Ob sich Staatsrechtslehrer und ihre Schüler wohl schon einmal präventiv beleidigt fühlen dürfen? Eine neue Untersuchung belegt den Einfluss der öffentlichen Meinung auf die Urteile aus Karlsruhe. Wo bleibt da die Rechtswissenschaft?
Wenn er zu Prognosen über die Urteilspraxis aufgefordert werde, antworte er inzwischen weniger aus seiner Kenntnis dessen, "was dogmatisch passen und stimmen würde", sondern mehr aus seiner "Kenntnis und Einschätzung der Richter und Richterinnen des jeweiligen Senats".
Mit diesem Bekenntnis relativiert Bernhard Schlink – der breiten Öffentlichkeit als Autor von Krimis und anderen moralischen Romanen, den Juristen als Verfassungsrechtler bekannt – einen Teil seiner eigenen Arbeit. Wozu ist die Dogmatik gut, wenn letztlich – unabhängig davon, ob sie sich an der Rechtsprechung ausrichtet oder akademischen Eigensinn pflegt – doch andere Faktoren die Urteilspraxis der Gerichte beeinflussen, wenn nicht sogar wesentlich prägen?
Diese Frage hat in den späten 1960er und in den 1970er Jahren in der deutschen Rechtswissenschaft zu heftigen Auseinandersetzungen geführt. Das auf empirischer Fleißarbeit zu den privaten, wirtschaftlichen und sogar amourösen Verhältnissen der deutschen Richterschaft beruhende Werk "Die Hüter von Recht und Ordnung" von Wolfgang Kaupen, das 1969 ihre soziale Stellung und die generelle Tendenz der Rechtsauffassungen in Beziehung setzte und im Ergebnis den Richtern eine Neigung zum Konformismus attestierte, wurde beispielsweise in den Jahren nach seinem Erscheinen für juristische Verhältnisse fast feurig diskutiert.
Verfassungsgericht im empirischen Fokus
Inzwischen dürfte das Selbstbild, persönlich frei von ideologischen Einstellungen zu sein, äußerst populär sein, die 1970er Jahre liegen ja weit zurück. Daher wird die Frage, welchen Einflüssen beispielsweise das Bundesverfassungsgericht jenseits seiner rechtswissenschaftlichen Disziplinierung ausgesetzt ist, etwas entspannter angegangen werden.
Einen Beitrag dazu leistet der Aufsatz "Zum Einfluss der öffentlichen Meinung auf Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts. Eine Analyse von abstrakten Normenkontrollen sowie Bund-Länder-Streitigkeiten 1974–2010", der im jüngsten Heft der "Politischen Vierteljahresschrift" (PVS) erschienen ist.
Die Politikwissenschaftler Sebastian Sternberg, Thomas Gschwend, Caroline Wittig und Benjamin G. Engst setzen in ihrer Untersuchung demoskopische Daten zur öffentlichen Meinung einerseits, einen politisch relevanten Teil der verfassungsrichterlichen Entscheidungspraxis andererseits in Beziehung. Abstrakte Normenkontrollklagen und Bund-Länder-Streitigkeiten, so die Politikwissenschaftler, haben dabei den Vorteil, sich gut der politischen Regierungs- und Oppositionsfunktion zuordnen zu lassen.
Ihre Vermutung: "Sofern das Gericht als Hüter der Verfassung unabhängig von der öffentlichen Meinung entscheidet, sollten wir keinen systematischen Zusammenhang zwischen der spezifischen Unterstützung für die jeweilige Oppositionsfunktion und deren gerichtlichen Erfolg finden."
Öffentliche Meinung zeigt offenbar ihren Einfluss
Doch genau diesen Befund treffen die Politikwissenschaftler: Soweit die bundespolitische Opposition gegenüber der Regierungsmehrheit relativ populär ist oder wenn das Anliegen eines von ihr vor das Bundesverfassungsgericht getragenen Anliegens in der Bevölkerung eine spezifische Unterstützung erfährt, steigen ihre Chancen, mit dem abstrakten Normenkontrollantrag oder ihrer Bund-Länder-Streitsache vor dem Verfassungsgericht zu obsiegen.
Für Menschen, die sich vom Staat allgemein oder von bestimmten Staatsorganen absolute Neutralität oder Objektivität erhoffen, ist damit nun auch noch Karlsruhe von der Liste der Sehnsuchtsorte gestrichen. Zwar mag der Befund niemanden wirklich überraschen, der subtile Einfluss- und Machtverhältnisse nüchtern beobachtet. Aber derart lautstark und infantil, wie zur Zeit der Anspruch auf absolute Wahrheit, absolute Objektivität und Neutralität in der deutschen Öffentlichkeit zu Wort kommt, lassen sich nüchterne Erkenntnisse zu Machtfragen gar nicht oft genug hervorheben.
Zu den Gründen der verfassungsrichterlichen Praxis, zur öffentlichen Meinung zu tendieren, ziehen Sternberg und Kollegen vor allem die institutionellen Rahmenbedingungen der Verfassungsgerichtsbarkeit in Erwägung. Wie der Vatikan, hat auch Karlsruhe bekanntlich keine Bataillone.
