemeinwohlbestimmung, eine Sache von Eliten?

Anders als im totalitären Staat, so Weizsäcker weiter, seien zwar "alle gesellschaftlichen Kräfte in ihrem Zusammenspiel an der politischen Verantwortung" beteiligt, jedoch warnte er vor einem allzu rosigen Kommunikationsoptimismus: 

"Damit ist freilich nicht behauptet, daß im bloßen Ausgleich der Interessengruppen, etwa der Tarifpartner, auf dialogische Weise automatisch ein Stück Gemeinwohl realisiert werde. Zu oft bleibt im Kampf der Gruppen das Interesse der Allgemeinheit auf der Strecke. Die Modernisierung des Bildungssystems, die Reinerhaltung von Luft und Wasser, die notwendigen Reformen der Sozialversicherung und des Gesundheitswesens, das sind nur einige der großen 'Gemeinschaftsaufgaben', deren Lösung oft zu spät in Angriff genommen wird, weil Interessengruppen für sie nur einseitig kämpfen oder sich ihnen gar widersetzen. Im Kampf der Gruppen kommen die Belange der Allgemeinheit also durchaus nicht immer selbsttätig zu ihrem Recht."

Unter der Bedingung, sich selbst dabei aktiv der Kritik auszusetzen, bedürfe die Demokratie "immer wieder der Menschen", die sich der Aufgabe unterzögen, zu kurz gekommene Gemeinwohlanliegen zu formulieren – wer sich lieber gegen Kritik immunisiert, nimmt dagegen an einem anderen Spiel teil.

Wie die Rechtsprechung zeigt, ist heute "Dialogfähigkeit" mehr als ein Anspruch allein an politische Akteure (und solche, die es werden wollen). Vom Lehrer über den Sozialarbeiter, vom Gutachter im nordrhein-westfälischen Metallbauer-Handwerk bis zu dem für türkische Folterknechte verantwortlichen Innenpolitiker oder Diplomaten – überall droht, dass der Mensch seine "Dialogfähigkeit" unter Beweis stellen muss, statt einen konkreten Konflikt auszutragen oder ihn auszuhalten.

Daher sind drei Aussagen Richard von Weizsäckers hilfreich, will man feststellen, ob das Gegenüber mit dem Anspruch an die "Dialogfähigkeit" des anderen ernsthaft in die Kontroverse einsteigen will:

  • "Zu einer dialogischen Politik kommt es nur dort, wo die Gegenspieler begreifen, daß sie im selben Boot sitzen."
  • "Auch eine dialogische Politik bleibt Interessenpolitik. Dabei ist es aber keine caritative Vorleistung, sondern eine Bedingung des Erfolges, das Interesse des Gegenspielers in Rechnung zu stellen."
  • "Nicht die mitgebrachte Kenntnis von Ergebnissen, sondern die Befähigung zum offenen Weg dorthin ist die heute benötigte Qualität des Politikers."

Ob es um eine gerichtliche Auseinandersetzung über Millionenwerte oder Freiheitsrechte geht – oder um den feuilletonistischen Meinungsstreit zur jeweiligen Lappalie des Tages: Nur wenn diese drei Kriterien erfüllt sind, besteht Hoffnung, dass es überhaupt zu einem sinnvollen Dialog kommt.

Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Ohligs.

Zitiervorschlag

Martin Rath, Dialogbereitschaft: Vom Recht, mit anderen reden zu müssen . In: Legal Tribune Online, 22.04.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/34985/ (abgerufen am: 25.04.2024 )

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