Max Steller ist ein führender Rechtspsychologe und mahnt in seinem Buch "Nichts als die Wahrheit?" davor, dass "jeder unschuldig verurteilt werden kann". Sein Plädoyer für ideologiefreie Aussagepsychologie kommentiert Henning-Ernst Müller.
Max Steller ist einer der Rechtspsychologen, die die wissenschaftlich begründete Aussagepsychologie maßgeblich etabliert, fortentwickelt und in der forensischen Praxis fest verankert haben.
Er stand als Gutachter und als vortragender Wissenschaftler in den vergangenen Jahrzehnten mehrfach im Zentrum von in der Öffentlichkeit äußerst kontrovers diskutierten und damit von Zeitgeist und Rechtspolitik stark beeinflussten Vorgängen, die in Strafprozessen ausgehandelt wurden, darunter etwa der sogenannte Montessori-Prozess, die Wormser Prozesse und Missbrauchsvorwürfe gegen Geistliche in kirchlichen Institutionen.
Sein unter Mitwirkung von Shirley Michaela Seul entstandenes Sachbuch ist spannend geschrieben und vermittelt wie nebenbei eine Vielfalt von Informationen über rechtspsychologische Methoden und Erkenntnisse. Steller greift immer wieder auf Kriminalfälle aus seiner langjährigen Praxis zurück, um seine sachlichen, aber keineswegs trockenen Erörterungen nachvollziehbar zu machen – und, um damit seine deutlichen rechtspolitischen Forderungen zu untermauern.
Inhaltlich wird auf den knapp 290 Seiten eine Vielzahl von Einzelthemen aufgegriffen und erörtert, die nicht alle Gegenstand dieser Rezension sein können.
Die Aussage als Ausgangspunkt zur Ergründung der Wahrheit
Ausgangspunkt von Stellers Betrachtungen ist die Lehre von den Realkennzeichen, eine Grundhypothese der Aussagepsychologie, wonach sich durch Kennzeichen in der Aussage selbst die Wahrscheinlichkeit ihrer Wirklichkeitsbezogenheit ermitteln lässt. Damit einher geht die wissenschaftlich begründete Abkehr von äußeren "Lügenanzeichen" und allgemeinen Glaubwürdigkeitsaspekten bei der Beurteilung von Zeugenangaben. Zeugen sind trotz der Revolution des Sachbeweises in den vergangenen Jahrzehnten noch immer das wichtigste Beweismittel in vielen Strafprozessen.
Insbesondere in Konstellationen, in denen neben ihren Aussagen keine weiteren Beweismittel zur Verfügung stehen, kommt es entscheidend darauf an, ob das Gericht den Zeugen glaubt. Die dafür notwendige Einschätzung der Glaubhaftigkeit ihrer Aussagen ist eigentlich zentrale Aufgabe des Gerichts in der Beweiswürdigung. In alltäglichen Fällen gelingt dies, wenn auch mitunter mehr schlecht als recht. Juristen werden für diese Aufgabe jedoch nicht ausgebildet und greifen daher weitgehend auf "gesunden Menschenverstand" und ihre "Erfahrung" zurück. Rechtspsychologen werden nur in besonderen Situationen zur Glaubhaftigkeitsbegutachtung gerufen – vor allem dann, wenn Kinder als Zeugen gehört werden sollen sowie in Fällen, in denen es um Sexualdelikte geht.
Viele von Stellers Beispielen entsprechen diesem Muster: Es steht Aussage gegen Aussage. Entweder die von Zeugen erhobenen Vorwürfe treffen zu und dem Täter gebührt die angemessene Strafe oder sie treffen nicht zu und der zu Unrecht Beschuldigte muss auf die Erkenntnisfähigkeit von Gutachter und Gericht vertrauen.
Die Methode, die Steller als Aussagepsychologe verwendet, ist wissenschaftlich lauter und ideologiefrei, aber gleichwohl nicht unfehlbar: Auch die Anwendung aussagepsychologischer Methoden kann durchaus in entgegengesetzten Ergebnissen münden. Wie so häufig kommt es auch hier auf die individuelle Klasse und Expertise des Gutachters an. Nicht ganz überzeugend ist deshalb auch Stellers grundlegende Ablehnung der Glaubhaftigkeitsbeurteilung mittels Polygrafen, im Volksmund Lügendetektoren genannt. Auch diese ist zwar nicht unfehlbar, kann aber in einigen Fallkonstellationen durchaus hilfreich sein. Jüngere Studien aus der Zunft Stellers zeigen hierzu in eine deutlich andere Richtung als seine Kritik.
