Contergan-Skandal: Die Fehler der anderen

von Martin Rath

27.11.2016

2/2: Contergan-Streits im Ausland

Die schottische Firma Destillers Ltd., die neben bekannten Whisky-Marken auch Pharmazeutika im Angebot hielt – zwischen 1958 und 1961 auch das deutsche Lizenzprodukt –, verpflichtete sich 1973 zur Leistung von umgerechnet 165 Millionen Mark zugunsten der offiziell rund 400 "Contergan-Kinder" im Vereinigten Königreich. In Deutschland rechnete man mit rund 2.500. Dieses Zugeständnis der Schotten wird aber nicht von der britischen Justiz bewirkt, sondern von einer massiven Boykott-Kampagne, an der sich linke wie konservative Medien beteiligen.

Auch im US-Recht spielt Contergan 1973, wenn auch indirekt, eine Rolle. 1962 ging die amerikanische Schauspielerin Sherri Finkbine (1932–) mit ihrem fünften Kind schwanger. Sie konsumierte anfänglich nach und nach 36 Schlaftabletten, die ihr Mann von einer London-Reise mitgebracht hatte. Als den Eheleuten bewusst wurde, dass es sich um ein Thalidomid-Präparat gehandelt hatte, nahm Finkbine unter Zusicherung der Anonymität Kontakt mit einer örtlichen Zeitung auf und ersuchte eine Klinik um den – grundsätzlich verbotenen – Schwangerschaftsabbruch.

Nachdem dies doch in die Öffentlichkeit gekommen war, verlangte die Klinik eine gerichtliche Bestätigung der Zulässigkeit von Finkbines Begehr. Die Sache zog sich bei Gericht hin, schließlich geriet der Abtreibungswunsch zum Medienzirkus, der mit einem Schwangerschaftsabbruch in Schweden endete – genehmigt durch die königlich-schwedische Medizinalbehörde.

Die in anderer Sache getroffene Entscheidung des U.S. Supreme Courts von 1973, der berühmte Fall "Roe v. Wade" zum Schwangerschaftsabbruch, findet ihre Stütze im Recht auf Privatheit. Der Finkbine-Zirkus hat, so meinen einige US-Juristen, nicht wenig hierzu beigetragen. Jedenfalls gerieten seit 1962 die christlich fundierten Abtreibungsverbote in den USA unter den Druck der publizierten Meinung.

Historische und aktuelle Contergan-Fälle

Und damit zurück nach Deutschland: Das Bundesverfassungsgericht hatte mehrfach mit Rechtsfragen rund um das Thema Contergan zu tun. Mit Urteil vom 15. Juni 1976 (Az. 1 BvL 19 und 20/75, 1 BvR 148/75) setzte es sich mit der Beendigung etwaiger Schadensersatzansprüche gegen die Firma Grünenthal durch das "Gesetz über die Errichtung einer Stiftung Hilfswerk für behinderte Kinder" auseinander, das heute vielleicht häufiger im akademischen Unterricht als bewusstseinserweiternde Entscheidung in Fragen der Public-private-Partnership diskutiert werden sollte. Immerhin bestätigt das Urteil, dass ein Gesetz gleichsam Zug-um-Zug gegen Zahlung von Stiftungsmitteln durch ein Unternehmen in Kraft gesetzt werden darf – mit einem gewissen Spielraum für den Bundesminister der Justiz, § 29 Conterganstiftungsgesetz.

Die mehr oder minder dokumentarische Darstellung des Contergan-Skandals in einem Filmprodukt des Westdeutschen Rundfunks wurde – über den nicht ganz unüblichen Hamburger Rechtsweg – zum Gegenstand des Beschlusses vom 29. August 2007 (Az. 1 BvR 1223/07)  mit der durchaus bekannten Übung, Persönlichkeits- und Meinungsfreiheitsaspekte feinsinnig abzuwägen.

Ungezählt schließlich die Fälle, in denen das Grundproblem des Strafprozesses von 1967/68–1970 im Stil einer conterganspezifischen Gliedertaxe verhandelt wird. Bereitete vor bald 50 Jahren die strafrechtsfeste Feststellung der Kausalität von Medikamentenkonsum und körperlichem Schaden Kopfzerbrechen, haben nun die Gerichte darüber zu befinden, ob eine Deformation auf Thalidomid-Wirkung zurückzuführen ist oder ein bei Jedermann erwartbarer Schaden sei. Dabei heraus kommen Urteile, die geeignet sind, Jura-Erstsemester zu fragen, ob sie nicht lieber etwas Anständiges studieren möchten.

Contergan taugt zu mehr als Streisand-Effekten

Obwohl die Firma Grünenthal und ihr prominentestes Produkt teils unter besten Voraussetzungen für Streisand-Effekte Thema bei Gericht waren, haben sie es – merkwürdigerweise – nicht zum geflügelten juristischen und rechtspolitischen Schlagwort gebracht. Keinem bayerischen Politiker, der gegen EU- oder Bundesbürokratie Stimmung macht, kann mit der einfachen Frage begegnet werden, ob er ungehindert "Contergan"-Fabriken in den Freistaat holen möchte.

Eine andere Indikation für Contergan-Fragen:  Die Drogeriekette des bekanntesten Fürsprechers des bedingungslosen Grundeinkommens steht oder stand in Geschäftsbeziehung zu Firmen der Grünenthal-Eigentümer. Mit der naheliegenden Frage, warum fürs Gesamtvolk ein Grundeinkommen zu schaffen sei, wenn es noch nicht einmal zu einer würdigen Versorgung der Contergan-Geschädigten gereicht hat, wird ein Götz Werner – soweit erkennbar – nie konfrontiert, wenn er wieder einmal mit seinem anthroposophischen Hirngespinst hausieren geht.

Ein bekannter deutscher Jurist argumentierte im Sommer 2016, dass ein Rechtsunterricht an den Schulen mehr sein müsse als ein Rechtskunde- oder Sozialkundeunterricht. Warum so eng denken? Mit dem Contergan-Skandal könnte man gemeinsam mit den Schülern alle Dimensionen von Recht in der Gesellschaft erarbeiten.

Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Ohligs.

Zitiervorschlag

Martin Rath, Contergan-Skandal: Die Fehler der anderen . In: Legal Tribune Online, 27.11.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/21269/ (abgerufen am: 20.04.2024 )

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