Russell-Tribunale zu Menschenrechtsverletzungen: Zwi­schen Grusel-Rhe­torik und Bür­ger­sinn

von Martin Rath

11.12.2022

Ihre Gegner hielten sie für kommunistische Propagandaforen, auch ihre Freunde erkannten den liberalen Kern oft nicht: Seit Mitte der 1960er Jahre verhandelten die Russell-Tribunale zu teils gravierenden Menschenrechtsverletzungen.

Eine Geschichte zur Insel Bubaque vor der Küste des westafrikanischen Kleinstaates Guinea-Bissau macht klar, was in den 1970er Jahren eine lautstarke politische Minderheit von ihrem Staat hielt – und der Staat von ihr.

Der im Münster lehrende Soziologe und Ethnologe Christian Sigrist (1935–2015) hielt sich seinerzeit zu Forschungszwecken in Guinea-Bissau auf und sprach in Telefonaten häufiger von seinem entwicklungssoziologischen "Bubaque-Projekt".

Dieses Wort habe – wie sich einer der Schüler des Soziologen erinnert – nach der Ermordung von Generalbundesanwalt Siegfried Buback (1920–1977) durch Angehörige der "Rote Armee Fraktion" im April 1977 die besondere Aufmerksamkeit des Verfassungsschutzes erregt – abgehört worden sei Sigrist wegen seiner radikal linken politischen Positionen und unterstellten RAF-Nähe ohnehin.

Routinierte Strafverfahren wegen Verunglimpfung des Staates

Einen Anlass zu vielen Verfahren, die neben Sigrist auch den Romanisten Gerhard Schneider (1935–) und weniger bekannte Beschuldigte betrafen, gab z. B. der Tod von Günter Routhier (1928–1974), eines Frührentners, der als frischgebackenes Mitglied einer der zahllosen kommunistischen Kleinparteien (KPD/ML) an einem Verfahren vor dem Arbeitsgericht Duisburg teilgenommen und möglicherweise bei der Räumung des voll besetzten Gerichtssaals durch die Polizei eine tödliche Verletzung erlitten hatte.

Gegen die u. a. in Flugblättern verbreitete Behauptung, die Polizisten hätten Routhier ermordet – regelmäßig kombiniert mit weiterer Polemik zu einem grassierenden Faschismus in Staat und Gesellschaft der Bundesrepublik – ging die Duisburger Behörde entschieden vor. Es kam zu einer ganzen Reihe von Verfahren wegen Beleidigungsdelikten, §§ 185 ff. Strafgesetzbuch (StGB) und wegen Verunglimpfung des Staates und seiner Symbole, § 90a StGB.

Den Soziologieprofessor verfolgte die amtliche Aufmerksamkeit nicht nur auf die ferne Insel Bubaque. Im Oktober 1978 berichtete der "Spiegel" davon, dass Sigrist vom Amtsgericht Münster wegen Beleidigung und Verunglimpfung des Staates zu einer Geldstrafe von 5.400 Mark verurteilt worden sei, weil er zwei Jahre zuvor bei einer Podiumsdiskussion in Stockholm von einer "faschistischen Praxis der Berufsverbote" gesprochen und den westdeutschen Staat "eine mörderische Bestie" genannt habe.

Vorgänge wie dieser waren Gegenstand des dritten sogenannten "Russell-Tribunals" von 1978/79. Doch zunächst der Reihe nach. 

1. Russell-Tribunal zu Vietnam trifft drastisches Urteil

Als Enkel eines Premierministers, aus geadelter Familie, als Mathematiker und Philosoph, Professor in Cambridge war Bertrand Russell (1872–1970) wohl prädestiniert, radikale Ideen mit einer gewissen Selbstsicherheit zu vertreten. So hatte er wegen einer pazifistischen Publikation während des Ersten Weltkriegs rund ein halbes Jahr in – relativ komfortabler – Haft zugebracht. 1948 sprach er sich dagegen einmal dafür aus, die westlichen Mächte sollten einen präventiven Atomkrieg gegen Stalins Sowjetunion führen. Mal zweifelte die Presse im Osten, mal im Westen an Russells Verstand.

Seit den 1950er Jahren äußerte sich Lord Russell wieder verstärkt pazifistisch und initiierte 1966 ein – nach heutigen Begriffen "zivilgesellschaftliches" – Verfahren zur Dokumentation, Untersuchung und Verurteilung von namentlich US-amerikanischen Kriegsverbrechen in Vietnam.

