1961 erklärte das BVerfG wesentliche Teile des schleswig-holsteinischen Kommunalwahlrechts für verfassungswidrig, weil es Stimmen für kleine Wählervereinigungen entwertet hatte. Ein Blick in Zeiten politischer Flurbereinigung.
Überraschend konnte es für den Landtag und die Regierung von Schleswig-Holstein nicht kommen, als das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) am 30. Mai 1961 eine ganze Reihe von Vorschriften des dortigen Kommunalwahlrechts für nichtig erklärte (Az. 2 BvR 366/60).
Obwohl sich das Gericht bereits ein halbes Jahr zuvor einigen ähnlichen Regelungen in Nordrhein-Westfalen angenommen und sie für nichtig erklärt hatte (Urt. v. 02.11.1960, Az. 2 BvR 504/60), ist der Beschluss zum schleswig-holsteinischen Kommunalwahlrecht bemerkenswert. Denn er dokumentiert deutlich ein heute vielleicht befremdlich wirkendes positives Bild, das die politischen Parteien seinerzeit von einer Demokratie hatten, die sie im Wesentlichen in ganz eigener Regie veranstalten wollten.
Schlechte Karten für kommunale Wählervereinigungen?
Zunächst einmal der Blick nach Nordrhein-Westfalen. Dort lagen die Dinge nach dem Kommunalwahlgesetz in der Fassung vom 30. Mai 1960 vergleichsweise einfach. Der Wähler gab – wie heute – eine Stimme ab. Sie bestimmte, wer im Wahlkreis mit relativer Mehrheit gewählt war. Mindestens die Hälfte der Ratsmandate wurde nach dem d'Hondt'schen Höchstzahlverfahren über Reservelisten vergeben, wobei jene politischen Parteien einen Ausgleich an Sitzen erhielten, die weniger Direktmandate errungen hatten, als ihnen durch die Gesamtstimmenzahl zustanden.
Neu war an dieser Regelung, dass eine Wählervereinigung, die sich nicht als Partei nach Artikel 21 Grundgesetz (GG) qualifizierte, zwar weiterhin Bewerber für die Wahlkreise aufstellen konnte, ihr jedoch die Möglichkeit genommen wurde, sich mit einer Reserveliste an der Wahl zu beteiligen. Hatten ihre Bewerber also im Wahlkreis keinen Erfolg, sollte sie gar kein Mandat erhalten, selbst wenn die Stimmen für die Vereinigung in der Summe zu einem oder mehreren Sitzen im Rat genügten.
Auf die Verfassungsbeschwerde eines Rechtsanwalts aus Münster in Westfalen erklärte das BVerfG diesen Ausschluss von Wählervereinigungen vom Verhältnisausgleich für nichtig. Der ungleiche Wert der Stimmen für Parteien und für Wählervereinigungen verletze den Grundsatz der Wahlgleichheit und verkürze auch unzulässig das Wahlvorschlagsrecht (BVerfG, Beschl. v. 02.11.1960, Az. 2 BvR 504/60).
In kleinen Gemeinden: Gewählt ist, wer nominiert ist
Auch das schleswig-holsteinische Gemeinde- und Kreiswahlgesetz vom 25. März 1959 verband den Grundsatz der relativen Mehrheitswahl im Wahlkreis mit dem vollständigen Verhältnisausgleich im Wahlgebiet. Von der Verteilung über Listen sollten auch hier nur die politischen Parteien, nicht aber sonstige Wählervereinigungen profitieren. Ihnen verblieb nur die Möglichkeit, Einzelbewerber aufzustellen. Diese Regelung erklärte das Gericht mit Beschluss vom 30. Mai 1961, wie im Fall Nordrhein-Westfalens, für nichtig.
In einer weiteren Regelung des schleswig-holsteinischen Rechts, nach der die Parteienkandidaten prominenter auf dem Wahlzettel platziert wurden als die sonstigen Bewerber, wollte das Gericht zwar noch keinen Verstoß gegen die Chancengleichheit sehen, andererseits aber auch den "für die bereits parlamentarisch vertretenen Parteien verbundene(n) propagandistische(n) Vorteil nicht verkennen". Es empfahl deutlich eine weniger verzerrende Darstellung, war das Gesetz hier doch ohnehin zu überarbeiten.
