Das neue Buch von Maximilian Steinbeis "Die verwundbare Demokratie" verspricht "Strategien gegen die populistische Übernahme". Er stellt fest: Verfassungsänderungen sind kein Allheilmittel.
Wir erleben den Kampf zweier Lager, so die Analyse von Maximilian Steinbeis (Gründer und Chefredakteur des Verfassungsblogs). Auf der einen Seite steht die liberale, pluralistische Demokratie. Sie geht davon aus, dass es in einer Gesellschaft viele unterschiedliche Interessen und politische Grundhaltungen gibt. Im demokratischen Wettstreit entscheiden die Wähler, wer regiert und wer in die Opposition muss. Die Mehrheit kann Minderheit werden und umgekehrt. Grundrechte sichern den freien gesellschaftlichen Diskurs und die Interessen von Minderheiten.
Auf der anderen Seite steht der autoritäre Populismus, so Steinbeis. Populisten behaupten, dass nur sie selbst das Volk vertreten, während die anderen Parteien für kosmopolitische Eliten stehen, die nicht wirklich dazu gehören und von fremden Mächten gesteuert werden. Die Eliten unterdrücken demnach das Volk und versuchen es sogar durch ungezügelte Migration auszutauschen. Sind die wahren Vertreter des Volkes erst einmal an der Macht, ist der Wechsel zwischen Regierung und Opposition hinfällig und muss verhindert werden. Auch eine Kontrolle der wahren Vertreter des Volkes durch eine unabhängige Justiz, insbesondere durch ein Verfassungsgericht, ist nicht erforderlich.
Zu Recht steht Steinbeis ganz im Lager der pluralistischen Demokratie. Denn die Vorstellung eines homogenen Volkes war schon immer eine Schimäre und ist inzwischen auch ethnisch überholt. Wenn also schon die Prämisse falsch ist, hat das Lager des autoritären Populismus, keine wirkliche Legitimation. Die Berufung auf die wahren Interessen des Volkes ist letztlich nur eine Strategie, um an die Macht zu kommen und sie dann nicht mehr herzugeben. Weil Teile des Volkes und der Bevölkerung dabei zu Feinden erklärt werden, ist der autoritäre Populismus keine harmlose dumme Folklore, sondern gefährlich.
Als Beispiel für autoritären Populismus schildert Steinbeis die Entwicklungen in Ungarn und in Polen. Viktor Orbán war in Ungarn vor allem deshalb erfolgreich, weil ihm das dortige Wahlrecht 2010 eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament sicherte (obwohl er nur etwas mehr als die Hälfte der Stimmen erzielte) und er mit seiner Fidesz-Partei so die Verfassung ändern konnte und bei der Umgestaltung der Institutionen weniger brachial und weniger rechtswidrig vorgehen musste als die polnische PiS-Regierung, die 2023 auch wieder abgewählt wurde.
Im Zentrum des Buches steht aber das kleine deutsche Bundesland Thüringen. Dort wird am 1. September der Landtag neu gewählt. Die AfD hat laut Umfragen große Chancen, dort stärkste Partei zu werden. Deren Landes- und Fraktionsvorsitzender ist Björn Höcke, Vordenker des Rechtsaußen-Netzwerks in der AfD. Steinbeis gibt einen Ausblick auf die Zeit nach der Wahl.
Was könnte in Thüringen passieren?
Auch wenn die AfD am Ende nicht an die Regierung kommt, könnte sie mit einer Sperrminorität von mehr als einem Drittel der Sitze Obstruktion betreiben. Sie könnte Verfassungsänderungen blockieren oder beeinflussen. Und sie könnte die Wahl von Verfassungsrichtern verhindern bzw. eigene Vorschläge durchsetzen. Wenn sie als stärkste Fraktion den Landtagspräsidenten stellt, könnte dieser den Parlamentsbetrieb behindern und den Landtag für die Veranstaltungen extremistischer Gruppen öffnen.
Soweit die AfD den Parlamentsbetrieb obstruiert und damit Chaos produziert, könnte dies die Unfähigkeit der Altparteien aufzeigen. Wenn die AfD (auch wegen ihrer Obstruktion) ausgegrenzt wird, zeige dies, dass die Altparteien die wahren Vertreter des Volkes bekämpfen. "Was immer die Gegner der liberalen Demokratie anstellen, sie gewinnen", fasst dies Steinbeis unkend zusammen.
Sollten die autoritären Populisten doch eines Tages in Thüringen an die Regierung kommen oder an ihr beteiligt werden, könnten sie versuchen, ihre Politik umzusetzen. Angekündigt hat die AfD zum Beispiel, dass sie den Präsidenten des Thüringer Verfassungsschutzamtes austauschen will. Es sollen auch alle Medienstaatsverträge gekündigt werden, damit Thüringen nur noch einen eigenen, stark reduzierten "Grundfunk" anbieten kann. Eingeführt werden sollen konsultative Volksabstimmungen, bei denen die Landesregierung die Wähler über von ihr bestimmte Fragestellungen abstimmen lässt.
Da ein Land wenig Zuständigkeiten in der Gesetzgebung hat, wäre vor allem der Gesetzesvollzug relevant. Ausländerbehörden könnten zum Beispiel verpflichtet werden, die Verlängerung von Aufenthaltstiteln, wo möglich, abzulehnen und alle Ausweisungs-Tatbestände im Aufenthaltsgesetz konsequent zu nutzen.
Steinbeis vergisst nicht zu erwähnen, dass vieles von dem, was die AfD plant oder planen könnte, auch von etablierten Parteien wie der CDU gemacht wird, etwa die administrativen Schikanen gegen Shisha-Bars und andere Unternehmen in NRW, die der so genannten Clan-Kriminalität zugerechnet werden.
