Dieser Tage befassten sich der Bundesgerichtshof und der Zentralrat der Sinti und Roma in Deutschland mit der streckenweise schier unglaublichen Zigeuner-Rechtsprechung des höchsten deutschen Zivilgerichts in den fünfziger Jahren.
Die Menschen, die vor dem Bundesgerichtshof (BGH) ihr Recht suchten, hatten Auschwitz überlebt oder das kaum minder mörderische Konzentrationslager Mauthausen in Österreich, hatten ihre Familie verloren, waren an Seele und Körper geschädigt, des Vermögens und ihres bescheidenen Berufs beraubt. Doch weil sie als sogenannte Zigeuner einer Bevölkerungsgruppe angehörten, die von jeher in schlechtem Ansehen stand, verweigerte ihnen der BGH nicht nur weitgehend Leistungen nach dem Bundesentschädigungsgesetz (BEG).
Noch dazu erklärte das höchste deutsche Zivilgericht die Opfer des "Porajmos" – ein Romanes-Begriff für "Verschlingen", eine Entsprechung zur "Shoah" der jüdischen NS-Verfolgten – zu schlechthin kriminellen Wesen, deren Leid nicht der nationalsozialistischen Rassenpolitik, sondern kriminalpolizeilicher Präventionsarbeit und ihrem unseriösen Zigeunerleben geschuldet sei.
Deportation aus Gründen des Staatsschutzes
Am 17. Mai 1940 war die spätere Klägerin zusammen mit ihrem Mann aus Koblenz ins besetzte Polen verschleppt worden, wo sie bis zur Befreiung im Jahr 1945 insgesamt 56 Monate in Konzentrationslagern inhaftiert blieb. Entgegen der Rechtsauffassung des Landes Rheinland-Pfalz billigten ihr das Landgericht Trier und das Oberlandesgericht Koblenz zunächst eine Haftentschädigung für diesen Zeitraum zu, genau wie NS-Verfolgten anderer religiöser, ethnischer oder politischer Gruppen auch.
Zu Unrecht, wie der BGH in einem Urteil vom 7. Januar 1956 (Az. IV ZR 273/55) erklärte. Obwohl die Klägerin als "Zigeunerin" dem Deportationsbefehl zum Opfer gefallen sei, seien die ersten Jahre ihrer Lagerhaft nicht als nationalsozialistische Verfolgungsmaßnahme aus Gründen der Rasse zu bewerten, sondern als kriminalpolizeiliche Vorbeugungsmaßnahme. Diese sei zwar rechtsstaatlich fragwürdig gewesen, nicht aber entschädigungsfähig. Erst nachdem Heinrich Himmler (1900-1945), der SS- und Polizeichef, um den Jahreswechsel 1942/43 auch die Sinti und Roma zum Ziel seiner Mordpläne erklärt habe, sei – unter Umständen – von einer rassisch motivierten Verfolgung auszugehen.
BGH kannte rechtsstaatliches Kujonieren von Minderheit
Um zu dem Befund zu gelangen, die Verfolgung der Sinti und Roma sei zunächst nicht rassistisch bedingt gewesen, griff der BGH zu Argumenten, die für sich als rassistisch bezeichnet werden dürfen:
"Da die Zigeuner sich in weitem Maße einer Seßhaftmachung und damit der Anpassung an die seßhafte Bevölkerung widersetzt haben, gelten sie als asozial. Sie neigen, wie die Erfahrung zeigt, zur Kriminalität, besonders zu Diebstählen und Betrügereien, es fehlen ihnen vielfach die sittlichen Antriebe der Achtung vor fremdem Eigentum, weil ihnen wie primitiven Urmenschen ein ungehemmter Okkupationstrieb eigen ist […]. Sie wurden deshalb allgemein von der Bevölkerung als Landplage empfunden. Das hat die Staatsgewalt, wie schon erwähnt, veranlaßt, gegen sie vorbeugende Sondermaßnahmen zu ergreifen und sie auch in ihrer Freiheit besonderen Beschränkungen zu unterwerfen."
Bis es im Jahr 1942/43 dem NS-Politiker Himmler in den Kopf kam, "Zigeuner" auch wegen ihrer "Rasse" ermorden zu lassen, sei es gleichsam gute staatliche Praxis gewesen, solche als Angehörige einer ethnischen Gruppe Sondergesetzen zu unterwerfen, um "die übrige Gesellschaft von [sic!] ihren sozialschädlichen, auf eigentümlichen Gruppeneigenschaften beruhenden Handlungen zu bewahren."
