Heute vor 25 Jahren fiel die Mauer, ein knappes Jahr später der Staat, der sie errichtet hatte. Seither nennt man ihn "Unrechtsstaat". Dieser Titel ist jedoch kaum definierbar und eignet sich daher nicht als Umschreibung für das SED-Regime, meint Ingo Müller. Anstatt über einen Kampfbegriff zu streiten, solle man sich lieber mit den Tatsachen auseinandersetzen.
In den letzten Tagen hat, wohl wegen des bevorstehenden Jubiläums, eine regelrechte Kampagne zur Propagierung des Begriffs "Unrechtsstaat" eingesetzt. Wer nicht mitmacht, ist sogleich verdächtig, der DDR nachzutrauern, zumindest aber ihr Unrecht zu verharmlosen. Auch die drei Fraktionen des Erfurter Landtags, die erstmals ein Mitglied der Linkspartei zum Ministerpräsidenten wählen wollen, können sich dem nicht entziehen. In ihrer gemeinsamen "Thüringer Erklärung" schreiben sie nach der Aufzählung einiger elementarer Unrechtsakte des SED Regimes: "Daher war die DDR in der Konsequenz ein Unrechtsstaat".
Vor 50 Jahren hieß sie noch nicht so, denn man sprach ihr überhaupt jede Staatlichkeit ab. Noch 1967 nannte Bundeskanzler Kiesinger die DDR nicht einen "Staat", sondern "ein Phänomen". Das hieß nicht, dass man damals den Unrechtcharakter der DDR nicht angeprangert hätte. Im Gegenteil: Kaum eine Veröffentlichung zum Unrecht des Dritten Reichs, die nicht darauf verwies, dass "drüben" eine noch schlimmere Rechtlosigkeit herrsche. Überhaupt wurden die beiden deutschen Unrechtsregime meist im Zusammenhang mit dem jeweils anderen angesprochen. Regelmäßig musste das Unrecht der DDR dazu herhalten, die Verbrechen der Nazi-Herrschaft zu relativieren und zu verharmlosen.
BVerfG und BGH zum Dritten Reich
Mitte der fünfziger Jahre fochten die beiden höchsten Gerichte der Bundesrepublik, der auf Rechtskontinuität Wert legende Bundesgerichtshof (BGH) und das von NS-Juristen weitgehend freigehaltene Bundesverfassungsgericht (BVerfG), einen scharfen Streit um die Deutungshoheit über die Vergangenheit aus. Vordergründig ging es um den Fortbestand von Beamtenverhältnissen, in Wahrheit jedoch um den Rechtscharakter des Dritten Reichs.
Das BVerfG hatte bereits den NS-Staat als umfassendes Unrechtssystem dargestellt. Dies hatte der Große Zivilsenat des BGH scharf missbilligt und das Urteil für unbeachtlich erklärt, da es angeblich nicht aufgrund rechtlicher Erwägungen, sondern "auf der unsicheren Grundlage eines geschichtlichen Werturteils" ergangen war. Im Kern sei das Dritte Reich ein Rechtsstaat gewesen, die Jahrhundertverbrechen Holocaust, Konzentrationslagersystem und Vernichtungskrieg erschienen dem BGH als bloße Randerscheinungen, als "Zierate". Die Antwort aus dem Schlossbezirk Karlsruhes war ein vernichtender Verriss, das Verfassungsgericht schlug dem BGH sein Machwerk regelrecht um die Ohren.
Die Rechtspraxis folgte aber dem Bundesgerichtshof. Nur Außenseiter wie der Rechtsphilosoph Gustav Radbruch und der Hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer nannten das Dritte Reich damals einen Unrechtsstaat. Die Terrorurteile aller Nazi-Gerichte einschließlich des Volksgerichtshofs und sogar der "fliegenden Standgerichte" aus den letzten Kriegstagen behielten ihre Gültigkeit, beide wurden erst 1998 aufgehoben. Kein Richter der Nazi-Justiz wurde verurteilt, zahlreiche Strafgesetz-Änderungen aus den Jahren 1933 bis 1945 blieben in Kraft, nur eine von vielen ist der Mordparagraph des Strafgesetzbuchs.
BGH: DDR nicht mit Nazi-Unrecht vergleichbar
Als Justizminister Kinkel im April 1991 die noch heute sehenswerte Ausstellung des Bundesjustizministeriums "Justiz und Nationalsozialismus" im Frankfurter Römer eröffnete, sprach auch er mehr über DDR-Unrecht als über das in der Ausstellung Gezeigte. Er mahnte, auch die Hinterlassenschaft des SED-Unrechts-Regimes aufzuräumen, eine Aufgabe "im Ausmaß noch größer als die Aufarbeitung der NS-Justiz".
Damals begann die Neue Justiz, die einzige größere Juristen-Zeitschrift der DDR, die erste Diskussion über den "Unrechtsstaat" DDR. Der pensionierte Präsident des Bundesverwaltungsgerichts und Mitherausgeber der gewendeten Zeitschrift, Horst Sendler, behauptete dabei - in Anspielung auf die BGH-Typisierung des Dritten Reichs - die untergegangene Republik sei "im Kern ein Unrechtsstaat" gewesen, verbrecherisch in der Anlage, unumkehrbar und nicht reformierbar, allenfalls in unbedeutenden Randbereichen rechtlich einwandfrei.