2/2: Richter sind von Ignoranz und Lümmelei bedroht
Bataillone bräuchte es, um Gehorsam zu bewirken. Dass Entscheidungen ignoriert werden, erleben nicht nur zurzeit die Richterkollegen vom Trybunał Konstytucyjny in Warschau, auch gegenüber dem Bundesverfassungsgericht übten sich Exekutive und Legislative gelegentlich in Befehlsverweigerung, beispielsweise in der Umsetzung des Karlsruher Verdikts gegen Beraterverträge zwischen Bundestagsabgeordneten und zahlungskräftigen Lobbyisten.
Mit Urteil vom 5. November 1975 (Az. 2 BvR 193/74) hatte das Bundesverfassungsgericht unter anderem festgestellt, dass gesetzliche Vorkehrungen dagegen getroffen werden müssten, dass Abgeordnete wirtschaftliche Vorteile aus "Beraterverträgen" erhalten, ohne dafür mehr zu leisten, als sich dem Risiko auszusetzen, für käuflich gehalten zu werden.
Wie die Reaktion des Bundesgesetzgebers in den 40 Jahren seit dieser verfassungsrichterlichen Vorgabe zu bewerten sind – auf einer Skala zwischen nackter Ignoranz, nachhaltiger Verschleppung oder sorgfältiger Prüfung, dass da mal etwas getan werden könnte –, liegt zwar im Auge des Betrachters. Doch steht dem Gericht, anders als dem Vatikan, noch nicht einmal eine Schweizergarde zur Seite. Die Erfahrung von Machtlosigkeit mag also die richterliche Neigung zur öffentlichen Meinungstendenz gut begründen.
Wo kommt das Bauchgefühl eines Richters her?
Um statistisch tragfähige Relationen zwischen der Urteilspraxis und der demoskopisch erhobenen Tendenz der öffentlichen Meinung herstellten zu können, mussten sich die Politikwissenschaftler aus Mannheim und Hannover natürlich auf eine beherrschbare Datenmenge beschränken. Sie zogen ihre Daten aus der demoskopischen Forschung sowie der Entscheidungssammlung des Gerichts, was die Themen und Streitparteien betraf. Weitere Faktoren hineinzurechnen, wäre sicher wünschenswert.
Möglicherweise bilden die Verfassungsrichter ihr Bauchgefühl, das für Menschen mit zwei juristischen Staatsexamen bekanntlich als "Judiz" firmiert, nicht mit Blick in die allgemein zugänglichen Medien, sondern nach ernsthaftem Studium jener einschlägigen Publikationen, die von den gut 700 Mitgliedern der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer in die Welt gesetzt werden. Diese Publizistik allerdings so zu codieren, dass sie in einer statistisch tragfähigen Analyse Platz finden könnte, dürfte keinem Menschen zuzumuten sein. Es wird einfach zu viel geschrieben.
Bestimmt beleidigt die Empirie irgendjemanden
Einer empirischen Untersuchung dazu, ob die dogmatischen und anderweitigen Schreibleistungen der akademischen Rechtswissenschaft im verfassungsgerichtlichen Betrieb – oder im Justizbetrieb überhaupt – eine Wirkung zeigen und wenn ja, welche, haben sich Politikwissenschaftler nach hiesiger Kenntnis bisher verweigert.
Ob sich in der sozialen Wirklichkeit des richterlichen Urteils daher eine potenzielle Beleidigung von Staatsrechtslehrern, anderen akademischen Juristen sowie jenen jungen Menschen verbirgt, die sich beim Studium des Rechthabens nicht allein auf Präjudizien und Praktikerkommentare verlassen möchten, kann man also empirisch nicht sicher behaupten, allenfalls mit Blick auf die Selbstzitate der höheren Gerichte vermuten.
Dass allerdings eine empirische Untersuchung zu jenen Faktoren, durch die richterliche Entscheidungen beeinflusst werden könnten, die Sache von Politik- und anderen Sozialwissenschaftlern ist und nur alle Jubeljahre in der Rechtswissenschaft verhandelt wird, ist auch für sich genommen schon beschämend genug.
Lesetipps:
Der Aufsatz von Sternberg et al.
Gschwend, Sternberg, Zittlau: "Are Judges Political Animals After All? Evidence from the German Federal Constitutional Court"
Zum Streit um die soziologische Betrachtung der deutschen Richter (mit weiteren Nachweisen): Peter Schwerdtner, Juristenzeitung 1970, S. 516-517, wieder abgedruckt in: Hanjo Hamann und Martin Idler: "Zeitgeistreiches", Tübingen 2015.
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Ohligs bei Solingen.
Martin Rath, Empirie zur Beeinflussbarkeit von BVerfG-Richtern: Vox populi und das Verfassungsgericht . In: Legal Tribune Online, 13.03.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/18763/ (abgerufen am: 20.04.2024 )
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