BGH schaut Heinrich Himmler in den Kopf
Tatsächlich existierten seit der Zuwanderung von Sinti und Roma im 15. Jahrhundert zahllose Gesetze, die ihnen die Aufnahme in die ständische, dann die bürgerliche Gesellschaft weitgehend verweigerten, sie auf wenig angesehene und kaum lukrative Erwerbszweige verwiesen.
In der Zeit des Kaiserreichs und der Weimarer Republik war die "Bekämpfung der Zigeunerplage" Gegenstand einer deutschlandweiten, ja mitteleuropäisch koordinierten Polizeipolitik, begründet auf eine schon statistisch fragwürdige Behauptung, was den Beitrag von Gruppenzugehörigen zur Gesamtkriminalität betraf. In der Diktion des BGH heißt es: Weil "schon das Volk der Zigeuner in seinen Stämmen und Sippen als solches und seine Lebensweise (unstetes Umherziehen) den wirklich kriminellen Volkszugehörigen einen Rückhalt bietet und die Möglichkeit verschafft, sich der Strafverfolgung zu entziehen", seien Maßnahmen der kollektiven Überwachung aller (potenziellen) Zigeuner auch nach rechtsstaatlichen Maßstäben vertretbar.
Dieses Leitbild der rechtsstaatlich korrekten "Zigeuner"-Überwachung und -Verfolgung billigten die BGH-Richter auch dem NS-Staat so weit als irgend möglich zu. Hatte beispielsweise das Oberlandesgericht Koblenz eine "Zigeuner" und Juden gleichsetzende Sondergesetzgebung aus dem Jahr 1938 als Wechselpunkt vom rechts- zum mörderstaatlichen Rassismus anerkannt, wollte der BGH den Übergang von der seines Erachtens gebotenen "Bekämpfung der Zigeunerplage" zur illegitimen Verfolgungspraxis erst fünf Jahre später erkennen.
Dabei werfen die BGH-Richter ihren Kollegen vom OLG Koblenz vor, die Anweisungen Heinrich Himmlers nicht richtig verstanden zu haben, ihnen eine unzutreffende Auslegung "angedeihen" zu lassen: Das höchste deutsche Zivilgericht verteidigt den braun-esoterischen Wirrkopf Himmler davor, von einem Oberlandesgericht falsch verstanden zu werden. Viel tiefer kann Justiz nicht sinken.
2/2: Sterilisationsandrohung gegen Zigeuner geht in Ordnung
Auf den ersten Blick mag es Wunder nehmen, dass seinerzeit niemand den Bundesrichtern Schmidt, Ascher, Dr. Kregel, Dr. von Werner und Wüstenberg zumindest rhetorisch die Roben über die Ohren gezogen hat, zumal dem häufiger zitierten Urteil vom 7. Januar 1956 kaum weniger krude Entscheidungen folgten. Allzu schnell waren die Land- und Oberlandesgerichte den zigeunerfeindlichen Vorgaben aus Karlsruhe nicht gefolgt. Beispielsweise hatte das OLG Köln 1959 in einer Anordnung Himmlers, aus den Deportationsgebieten nach Deutschland zurückkehrenden "Zigeunern" mit der Zwangssterilisierung zu drohen, den Beginn rechtsstaatswidriger Verfolgungen auf das Jahr 1940 datiert.
Der vierte Zivilsenat des BGH erklärte den Kölner Richtern, damit falsch zu liegen. Bei der Androhung, zwangssterilisiert zu werden, habe es sich "ebenso wie bei der Androhung einer Verbringung in ein Konzentrationslager nur um ein Mittel" gehandelt, "die deportierten Zigeuner möglichst wirksam von einem Verlassen ihres Deportationsortes abzuhalten. Eine solche Androhung diente daher ausschließlich demselben Zweck, der mit der Deportation erreicht werden sollte, nämlich im militärischen und sicherheitspolitischen Interesse das ungeregelte Umherziehen der Zigeuner zu unterbinden." (BGH, Urt. v. 30.10.1959, Az. IV ZR 144/59). Die Deportation des Klägers, eines um seine bescheidene Existenz als kleiner Textilhändler gebrachten "Zigeuner", erklärte der BGH unter anderem aus Gründen der Spionageabwehr für gerechtfertigt.
Bayern, ewig von Migration bedroht
Bei Licht betrachtet fällt die heute eher befremdlich wirkende BGH-Rechtsprechung, die "Zigeunern" eine Wiedergutmachung weitgehend verweigerte, weniger aus dem Rahmen. Bereits vor Gründung der Bundesrepublik strebten Polizeibehörden und Landespolitiker danach, die zigeunerfeindliche Verwaltungspraxis und Gesetzgebung der Jahre vor 1933 alsbald wieder zu etablieren. Unsicherheit bestand zunächst insoweit, ob die alliierten Besatzungsmächte es beispielsweise mittrügen, wenn örtliche Dienststellen "Zigeuner" nach alter Verwaltungstradition zum Weiterziehen zwingen würden.