2/2: Psychotherapie kann Erinnerungen schaffen, statt sie zu finden
Besonders engagiert schreibt Steller gegen die immer wieder seine Gutachtenpraxis kreuzende Methode an, bei (mutmaßlichen) Opfern Erinnerungen an die Straftat mittels psychotherapeutischer "Aufdeckung" oder gar Hypnose zu erwecken. Denn die so emporgebrachten Gedanken können auch Schein- oder Zerrbilder des Erlebten sein, ohne dass das Opfer selbst ihre Unrichtigkeit erkennen könnte. Insbesondere hier zeigen sich die Grenzen der Beurteilung mittels Realkennzeichen, denn suggerierte oder vermeintlich wiedergefundene Erinnerungen können ähnlich detailreich sein wie echte. Da Zeugen unter ihrem Eindruck nicht bewusst lügen, sondern im Gegenteil von der Wahrheit ihres Vortrags überzeugt sind, ist ihnen mit den Methoden der Aussagepsychologie schwer beizukommen.
Stellers vorletztes Kapitel endet mit dem Satz: "Ich plädiere daher für eine Rückkehr zur Vernunft". Dieses "Plädoyer wider die Unvernunft" ist vor allem eines gegen den Einfluss von ideologisch geprägten Stimmungen im Strafprozess. Dem kann man gewiss nicht widersprechen: Zu allererst – vor der Bestimmung, ob es überhaupt ein Opfer und einen Täter gibt – muss es um die möglichst objektive Wahrheitsfindung im einzelnen Fall gehen. Es folgen Reformvorschläge, die diesem Zweck dienen sollen. So fordert Steller, Filmaufnahmen wichtiger Zeugenvernehmungen im Ermittlungsverfahren sowie ein Wortprotokoll der gerichtlichen Hauptverhandlung anfertigen zu lassen, damit eine spätere Beurteilung der Aussagen sich auf diese selbst und nicht auf eine von Ermittlungsbeamten und Richtern womöglich absichtslos entstellte Fassung stützt.
Von der Sorge, als "Täterschützer" zu gelten
Hart geht Steller auch mit der jüngeren Gesetzgebung zum Opferschutz ins Gericht. Er sieht sie als "Schaufensterpolitik" mit nachteiligen Folgen: Sowohl die angestrebte Vermeidung mehrfacher Vernehmungen als auch die Ausdehnung der Verjährungsfristen schadeten der Wahrheitsfindung. Es bestehe auch die Gefahr, dass künftig mehr Vorwürfe weit zurückliegender Straftaten auf Basis von Scheinerinnerungen laut würden, welche der Betreffende infolge versuchter psychotherapeutischer Aufdeckung imaginiert. Eine Gesetzgebung, die auf der Annahme beruhe, sexueller Missbrauch werde regelmäßig "vergessen" und erst viel später wieder erinnert, sei keineswegs vernünftig, denn, so zitiert er holländische Kollegen: "Missbrauch vergisst man nicht."
Steller antizipiert gegen Ende des Buches die Möglichkeit, als "Täterschützer" oder gar, entgegen der Ergebnisstatistik seiner Gutachten, als "Opfergegner" bezichtigt zu werden. Aber sein Plädoyer hält skeptischer Reflektion stand: Auch tatsächlichen Opfern schadet jeder Fall, in denen belastende Zeugenaussagen ohne kritische Prüfung zu irrtümlicher Untersuchungshaft, Anklage oder gar Verurteilung führen. Die von Steller geschilderten Justizkatastrophen aus den 1990er Jahre sind dafür ebenso mahnende Beispiele wie verschiedene Justizirrtümer der jüngeren Zeit. Auch wenn man, anders als der Rezensent, die rechtspolitischen Erwägungen Stellers nicht teilt, lohnt die Lektüre seines modernen und engagiert geschriebenen Sachbuchs schon um des seltenen Einblicks in die psychologische Gutachterpraxis willen.
Der Autor Prof. Dr. Henning Ernst Müller ist Inhaber des Lehrstuhls für Strafrecht, Kriminologie, Jugendstrafrecht und Strafvollzugsrecht an der Universität Regensburg.
Das Buch "Nichts als die Wahrheit?: Warum jeder unschuldig verurteilt werden kann" ist im Heyne Verlag, 2015 erschienen. ISBN: 978-3453200906
Prof. Dr. Henning Ernst Müller, Aussagepsychologe Max Steller warnt vor Fehlurteilen: Wahrheit, Wahn und Willkür . In: Legal Tribune Online, 17.10.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/17233/ (abgerufen am: 18.04.2024 )
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