Rezension "Freiheit oder Leben": Die Pan­demie als Stress­test für die Kli­ma­krise

Gastbeitrag von Prof. Dr. Stephan Rixen

07.01.2023

Corona hat zu einer heftigen Kontroverse über das Verhältnis von Freiheit und Leben geführt. Die Rechtswissenschaftler Klaus Günther und Uwe Volkmann haben ein Buch herausgegeben und die Argumente analysiert. Stephan Rixen hat es gelesen.

"Freiheit oder Leben?" Das erinnert an den Ausruf "Geld oder Leben!", der bei Raubüberfällen wenig Wahl lässt. Keine Wahl zu haben: Gilt das auch für das Verhältnis von Leben und Freiheit in einer Pandemie? Ist maximaler Lebensschutz alternativlos, auch wenn er Freiheit zur nachgeordneten Größe macht? Passt es zur Würde des Menschen, den Lebenserhalt zum alles übertrumpfenden Ziel zu machen?

Diesen Grundfragen im Spannungsfeld von Leben, Freiheit und Würde widmet sich der jüngst erschienene Band "Freiheit oder Leben? Das Abwägungsproblem der Zukunft". Herausgegeben haben ihn Klaus Günther, Strafrechtslehrer und Rechtstheoretiker, sowie Uwe Volkmann, Verfassungsrechtslehrer und Rechtsphilosoph. Beide lehren an der Goethe-Universität Frankfurt am Main.

Der Band versammelt 18 Beiträge (die Einführung der Herausgeber mitgerechnet) aus der Feder renommierter Expertinnen und Experten aus dem Bereich der Rechtswissenschaft, der Philosophie und der Soziologie. Die Beiträge gehen auf einen virtuell durchgeführten Workshop zurück, der im Mai 2021 an der Goethe-Universität stattgefunden hat; die Einführung der Herausgeber datiert auf Mai 2022.

Programmatische Einleitung von Jürgen Habermas

Der Genius loci wird durch den einleitenden Beitrag von Jürgen Habermas symbolisiert, den Nestor der philosophischen "Frankfurter Schule". Zu seinem programmatischen Text setzen sich die anderen Beiträge mehr oder weniger ins Verhältnis. Schon das macht klar, dass der Band sich nicht unmittelbar für die Lösung aktueller Probleme der Krisenregulierung ausmünzen lässt. Es geht um eine grundlegende Neuorientierung.

Jürgen Habermas betont: "Man kann nicht die Würde einer Person schützen wollen und deren Physis versehren lassen." Wieso ist das so? Zwei Beiträge weisen mit ihren Antworten besonders markant in die Zukunft. Klaus Günthers Beitrag "Die Verschränkung von Würde und Leben", der auf gemeinsam mit Jürgen Habermas entwickelte Überlegungen zurückgeht, nimmt mit seinem Konzept der "leibgebundenen Subjektivität" Anleihen bei einem der Gründungsväter der spezifisch deutschen Variante der philosophischen Anthropologie, Helmuth Plessner, genauer: bei seinem 1928 erschienenen Werk "Die Stufen des Organischen und der Mensch" (es hat auch Jürgen Habermas nicht unbeeindruckt gelassen, wie seine 1972 erschienene Hommage aus Anlass von Helmuth Plessners 80. Geburtstag verdeutlicht). Es geht um eine Haltung, die den Umstand, einen Körper zu haben, reflektiert. Das verändert das Selbsterleben und gestattet die Einsicht, als Person Leib zu sein, was auch den Sinn für die "wechselseitige Vulnerabilität" (Klaus Günther) schärft.

Suhrkamp Verlag AG

Freiheit kein Produkt hyperindividualistischer Selbstkreation

Hier liegt die Schnittstelle zum Beitrag "Relationale Freiheit – Philosophische Wurzeln und grundrechtstheoretische Implikationen" der Staatsrechtlerin Ute Sacksofsky. Sie knüpft bei einer Einsicht der feministischen Philosophie an, die namentlich im medizinethischen Kontext profiliert wurde. Danach ist Freiheit kein Produkt hyperindividualistischer Selbstkreation, sondern eingebettet in Abhängigkeiten, die Angewiesenheit auf andere sowie auf bewusst (auch: staatlich) geschaffene Optionenräume.

Eine derart relational verfasste Freiheit, die auch Anna Katharina Mangold in ihrem Vortrag auf der Pandemie-Sondertagung der Staatsrechtslehrervereinigung 2021 thematisiert hat, ist offen für den Sozialbezug menschlicher Existenz, die mehr ist als das biologische Dasein. Die Schutzbedürftigkeit menschlicher Existenz in der Vielfalt ihrer Ausdrucksformen nimmt infolge der "Entfaltung der Menschen durch die Menschen" (Dieter Suhr) zu. Von der relational bedingten Stärkung individueller Freiheit bliebe wenig übrig, wenn sie durchweg hinter dem Schutz fremden (Über-)Lebens zurücktreten müsste. Relationale Freiheit, richtig verstanden, funktioniert daher als Widerlager gegen alle Versuchungen, Freiheitsverluste zum Zwecke des Gesundheitsschutzes maximal zuzulassen, also Vulnerabilität auf physische Vulnerabilität zu reduzieren.