Einerseits wurde mit aller Gutherzigkeit des Gelehrten und britischen Lords auch die amerikanische Regierung eingeladen, sich an der Beweisfindung zu beteiligen, andererseits wurde die "Jury" des 1. Russell-Tribunals nahezu ausschließlich aus radikal linken Intellektuellen und Juristen gebildet. Ihr gehörten etwa der französische Philosoph Jean-Paul Sartre (1905–1980), der amerikanische Schriftsteller James Baldwin (1924–1987) oder der deutsche Juraprofessor Uwe Wesel (1933–) an.

Nach zwei mehrtägigen Sitzungen in Stockholm und im dänischen Roskilde – der französische Präsident Charles de Gaulle hatte eine Tagung in Paris unterbunden – war das 1. Russell-Tribunal nicht nur zu belastbaren Aussagen zu amerikanischen Kriegsverbrechen in Vietnam gekommen, sondern hatte auch einstimmig das Verdikt ausgesprochen, die US-Regierung habe sich dort eines Völkermords schuldig gemacht. Das drastische Wort lag damals überraschend leicht auf der Zunge.

3. Russell-Tribunal zur Situation der Menschenrechte in der Bundesrepublik 

Weniger überraschend nahm man das Russell-Tribunal in den USA als irgendwie europäische und sehr ausschließlich linksradikale Veranstaltung wahr. Immerhin war die öffentliche Kommunikation insoweit weniger verroht als heute, als es nicht völlig ignoriert wurde – beispielsweise wirkte die US-Regierung auf einige prominente afrikanische Politiker ein, sich nicht zu beteiligen.

Das 2. Russell-Tribunal, 1973 bis 1976, zu Menschenrechtsverletzungen in Südafrika und Lateinamerika – namentlich nach dem Putsch vom 11. September 1973 in Chile – änderte an dieser Wahrnehmung nichts.

Entsprechend traf auch das Ansinnen, ein drittes Tribunal zur Lage der Menschenrechte in der Bundesrepublik Deutschland und in Berlin (West) zu veranstalten, auf keine allzu wohlgesonnene Öffentlichkeit. Allerdings konnte die SPD-/FDP-Bundesregierung Helmut Schmidts (1918–2015) die Vorgänge auch nicht ignorieren, weil unter anderem die Jungsozialisten unter Gerhard Schröder (1944–) mit dem Gedanken spielten, sich am Tribunal zu beteiligen und sich über 5.000 Unterstützer fanden, die bereit waren, die Organisation mit mindestens 25 Mark Beitrag in Gang zu bringen.

Unter den seit dem KPD-Verbotsurteil völlig zersplitterten linksradikalen Gruppen löste die Aussicht auf das Tribunal eine fiebrige Diskussionsfreude aus – natürlich auch Anlässe, sich erneut zu spalten. Während die einen anstrebten, die Bundesrepublik als "faschistisch" und "repressiv" abzuurteilen, rang sich eine gemäßigtere Fraktion, die ihre Marx- und Hegel-Lektüre ein wenig anders interpretierte, dazu durch, die Grund- und Menschenrechte entweder als bürgerliche Errungenschaft anzuerkennen oder doch wenigstens als notwendiges taktisches Mittel auf dem Weg zum einzig wahren Sozialismus.

Diskussionspapiere aus dieser Zeit enthalten eine beeindruckende Mischung aus Größenwahn und Rabulistik – und, wie schon angedeutet, eine recht eigenwillige Perspektive auf Staat und Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland.

Um sich nicht ganz unmöglich zu machen – am Ende sollte es ja darum gehen, außerhalb der linksradikalen Sektenlandschaft Gehör zu finden –, beschränkte sich das 3. Russell-Tribunal schließlich auf folgende Fragen:

"Wird Bürgern der Bundesrepublik aufgrund ihrer politischen Überzeugungen das Recht verwehrt, ihren Beruf auszuüben? 

- Wird durch straf-, zivilrechtliche Bestimmungen und durch außerrechtliche Maßnahmen Zensur ausgeübt? 

- Werden Grund- und Menschenrechte im Zusammenhang von Strafverfahren ausgehöhlt oder eliminiert?" 

Beweisaufnahme fiel sachlicher aus, als von den Gegnern erwartet

Wenngleich der "Jury" eine Reihe von Menschen angehörte, die um drastische Urteile nie verlegen waren – etwa der stark zur Selbstüberhöhung und zum apokalyptischen Denken neigende Philosoph Günther Anders (1902–1992), der norwegische Soziologe Johan Galtung (1930–), Urheber des heute so überspannten Begriffs der "strukturellen Gewalt", oder der radikale portugiesische Offizier Otelo Saraiva de Carvalho (1936–2021), der noch auf seine alten Tage von einem linken Putsch träumte – sollte ihr Urteil auf eine eher harmlose Kritik hinauslaufen.