Eine außergewöhnliche Regelung hatte das Gesetz zudem für kleine Gemeinden von 70 bis 750 Einwohnern getroffen, in Schleswig-Holstein keine Seltenheit: Lagen in solchen Gemeinden nur ein Wahlvorschlag oder mehrere Wahlvorschläge mit insgesamt nicht mehr als sieben Bewerbern vor, sollte der Wahlausschuss die Kandidaten ohne Stimmabgabe des Volkes für gewählt erklären.
Mit dieser Vorschrift räumte das Bundesverfassungsgericht "von Amts wegen" auf: Der Grundsatz der gleichen Wahl, Artikel 38 Abs. 1 GG, sei hier zwar nicht berührt. Doch müsse eine Gemeindevertretung nach Artikel 28 Abs. 2 GG aus einer "allgemeinen, unmittelbaren, freien, gleichen und geheimen" Wahl hervorgehen. Es genüge nicht, dass die Wähler eine Abstimmung erzwingen könnten, indem sie selbst über die sieben Bewerber hinausgehende Wahlvorschläge einreichten.
Parteienlandschaft in Zeiten der Flurbereinigung
Im Fall des schleswig-holsteinischen Kommunalwahlrechts war das Verfahren kaum zufällig von Vertretern der Deutschen Partei (DP) ausgegangen. Denn für sie und ihresgleichen stand eine politische Flurbereinigung an.
Bei der Bundestagswahl vom 15. September 1957 hatten es CDU und CSU auf 50,2 Prozent der Zweitstimmen gebracht. Die SPD erhielt nur 31,8 und die FDP 7,7 Prozent. Konrad Adenauer (1876–1967) konnte sein drittes Kabinett ohne Beteiligung anderer Parteien bilden. Programmatisch hatte die Popularität der neuen, nach dem sogenannten Generationenvertrag organisierten Rentenversicherung zu Adenauers breitem Wahlsieg beigetragen. Die SPD, nicht hinreichend staatstreu und jugendfrei, war mit ihrer sozialistischen Rhetorik propagandistisch allzu leicht als politische Gefahr für die ganz neuartige deutsche Wohlstandsgesellschaft angreifbar geblieben.
Dank ihrer sechs Direktmandate in Niedersachsen und Hessen, Frucht von Absprachen mit der CDU, zog die DP mit 3,5 Prozent der Zweitstimmen, insgesamt mit 17 Abgeordneten in den Bundestag ein. Der "Gesamtdeutsche Block/Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten" (GB/BHE) scheiterte hingegen mit beachtlichen 4,6 Prozent, der Zweitstimmten.
Einen Beitrag zur Konsolidierung der sogenannten bürgerlichen Parteien leistete nun namentlich die CDU, indem sie insbesondere die bekannteren Politiker der DP umwarb – beispielsweise die in Fragen der Gleichberechtigung der Geschlechter sowie der Aufwertung hergebrachter Frauenberufe durch Modernisierung hoch interessante Abgeordnete Margot Kalinke (1909–1981). Viele DP-Abgeordnete wechselten 1960 in die CDU/CSU-Fraktion.
Das Bemühen um Flurbereinigung nahm regional unterschiedliche Züge an. In Nordrhein-Westfalen wurde eine obskure Ausnahme von der Fünfprozent-Klausel, die es der katholischen Zentrumspartei noch einmal erlaubt hatte, 1954 mit nur 4,0 Prozent der Stimmen in den Landtag einzuziehen, zur Wahl im Jahr 1958 abgeschafft. Zwischen 1958 und 1966 konnte Franz Meyers (1908–2002) mit absoluter CDU-Mehrheit regieren. In Bayern entledigte sich die CSU ihrer schärfsten Konkurrenz, der Bayernpartei, mit ebenfalls heiklen Mitteln.
