Interdisziplinarität: Die "Bin­de­s­trich-Ehen" der Rechts­wis­sen­schaften

von Martin Rath

14.01.2018

Wirtschaftsjuristen, Rechtsinformatiker und –philosophen: Ein neues Buch über die Interdisziplinarität des Rechts regt dazu an, nicht immer nur von Juristen Kompetenz auf anderen Fachgebieten einzufordern, sondern auch umgekehrt.

Ob dieses Buch viele Leser ansprechen wird, mag bezweifelt werden, und sei es aufgrund seines Apothekenpreises von knapp 50 Euro für rund 150 Seiten: "Der Erkenntniswert von Rechtswissenschaft für andere Disziplinen".

Herausgebracht hat das Buch Markus Rehberg, Professor u. a. für Bürgerliches Recht, Rechtstheorie und Rechtsökonomik an der Universität Rostock. Der Sammelband vereint vier Beiträge von – vorsichtig gesagt – recht unterschiedlichem Gewicht, darunter eine für den nur juristisch geschulten Kopf wirklich harte Nuss aus dem Reich der Philosophie.

Nach so viel Vorschuss-Mäkelei fragt sich: Und wo bleibt das Positive an diesem Werk? – Sagen wir es einmal pathetisch: Bei allen Halbgöttern der Justiz, es regt zu einem beachtlichen Perspektivwechsel an!

Schlüsselgewalt über Wesenskern der Juristerei

Die Tatsache, dass die Welt gleich nach der Bitte um Gratis-Rechtsrat mit dem Wunsch an den Juristen herantritt, er möge sich über die Grenzen seines Faches hinaus schlau machen, begegnet bekanntlich bereits den Studenten in Gestalt der "Bindestrich"-Fächer.

Rechtsphilosophie und Rechtsgeschichte blicken hier auf eine lange akademische Tradition zurück. Mit der Soziologie und Informatik verband die Rechtswissenschaft in Deutschland dann seit den späten 1960er Jahren eine stürmische Hassliebe, die an vielen juristischen Fakultäten entsprechende Lehrstühle gebar.

Inzwischen sucht die akademische Rechtswissenschaft vermehrt das intellektuelle Konkubinat im Bindestrich mit den Wirtschaftswissenschaften. Womöglich werden es in einigen Jahren wieder Informatik und Kybernetik sein, durch die sich der Jurist einen erweiterten Blick auf die Welt verschaffen soll.

Bemerkenswert ist an all diesen akademischen Nähebeziehungen, wie Rehberg festhält, "dass auch jüngere Disziplinen wie die Psychologie, Soziologie, Informatik, Ökonomie oder Politikwissenschaft bisher nicht einmal ansatzweise das in ihrem Kern anzugreifen vermochten, was Juristen mit spezifisch juristischem Vorgehen täglich in Kanzleien, Gerichtsstuben, Ministerien oder Behörden praktizieren. Ganz gleich in welchem Land, herrscht in den Köpfen von Anwälten oder Richtern juristisches Denken und nicht etwa soziologisches, psychologisches oder ökonomisches."

Jurist bleibt Jurist

Dass die Juristen in der Ehe zwischen der Rechts- und der jeweiligen Bindestrichwissenschaft keinesfalls die Schlüsselgewalt aus der Hand geben, lässt sich nach der Darstellung von Rehberg und seiner vier Ko-Autoren u. a. auf die unterschiedlichen Bedürfnisse von Juristen, Natur- und Sozialwissenschaftlern an die Komplexität ihres jeweiligen intellektuellen Werkzeugs zurückführen.