Abgesehen von den bis heute oft sogenannten "Berufsverboten", also der in den 1970er Jahren mitunter überharschen Prüfung von Bewerbern und Beschäftigten des öffentlichen Dienstes auf ihre Haltung zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung, blieben im Wesentlichen strukturell-diffuse oder Kritikpunkte übrig, deren Auswirkungen noch nicht gut abzuschätzen waren.

Unter dem Vorwurf der Zensur wurde etwa ein Anliegen des CDU-Bundestagsabgeordneten und späteren Bundesverfassungsrichters Hans Hugo Klein (1936–) aufgegriffen, der sich um linksradikale Tendenzen beim WDR besorgt geäußert hatte – wegen der Beschäftigung des Historikers Hannes Heer (1941–), der in den 1990er Jahren durch die Ausstellung zu Verbrechen der Wehrmacht bekannt werden sollte.

Neben sozialpsychologischen Erwägungen zum Phänomen der Selbstzensur, gutachterlich vorgetragen u. a. vom Psychologen Klaus Horn (1934–1985), lag auch eine eher kuriose Übersicht aus Gewerkschaftskreisen vor – als "Zensur" galt hier sogar schon das Absetzen eines Fernsehfilms zu einer Entführung, nachdem soeben eine Geiselnahme durch die RAF ein blutiges Ende gefunden hatte.

Schwerer wog bei der Auseinandersetzung mit Zensur und Selbstzensur die Frage, wie sich die durchaus eifrige Einleitung von Verfahren wegen Verunglimpfung des Staates und seiner Symbole, § 90a StGB, auf den journalistischen und publizistischen Meinungskorridor auswirkte.

Als Zeugen bzw. Gutachter angehörte Strafverteidiger wie Sebastian Cobler (1948–1989) oder Otto Schily (1932–) äußerten sich unter anderem zu den als obrigkeitstreu wahrgenommenen Ehrengerichtsverfahren gegen ihresgleichen oder zu der 1979 reformierten Regelung der Beweisaufnahme, § 245 Strafprozessordnung.

Sachlicher Anteil: Gegenstand für alte Liberale

In vielfacher Hinsicht ging es beim 3. Russell-Tribunal also um Sachverhalte, derer sich auch Regierung, Verwaltung und Parlament eines Staates freier und gleicher Bürgerinnen und Bürger annehmen müssen, wenn sie ernst genommen werden wollen.

Mehr als eine "Verhöhnung" der Bundesrepublik Deutschland durch das "Scheinverfahren" des Russell-Tribunals wollte die SPD-/FDP-Bundesregierung jedoch nicht sehen, wie sie in ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage der CDU/CSU-Bundestagsfraktion erklärte (Drucksache 8/1205). Politisches Künstlerpech: Auch weil sie sich trotz der im Kern bürgerlichen Anliegen hier mit der außerparlamentarischen Opposition nicht befassten, handelten sich diese Parteien 1983 "Die Grünen" als Parlamentskollegen ein.

Jürgen Habermas (1929–) fragte bereits 1978 treffend: "Warum haben wir ein Russell-Tribunal nötig; warum sind die Liberalen im Lande nicht selber Manns genug, die Prinzipien zu schützen, für die sie angetreten sind?"

Dass es vielen heute schwer fällt, aus Ad-hominem-Polemiken heraus- und in eine sachliche Diskussion hineinzukommen, ist angesichts der digitalisierten Medien noch nachvollziehbar. Bedauerlich ist aber, dass die damals halbwegs geordnete und gesittete Gesellschaft der Tageszeitungen und Diskussionsbroschüren, des Parlaments und der zweieinhalb Fernseh-Vollprogramme nicht mehr zu einer prinzipiengeleiteten altliberalen Auseinandersetzung über die Menschen- und Bürgerrechte zurückfand.

Einer von vielen Nebenbefunden: John Shattuck (1943–), der seinerzeit als Anwalt der American Civil Liberties Union in der Stadthalle von Köln-Mülheim zu Tendenzen in der westlichen Geheimdienst-Gesetzgebung berichtete, sollte unter US-Präsident Bill Clinton führend an der Einrichtung der UN-Tribunale zu Verbrechen in Ex-Jugoslawien und Ruanda mitwirken.

Sogar in den USA, die in den Russell-Tribunalen notorisch hart angegangen wurden, scheint die Idee auf keinen ganz fruchtlosen Boden gefallen zu sein.

Zitiervorschlag

Russell-Tribunale zu Menschenrechtsverletzungen: Zwischen Grusel-Rhetorik und Bürgersinn . In: Legal Tribune Online, 11.12.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/50421/ (abgerufen am: 20.04.2024 )

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