Beim Aufräumen des DDR-Unrechts stellte auch der Bundesgerichtshof eine Verbindung zum NS-Staat her, rückte dabei aber die Maßstäbe zurecht. Im November 1995, ausgerechnet im Urteil gegen einen hohen Richter der DDR, nannte er die Rechtsprechung des Dritten Reichs "Blutjustiz", eine "Perversion der Rechtsordnung, wie sie schlimmer kaum vorstellbar war". Dabei stellte er klar, dass das "staatlich verübte Unrecht der DDR" mit dem der Nazizeit überhaupt nicht gleichgesetzt werden könne. Das hat zwar die Diskussion über den "Unrechtsstaat DDR" nicht beendet, aber die Behauptung, das SED-Unrecht sei schlimmer gewesen als das der Nazis, hört man seither nicht mehr.
2/2: Unrecht ja, aber braucht man den Begriff Unrechtsstaat?
Natürlich gab es in der DDR weder Gewaltenteilung noch Unabhängigkeit der Justiz noch galt die Herrschaft des Rechts. Das System war weit davon entfernt, ein Rechtsstaat zu sein. Zahlreiche wissenschaftliche Studien haben in den letzten 25 Jahren auf den verschiedensten Gebieten das Unrecht des untergegangenen Staats eindrucksvoll belegt. Schon die Gründungsurkunde des vereinten Deutschlands, der Einigungsvertrag, sprach von "Opfern des SED-Unrechts-Regimes", ohne dass diese Wendung Anstoß erregt hätte.
Die DDR jedoch deswegen einen Unrechtsstaat zu nennen, ist problematisch, weil der Begriff an sich schon umkämpft ist. Es handelt sich nämlich nicht um einen juristischen oder politischen Fachterminus, sondern ein polemischen Kampfbegriff. Seine Konturen sind vage geblieben und kaum jemand hat versucht, sie zu präzisieren. Als Diffamierungsformel eignet sich der Begriff nämlich besser, wenn er unscharf bleibt.
Ein Unrechtsstaat soll, obwohl der Gedanke nahe läge, nicht das Gegenteil eines Rechtsstaates sein. Friedrich Julius Stahl (1802-1861), der bis heute als Vater des Rechtstaatsgedankens gilt, definierte den Rechtsstaat als einen, der mit Gesetzesgebundenheit und Rechtsförmigkeit der Verwaltung "nicht Ziel und Inhalt des Staates" bestimmen sollte, sondern nur dessen "Art und Charakter". Er propagierte den monarchischen Staat als Ideal des Rechtsstaats und sah dessen Gegenteil im "Volkstaat", also ausgerechnet in der Demokratie. Erst Gustav Radbruch stellte eine Verbindung zwischen beiden her, da "nur die Demokratie geeignet ist, den Rechtsstaat zu sichern". Wo er vom Unrechtsstaat sprach, wollte er den Begriff einem Staat vorbehalten, der das "Recht" gar nicht erst anstrebt und ganzen Bevölkerungsgruppen die Existenzberechtigung abspricht. Das traf nur auf Nazi-Deutschland zu. Aber nicht einmal mit dieser Bewertung konnte er sich durchsetzen; die Juristenschaft weigerte sich beharrlich, das Dritte Reich so zu nennen und erinnerte sich des Begriffs erst nach dem Untergang der DDR.
Differenzierte Betrachtung ist besser geeignet
Aus diesen Gründen lehnen auch Menschen wie Erwin Sellering, Friedrich Schorlemmer und Gesine Schwan, die alle nicht im Verdacht der DDR-Verklärung stehen, den Begriff ab. Sie sehen damit nicht nur das SED-Regime, sondern das ganze Gemeinwesen herabgesetzt, einschließlich der Bevölkerung. Offenbar meinen deshalb auch sechzig Prozent der Ostdeutschen, ein Unrechtsstaat sei die DDR nicht gewesen.
Zu einer unbefangenen Betrachtung des Justizalltags der DDR muss man wohl so viel Distanz zu den innerdeutschen Streitigkeiten haben wie die deutsch-amerikanische Rechtsprofessorin Inga Markovits von der University of Texas. Für ihre Studie "Gerechtigkeit in Lüritz" hat sie die gesamten in 40 Jahren angefallenen Akten eines kleinen Gerichts der DDR ausgewertet. Dabei ist ein vielschichtiges Bild einer teils fürsorglichen, teils repressiven, bisweilen sogar boshaften Justiz entstanden, die mit Rechtsstaat genauso falsch beschrieben wäre wie mit Unrechtsstaat.
In weiteren 25 Jahren, zum fünfzigsten Jahrestag des Mauerfalls, wird uns vermutlich die heutige Auseinandersetzung um den "Unrechtsstaat DDR" genauso skurril vorkommen wie der vor 50 Jahren erbittert geführte Streit darum, ob die DDR überhaupt ein "Staat" war.
Der Autor Dr.iur. Dr.phil. Ingo Müller ist Verfasser zahlreicher Fachbeiträge und Bücher zur Entwicklung des Rechts in Deutschland. Sein bekanntestes Werk "Furchtbare Juristen: Die unbewältigte Vergangenheit der deutschen Justiz", das erstmals 1987 veröffentlicht wurde, erschien 2014 in neuer Auflage.
Dr. Dr. Ingo Müller, War die DDR ein Unrechtsstaat?: Rechtliche Einordnung oder Kampfbegriff? . In: Legal Tribune Online, 09.11.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/13748/ (abgerufen am: 25.04.2024 )
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