Von Landfahrern und Zwangsvasektomie: "Zigeuner" vor dem Bun­des­ge­richtshof

von Martin Rath

21.02.2016

Dieser Tage befassten sich der Bundesgerichtshof und der Zentralrat der Sinti und Roma in Deutschland mit der streckenweise schier unglaublichen Zigeuner-Rechtsprechung des höchsten deutschen Zivilgerichts in den fünfziger Jahren.

Die Menschen, die vor dem Bundesgerichtshof (BGH) ihr Recht suchten, hatten Auschwitz überlebt oder das kaum minder mörderische Konzentrationslager Mauthausen in Österreich, hatten ihre Familie verloren, waren an Seele und Körper geschädigt, des Vermögens und ihres bescheidenen Berufs beraubt. Doch weil sie als sogenannte Zigeuner einer Bevölkerungsgruppe angehörten, die von jeher in schlechtem Ansehen stand, verweigerte ihnen der BGH nicht nur weitgehend Leistungen nach dem Bundesentschädigungsgesetz (BEG).

Noch dazu erklärte das höchste deutsche Zivilgericht die Opfer des "Porajmos" – ein Romanes-Begriff für "Verschlingen", eine Entsprechung zur "Shoah" der jüdischen NS-Verfolgten – zu schlechthin kriminellen Wesen, deren Leid nicht der nationalsozialistischen Rassenpolitik, sondern kriminalpolizeilicher Präventionsarbeit und ihrem unseriösen Zigeunerleben geschuldet sei.

Deportation aus Gründen des Staatsschutzes

Am 17. Mai 1940 war die spätere Klägerin zusammen mit ihrem Mann aus Koblenz ins besetzte Polen verschleppt worden, wo sie bis zur Befreiung im Jahr 1945 insgesamt 56 Monate in Konzentrationslagern inhaftiert blieb. Entgegen der Rechtsauffassung des Landes Rheinland-Pfalz billigten ihr das Landgericht Trier und das Oberlandesgericht Koblenz zunächst eine Haftentschädigung für diesen Zeitraum zu, genau wie NS-Verfolgten anderer religiöser, ethnischer oder politischer Gruppen auch.

Zu Unrecht, wie der BGH in einem Urteil vom 7. Januar 1956 (Az. IV ZR 273/55) erklärte. Obwohl die Klägerin als "Zigeunerin" dem Deportationsbefehl zum Opfer gefallen sei, seien die ersten Jahre ihrer Lagerhaft nicht als nationalsozialistische Verfolgungsmaßnahme aus Gründen der Rasse zu bewerten, sondern als kriminalpolizeiliche Vorbeugungsmaßnahme. Diese sei zwar rechtsstaatlich fragwürdig gewesen, nicht aber entschädigungsfähig. Erst nachdem Heinrich Himmler (1900-1945), der SS- und Polizeichef, um den Jahreswechsel 1942/43 auch die Sinti und Roma zum Ziel seiner Mordpläne erklärt habe, sei – unter Umständen – von einer rassisch motivierten Verfolgung auszugehen.

BGH kannte rechtsstaatliches Kujonieren von Minderheit

Um zu dem Befund zu gelangen, die Verfolgung der Sinti und Roma sei zunächst nicht rassistisch bedingt gewesen, griff der BGH zu Argumenten, die für sich als rassistisch bezeichnet werden dürfen:

"Da die Zigeuner sich in weitem Maße einer Seßhaftmachung und damit der Anpassung an die seßhafte Bevölkerung widersetzt haben, gelten sie als asozial. Sie neigen, wie die Erfahrung zeigt, zur Kriminalität, besonders zu Diebstählen und Betrügereien, es fehlen ihnen vielfach die sittlichen Antriebe der Achtung vor fremdem Eigentum, weil ihnen wie primitiven Urmenschen ein ungehemmter Okkupationstrieb eigen ist […]. Sie wurden deshalb allgemein von der Bevölkerung als Landplage empfunden. Das hat die Staatsgewalt, wie schon erwähnt, veranlaßt, gegen sie vorbeugende Sondermaßnahmen zu ergreifen und sie auch in ihrer Freiheit besonderen Beschränkungen zu unterwerfen."

Bis es im Jahr 1942/43 dem NS-Politiker Himmler in den Kopf kam, "Zigeuner" auch wegen ihrer "Rasse" ermorden zu lassen, sei es gleichsam gute staatliche Praxis gewesen, solche als Angehörige einer ethnischen Gruppe Sondergesetzen zu unterwerfen, um "die übrige Gesellschaft von [sic!] ihren sozialschädlichen, auf eigentümlichen Gruppeneigenschaften beruhenden Handlungen zu bewahren."

BGH schaut Heinrich Himmler in den Kopf

Tatsächlich existierten seit der Zuwanderung von Sinti und Roma im 15. Jahrhundert zahllose Gesetze, die ihnen die Aufnahme in die ständische, dann die bürgerliche Gesellschaft weitgehend verweigerten, sie auf wenig angesehene und kaum lukrative Erwerbszweige verwiesen.

In der Zeit des Kaiserreichs und der Weimarer Republik war die "Bekämpfung der Zigeunerplage" Gegenstand einer deutschlandweiten, ja mitteleuropäisch koordinierten Polizeipolitik, begründet auf eine schon statistisch fragwürdige Behauptung, was den Beitrag von Gruppenzugehörigen zur Gesamtkriminalität betraf. In der Diktion des BGH heißt es: Weil "schon das Volk der Zigeuner in seinen Stämmen und Sippen als solches und seine Lebensweise (unstetes Umherziehen) den wirklich kriminellen Volkszugehörigen einen Rückhalt bietet und die Möglichkeit verschafft, sich der Strafverfolgung zu entziehen", seien Maßnahmen der kollektiven Überwachung aller (potenziellen) Zigeuner auch nach rechtsstaatlichen Maßstäben vertretbar.

Dieses Leitbild der rechtsstaatlich korrekten "Zigeuner"-Überwachung und -Verfolgung billigten die BGH-Richter auch dem NS-Staat so weit als irgend möglich zu. Hatte beispielsweise das Oberlandesgericht Koblenz eine "Zigeuner" und Juden gleichsetzende Sondergesetzgebung aus dem Jahr 1938 als Wechselpunkt vom rechts- zum mörderstaatlichen Rassismus anerkannt, wollte der BGH den Übergang von der seines Erachtens gebotenen "Bekämpfung der Zigeunerplage" zur illegitimen Verfolgungspraxis erst fünf Jahre später erkennen.

Dabei werfen die BGH-Richter ihren Kollegen vom OLG Koblenz vor, die Anweisungen Heinrich Himmlers nicht richtig verstanden zu haben, ihnen eine unzutreffende Auslegung "angedeihen" zu lassen: Das höchste deutsche Zivilgericht verteidigt den braun-esoterischen Wirrkopf Himmler davor, von einem Oberlandesgericht falsch verstanden zu werden. Viel tiefer kann Justiz nicht sinken.

Zitiervorschlag

Martin Rath, Von Landfahrern und Zwangsvasektomie: . In: Legal Tribune Online, 21.02.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/18532 (abgerufen am: 09.10.2024 )

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