Zugleich anerkennt das Konzept der relationalen Freiheit, dass physische Versehrtheit zu reduzierten Entfaltungschancen führt, die verbleibende Freiheit der betroffenen Person dadurch aber nicht weniger achtungswürdig wird. Ihre physische Vulnerabilität verlangt dem nicht-physisch vulnerablen Gegenüber Rücksichtnahmen ab, die der physisch vulnerablen Person einen Entfaltungsraum zugestehen, der gerade ihrer physischen Fragilität Raum gibt. Diese Rücksichtnahmen sind aber keine Einbahnstraßen. Auch die physisch vulnerable Person schuldet Rücksichtnahmen, damit den nicht-physisch Vulnerablen nichts zugemutet wird, was von ihrer Freiheit zu wenig übriglässt.

Parlamentarisches Grenzziehungsverfahren erforderlich

Wo hier die Grenze verläuft, lässt sich nicht theoretisch bestimmen, sondern nur dadurch, dass aktiv – und zwar durch den parlamentarischen Gesetzgeber – die Grenzen des wechselseitig Zumutbaren nachvollziehbar gezogen werden, allerdings so, dass kein starker favor vitae jede Abwägung zur Pseudoabwägung macht, in der es nicht mehr viel abzuwägen gibt.

Eine prozedurale Vorkehrung wie das parlamentarische Gesetzgebungsverfahren – genaugenommen ein Grenzziehungsverfahren – hat folglich große verfassungsrechtliche und ethische Brisanz. Es muss Vulnerabilitätsgrade zutreffend ermitteln und in wechselseitig erträgliche Freiheitsgrade transformieren, ohne der entdifferenzierenden Versuchung des favor vitae ("Not kennt kein Gebot") zu erliegen.

Diese nicht bloß technisch-praktische, sondern prinzipielle Problematik – wie muss ein (parlamentarisches) Verfahren organisiert sein, damit in plausibler Weise aus Vulnerabilitätsgraden zumutbare Freiheitsgrade werden können? – klingt in den Beiträgen des Bandes allenfalls schemenhaft an. Ebenso erstaunlich ist es, dass kein Beitrag auf den Philosophen Emmanuel Levinas verweist, den großen Denker der leibvermittelten Würde. Levinas als Inspiration für das rechtsphilosophische und verfassungsrechtliche Denken muss wohl erst noch entdeckt werden. Inwieweit philosophische Würde-Argumente mit den üblichen verfassungsrechtlichen Würde-Argumenten vereinbar sind, wäre generell genauer zu prüfen.

Intellektuell bereichernd

Alle Beiträge des Bandes sind intellektuell bereichernd. Sie irritieren produktiv, philosophisch (Petra Gehring, Lutz Wingert, Ursula Wolf) und soziologisch (Tilman Reitz) mit Erwägungen zu Sterben, Tod, Moralisierung und Glück, betrachten, inspiriert von Hegels Denken, Veränderungen des Freiheitsbegriffs (Uwe Volkmann), treten für die gleichheitsverbürgende Lebenswertindifferenz ein (Thomas Gutmann), weisen auf paternalistische Unterströmungen der Pandemieregulierung hin (Günter Frankenberg, Stephan Kirste), benennen mit feiner Ironie die Inkonsistenzen der Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts zur "Bundesnotbremse" (Thorsten Kingreen), werben für einen differenzierten Umgang mit Public-Health-Konzepten (Stefan Huster), entwickeln ein Solidaritätsmodell in grundrechtsdogmatischer Absicht (Matthias Mahlmann) und konturieren die "solidarische Rechtfertigungsgemeinschaft" (Rainer Forst), fordern den Abschied vom Argument der Würde, wenn es um das Leben geht (Oliver Lepsius), oder erinnern daran, dass das Leben kein fixer, sondern ein flexibler Gegenstand verfassungsrechtlicher Bewertung ist (Steffen Augsberg).

Die Abwägung zwischen Freiheit und (Über-)Leben ist das zentrale politische und normative Problem der Zukunft. Die Bewältigung der Klimakrise vor Augen erscheint die Pandemieregulierung wie ein Abwägungsstresstest. Die Beiträge des Bandes verdeutlichen, dass Abwägungen, die es sich zu leicht machen, Probleme nicht lösen, sondern vergrößern.

Klaus Günther / Uwe Volkmann (Hrsg.), Freiheit oder Leben? Das Abwägungsproblem der Zukunft, Suhrkamp Verlag, Berlin 2022, ISBN 978-3-518-29987-6, EUR 24,-- 

Prof. Dr. Stephan Rixen ist Direktor des Instituts für Staatsrecht der Universität zu Köln und Mitglied des Deutschen Ethikrats.

Zitiervorschlag

Rezension "Freiheit oder Leben": . In: Legal Tribune Online, 07.01.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/50673 (abgerufen am: 02.12.2024 )

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