In Hessen hingegen hatte das Überleben einer Partei, die ähnliche Wählerkreise wie die CDU ansprach, schmerzhafte Konsequenzen für die im Bund und NRW vom Erfolg verwöhnten Christdemokraten: Seit 1954 regierte dort Georg-August Zinn (1901–1976), im Amt seit 1950, mit dem GB/BHE. Dieser heute nicht selten nur noch als Patron von Generalstaatsanwalt Fritz Bauer (1903–1968) gefeierte Sozialdemokrat teilte sich den Kabinettstisch mit einem in der Tschechoslowakei als Kriegsverbrecher verurteilten und anderen ehemaligen NSDAP-Mitgliedern, die mit dem GB/BHE ein sozial- und nationalpopulistisches Programm vertraten.
Der letzte Hort politischer Verständigung schwindet
Der Versuch, das Aufkommen von Rathausparteien zu erschweren, kann aber nicht allein auf machtpolitische Kalküle zurückgeführt werden.
Denn in den Verfahren zum schleswig-holsteinischen und zum nordrhein-westfälischen Kommunalwahlrecht betonten die beiden Landesregierungen jeweils die herausragende Position, die Artikel 21 GG den politischen Parteien seit 1949 gab: Demokratie als, zugespitzt formuliert, eine Veranstaltung, die ohne sie nicht mehr zu denken sei. Für eine kohärente Verwaltungstätigkeit im Verhältnis zwischen Land und Gemeinde seien zudem parteipolitisch klare Mehrheitsverhältnisse vor Ort hilfreich.
Das BVerfG setzte dem auf den ersten Blick ein fast basisdemokratisch-idyllisches Bild der politischen Landschaft entgegen, in dem die Parteien beinahe noch als Fremdkörper wirken mussten. Verständlich wird das vor dem Hintergrund, dass seinerzeit die bald nur noch dreieinhalb großen Parteien – CDU, SPD, FDP und CSU – öffentlich gewisse Skrupel zeigen mussten, wenn es um die Besetzung von Positionen im rasch wachsenden öffentlichen Sektor ging, von der Rundfunkanstalt bis zu den zahlreichen neu gegründeten Hochschulen.
Weil sich die Parteien zudem noch als profund weltanschaulich orientierte Organisationen verstehen durften, konnten Wahlkämpfe als komplexer Ersatz für die binär-einfältige plebiszitäre Demokratie gelten – der Bürger stimmte ja auch über klare und gut unterscheidbare Parteiprogramme ab. In den Gemeinden, dort also, wo der Staatsapparat weniger weltanschaulich programmiert wird, als sich vielmehr selbst pragmatisch verwaltet, mochten Parteien daher, gleichsam durch die soziologische Brille betrachtet, auch ohne idyllische Verklärung ein wenig fremd wirken.
Dank ihrer Finanzausstattung und ihres besseren Medienzugangs gelang es den größeren Parteien gleichwohl, bis in die jüngere Vergangenheit vielerorts konkurrenzfrei die Mehrzahl der kommunalen Mandate zu akquirieren.
Dass die Kommunen heute vielfach kaum noch als eigenständiger Ort politischer Verständigung wahrgenommen werden, hat gewiss auch damit zu tun, dass – soziologisch definiert – ein guter Teil des Gemeindevolks von Wahlen ausgeschlossen bleibt: jeder Mensch ohne deutsche oder EU-Staatsangehörigkeit. Dogmatisch ist das gewiss gut begründet, für das Selbstverständnis in der Gemeinde, als "friends and countrymen", jedoch schwer zu begreifen. Aber das betrifft natürlich einen anderen Fall der mitunter eigenwilligen schleswig-holsteinischen Politik und eine andere Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts – das Urteil zum kommunalen Ausländerwahlrecht vom 31. Oktober 1990 (Az. 2 BvF 2, 6/89).
Martin Rath, Kommunalwahlrecht in der jungen Bundesrepublik: . In: Legal Tribune Online, 30.05.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/45065 (abgerufen am: 05.10.2024 )
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