"Da Recht notfalls mit Gewalt durchsetzbar ist, müssen die ihm zugrundeliegenden Annahmen verlässlich und seine Tatbestände ohne naturwissenschaftliche Ausbildung anwendbar sein", erklärt Ko-Autor Prof. Dr. Lorenz Kähler in seinem Beitrag über "Die asymmetrische Interdisziplinarität der Rechtswissenschaft". Daraus folge: "Komplexe Theorien und Vermutungen, die erst einer intensiven Forschung bedürfen, können daher in der rechtswissenschaftlichen Bearbeitung des Rechts nur begrenzt herangezogen werden. Richtern wie Rechtswissenschaftlern fehlt in aller Regel bereits die Qualifikation, um den neuesten Forschungsstand aus den Natur- wie Sozialwissenschaften zu verstehen und umzusetzen."

Entsprechend langsam griffen Recht und Rechtswissenschaft die fremden Erkenntnisse auf und vereinfachten sie dann auch noch derart, was frech hinzuzufügen ist, dass ihre Rezeption durch die Juristen unter den eigentlich berufenen Natur- und Sozialwissenschaftlern gelegentlich ungläubiges Kopfschütteln auslöst.

Weltoffenheit dank schlechtem Gewissen

Auf eine etwas behäbige Weise anschlussfähig bleiben, sich aber dabei nicht die intellektuelle Autonomie abschwatzen lassen wollen: Diese selbstbewusste Haltung gegenüber interdisziplinären Avancen hat die Wissenschaft vom Recht über die Jahrzehnte noch bei jeder neuen Beziehungskiste mit den späteren Bindestrichpartnern unter Beweis gestellt – ihr unveräußerlicher, wesenhafter Besitzstand heißt in der einschlägigen Diskussion vornehm auch das "Proprium der Rechtswissenschaft".

Dessen Verteidigung schleift sich auch im Verlauf der juristischen Basissozialisation bei nahezu jedem jungen Juristen ein, wenngleich oft wohl weniger durch intellektuelle Überzeugung vom Proprium als durch die Erfahrung der überwältigenden dogmatischen Komplexität, die es in den Examina zu bearbeiten gilt.

Das Stöhnen darüber sollte derweil den positiven Effekt nicht übertönen: Entwickeln Juristen ein schlechtes Gewissen dafür, nur eine normativ hohe Komplexität zu beherrschen, macht sie dies im Idealfall weltoffen. Dies erlaubte ihrem Fach, über die Jahrhunderte die Erkenntnisse anderer Disziplinen aufzugreifen, ohne in diesen aufzugehen.

Kein fremdes Interesse an der Rechtswissenschaft?

Vor dem Hintergrund, dass interdisziplinäre Neugier für den Juristen selbstverständlich ist, drehen Rehberg und seine Mitautoren nun den Spieß einmal um und fragen, auf welchen Wegen beziehungsweise mit welchem Ergebnis die Wissenschaft vom Recht ihrerseits andere Wissenschaften befruchtet hat oder dies noch leisten könnte.

An Antworten tasten sich in konkreten Gegenstandsbereichen Franz-Alois Fischer an einem Beispiel für die philosophische Rezeption des Rechts, Prof. Dr. Jens-Uwe Franck mit einem Aufsatz zur Bedeutung rechtlicher Expertise für die Industrieökonomie und Dr. Frieder Günther im Komplex "Zeitgeschichte und Recht" heran.

Der voraussetzungsvolle Beitrag Fischers zeigt, wie der in seinem Fach gegenwärtig offenbar weltberühmte US-Philosoph Robert Brandom (1950–) den Abstraktionshöhen der akademischen Philosophie durch Anreicherungen aus dem Recht entkommt.

Günther stellt u. a. anhand einer möglicherweise von Missverstand geprägten Kontroverse zwischen dem bedeutenden Sozialhistoriker Hans-Ulrich Wehler (1931–2014) und dem Juristen Dieter Grimm (1937–) heraus, wie wenig Platz die Vorstellung vom Eigensinn des Rechts in der in Deutschland wohl vorherrschenden sozialhistorischen Schule einnahm. 