Schließlich könnten die autoritären Populisten versuchen, ihre Macht zu verstetigen, etwa indem sie das Landeswahlrecht auf ihre Bedürfnisse zuschneidern. Die Folgen einer Abwahl könnten gemildert werden, indem sie wichtige Posten der Landesverwaltung mit eigenen Leuten besetzen und eine lange Amtszeit vorsehen.
Was tun?
Sofern die populistisch kontrollierten Verwaltungen die Bundesgesetze rechtswidrig anwenden, können die Betroffenen bei Verwaltungsgerichten klagen und ihr Recht einfordern – notfalls bis zum Bundesverfassungsgericht.
Wenn es um eine flächendeckende Missachtung von Bundesgesetzen geht, könnte die Bundesregierung eine Bundesaufsicht gem. Art. 84 Abs. 3 GG einsetzen. Wenn die Thüringer Landesregierung sich völlig unkooperativ verhält, stünde auch das Instrument des Bundeszwangs gem. Art. 37 GG zur Verfügung. Steinbeis hält ihn allerdings für langwierig und umständlich. Er könnte vor allem zum Einsatz kommen, wenn Thüringen auch Urteile des Bundesverfassungsgerichts missachtet.
Solange nur ein Bundesland völlig aus dem Ruder läuft, ist Thüringen also nicht verloren. Was aber gilt, wenn vier oder fünf Bundesländer von autoritären Populisten übernommen wurden, thematisiert Steinbeis nicht.
Eine unerwartet kleine Rolle spielt im Buch das "Thüringen Projekt". Mit einem Team von Juristen versuchte Steinbeis über ein Jahr lang herauszufinden, welche Verfassungs- und Gesetzesbestimmungen man ändern kann, um die Demokratie in Thüringen resilienter zu machen. Im April 2024 hatte das Projekt einen "Handlungsvorschlag" mit relativ unspektakulären Ideen vorgelegt. So sollen etwa Medien-Staatsverträge nur noch mit Zustimmung des Landtags gekündigt werden können (und nicht durch den Ministerpräsidenten allein). Um die Arbeitsfähigkeit des Landesverfassungsgerichts zu sichern, sollte ein "Ersatzwahlmechanismus" eingeführt werden, für den Fall, dass im Landtag kein Kandidat mehr mit 2/3-Mehrheit gewählt werden kann. Keiner der Vorschläge wurde in Thüringen umgesetzt.
Steinbeis scheint auch etwas ernüchtert zu sein, was die Leistungsfähigkeit von Resilienz-Regelungen in Gesetzen und Verfassungen angeht. "Eine Verfassung hat nicht irgendwelche Löcher und Lücken, die man so lange mit neuem Verfassungsrecht flicken und schließen kann, bis sie gegen alles Gefährliche perfekt abgedichtet ist", schreibt Steinbeis, "jede ihrer Institutionen, auch solche, die eigens geschaffen wurden, um Verfassungsmissbrauch abzustellen, kann ihrerseits wieder missbraucht werden."
Steinbeis erinnert an den Ausspruch des Staatsrechtlers Georg Jellinek von 1903, dass in der Abwehr parlamentarischer Obstruktion die "Arznei oft nicht minder gefährlich als die Krankheit" sei. Steinbeis kommt zudem zum Schluss: "Wenn man, damit sich 1933 nicht wiederholt, eine "wehrhafte Demokratie" schafft und sie im Abwehrkampf gegen ihre inneren Feinde mit entsprechenden Präventions- und Repressionsmöglichkeiten ausrüstet, dann nimmt man damit Geheimdienstskandale und die Marginalisierung und Unterdrückung von Minderheiten und Andersdenkenden bis zu einem gewissen Grad in Kauf."
Statt zu versuchen, alle Möglichkeiten der autoritären Populisten rechtlich zu blockieren, schlägt Steinbeis eine Kosten-Nutzen-Abwägung vor. Ein Verbot von konsultaten Volksbefragungen in der Verfassung hält er für unbedenklich. Dagegen sei eine Beschneidung des Rechts von Abgeordneten, Anfragen an die Regierung zu stellen, viel zu wertvoll, um es zu beschneiden, auch wenn es teilweise missbraucht wird, um die Regierung unnötig zu beschäftigen.
Am wichtigsten ist Steinbeis aber der "zivile Verfassungsschutz" durch uns alle. Jeder soll an seinem Platz autoritären Tendenzen entgegentreten. Und wenn es sein muss, sollen wir alle auf die Straße gehen und für die Demokratie demonstrieren.
Die Korrektur der Vorschusslorbeeren
Steinbeis ist ein hervorragendes Buch gelungen. Komplizierteste Inhalte werden gut lesbar, knapp und dennoch korrekt dargestellt.
Der quantitative Schwerpunkt des Buches liegt allerdings in der Problembeschreibung und der Darstellung, was autoritäre Populisten machen könnten. Die im Untertitel erwähnten "Strategien gegen die populistische Übernahme" machen nur 30 Seiten aus, die aber überzeugend sind – gerade weil das mit viel Vorschusslorbeeren gestartete "Thüringen Projekt" – wie oben beschrieben – auf seine realistischen und sehr beschränkten Möglichkeiten reduziert wurde.
Maximilian Steinbeis: Die verwundbare Demokratie – Strategien gegen die populistische Übernahme, Hanser-Verlag, 304 Seiten, 25 Euro.
Resilienz der Demokratie: . In: Legal Tribune Online, 22.07.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/55052 (abgerufen am: 04.12.2024 )
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