In einer Reihe der späteren Bundesländer wurden zentrale Zigeuner-Karteien geführt, über Geburten, Heiraten oder Todesfälle von Landfahrern ohne festen Wohnsitz hatten die Standesämter weiterhin den Polizeidienststellen unverzüglich Meldung zu machen. In den Landeskriminalämtern sowie beim Bundeskriminalamt befassten sich weiterhin Beamte damit, Stammbäume von "Zigeunern" zu zeichnen, um schon Säuglinge als spätere Tatverdächtige zu erfassen.
Das kurzfristig unter SPD-Beteiligung regierte Bayern erließ am 22. Dezember 1953 die sogenannte Landfahrerordnung. Die bayerischen Politiker vermieden in diesem Gesetz, das Menschen mit nomadischer Lebensweise den jeweiligen örtlichen Aufenthalt madig machen sollte, zwar das Wort "Zigeuner", weil sie in einer frühen Form verdrehter "political correctness" annahmen, so das Verbot rassischer Differenzierung nach Artikel 3 Absatz 3 Grundgesetz unterlaufen zu können. Die Rede war nun von "Landfahrerfamilien oder -horden", deren strikte Überwachung das bayerische Innenministerium der Polizei aufgab.
Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, hieß es aber in den Ausführungsbestimmungen: "Für die Feststellung der Landfahrereigenschaft ist die nomadisierende Lebensweise entscheidend, die sich darin äußert, daß eine Person ohne festen Wohnsitz oder trotz eigenen Wohnsitzes nicht nur vorübergehend nach Zigeunerart unstet im Lande umherzieht." Die Landfahrerordnung blieb bis 1970 bayerisches Recht.
Kriminalstatistik belegt Polizeiwahn
In anderen Bundesländern wurde die bayerische Gesetzgebung zwar als vorbildlich wahr-, aber nicht übernommen. Eine bundeseinheitliche Anti-Zigeunerpolitik entfiel, weniger mit Blick aufs Grundgesetz als in die Statistik: 1954 wurden bundesweit 1.743 Sinti und Roma unter 1,1 Millionen Tatverdächtigen identifiziert – zu wenige, als dass man ungestört wieder in alte Polizeipraktiken hätte zurückfallen können.
Ein Verzicht auf Restriktionen ging damit nicht einher. In Nordrhein-Westfalen forcierte beispielsweise seit 1954 die Landesregierung eine Verwaltungspraxis, Sinti und Roma die deutsche Staatsangehörigkeit abzuerkennen, indem von ihnen ein detaillierter Dokumentennachweis verlangt wurde, zu Recht im Besitz eines deutschen Reisepasses zu sein. In den Entschädigungsämtern und Polizeibehörden griff man auf die Expertise von Beamten zurück, die bereits vor 1945 an der Verfolgung von Sinti und Roma beteiligt gewesen waren.
Erst in den achtziger Jahren gerieten die systematische Erfassung und mehr als nur gelegentliche Schikane gegen "Zigeuner" seitens der Polizeibehörden verstärkt ins Augenmerk der liberalen Öffentlichkeit. In Hamburg entdeckte man beispielsweise 1981, dass schon ein sechs Monate altes Kind aus einer Sinti-Familie als Gefahrenquelle polizeilich erfasst wurde. Vor dem BKA-Gebäude in Wiesbaden demonstrierten 1983 Sinti und Roma dagegen, dass in der damals vorwärts schreitenden polizeilichen Datenerfassung das Merkmal "ZN" für "Zigeunername" fortgesetzt würde, eine klassische Vorgehensweise zigeunerfeindlicher Polizeiarbeit.
Spätestens in den 1990er Jahren ist die Aufnahme der Sinti und Roma in das staatsoffizielle Gedenken an die NS-Mordpraxis erfolgt, der BGH distanziert sich heute von seiner kruden Rechtsprechung der 1950er Jahre.
Ob damit den Lebenden geholfen ist, steht, wie immer, auf einem anderen Blatt.
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Ohligs bei Solingen.
Martin Rath, Von Landfahrern und Zwangsvasektomie: "Zigeuner" vor dem Bundesgerichtshof . In: Legal Tribune Online, 21.02.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/18532/ (abgerufen am: 25.04.2024 )
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