Die Beiträge werben in den fremden Fächern dafür, sich bei ihren Untersuchungsgegenständen auf das – um es altertümlich zu sagen – wesenhaft Juristische einzulassen. Dass bei diesem Werben nicht damit zu rechnen ist, dass jede juristische Interpretationsschrulle auf neugierige Gegenliebe stoßen wird, erklärt Lorenz Kähler in seinem – über die genannten Beispielsfelder hinaus – übergreifenden Text zur "asymmetrischen Interdisziplinarität der Rechtswissenschaft" wie folgt:

"Sozialwissenschaftler interessieren sich, wenn überhaupt, nur für die rechtlichen Grundzüge eines Gebiets, da bereits diese genügen, um eine Verknüpfung mit ihren eigenen Theorien herzustellen. So mag die Soziologie Herrschaftsmechanismen erforschen, wie sie etwa in Arbeitsverhältnissen auftreten. Dafür können sie etwa auf die Möglichkeit einer Kündigung durch den Arbeitgeber verweisen, ohne dass es dafür darauf ankommt, in welcher Form und mit welcher Frist die Kündigung zu erfolgen hat. Ebenso mag die Besteuerung von Einkommen für Ökonomen von Interesse sein, ohne dass für sie im Detail interessant ist, ab wann ein Raum als Arbeitszimmer oder ein Pkw als privat genutzt gilt. Es ist daher nicht unbedingt fehlende intellektuelle Brillanz, welche die Aufnahme rechtswissenschaftlicher Theorien bremst, sondern die Relevanz ihrer Ergebnisse für andere Wissenschaften."

Grenzüberschreitende Juristen einbeziehen?

Auf die Frage, was und wie viel die Wissenschaft vom Recht anderen Wissenschaften mitteilen könnte, werden damit erste vorsichtige Antworten gegeben.

Noch spannender könnte dieser Perspektivwechsel auf die Mission des Rechts in den nicht abrechnungsfähigen Fragen der Außenwelt werden, würde in künftigen Studien der Frage nachgegangen, womit beispielsweise ihrem Fach entlaufene Juristen ihre jeweiligen Tätigkeitsgebiete bereichert haben.

Beispielsweise wurden die Grundlagen der sprachwissenschaftlich fundierten Afrikanistik im Deutschland der 1960er Jahre wesentlich von zwei Juristen, nicht etwa von primär linguistisch gebildeten Forschern gelegt.

Die äußerst einflussreiche Literatur- und Zeitkritik von Karl Kraus (1874–1934), war auf rechtsgelehrte Weise fundiert. Was daran mag dem "Proprium" zuzurechnen sein?

Oder man vergleiche die kirchentagskompatible Gesellschaftskritik des heutigen TV-Schöngeists und "Nur-Philosophen" Richard David Precht (1964–) mit jener des abgebrochenen Jurastudenten Erich Fromm (1900–1980), der ein ähnliches Publikum nur – möglicherweise – erheblich tiefschürfender ansprach. Ob Fromms Befähigung zum Gründlichersein aufs juristische Proprium zurückzuführen war?

Wenn schließlich Thomas Fischer (1953–) neben anderen den Gedanken äußerte, Recht an der Schule solle nicht als Rechtskunde vom Sozialkundelehrer mitunterrichtet werden, sondern die Fähigkeit vermitteln, in rechtlichen Bahnen zu denken, wäre zu fragen, wie dieser halb habituelle, halb intellektuelle Anspruch für die Lehrerausbildung zu formulieren wäre.

Einen Ansporn, die nötige Interdisziplinarität von Nichtjuristen zu verlangen, bietet:

Markus Rehberg (Hg.): Der Erkenntniswert von Rechtswissenschaft für andere Disziplinen. Wiesbaden (Springer Fachmedien) 2018, ISBN 978-3-658-18493-3 bzw. 978-3-658-18494-0 (eBook), 49,99 bzw. 39,99 Euro.

Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Ohligs bei Düsseldorf.

Zitiervorschlag

Martin Rath, Interdisziplinarität: Die "Bindestrich-Ehen" der Rechtswissenschaften . In: Legal Tribune Online, 14.01.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/26455/ (abgerufen am: 18.03.2024 )

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