Eine aktuelle Studie der Bertelsmann-Stiftung zeigt, dass Deutschland in punkto sozialer Gerechtigkeit nur im traurigen Mittelfeld der OECD-Länder liegt. Verschärft hat sich die Ungleichheit in der Einkommensverteilung. Ob sich die Staatslehrer darüber den dogmatischen Kopf zerbrechen müssen? Vielleicht liegt ja "nur" ein Wahrnehmungsproblem vor, meint Martin Rath.
Das Dogma wird nicht übertrieben oft diskutiert, eine Studie aus Gütersloh könnte immerhin einladen, langsam damit anzufangen: Ein gewisses Maß an sozialer Gleichheit soll ja, so liest man, zu den Voraussetzungen einer funktionsfähigen Demokratie zählen. Das ist wohl die Meinung vieler Staats- und Verfassungstheoretiker – wenn auch nicht aller. Dank ihres guten Nervenkostüms – und historischer Erfahrung – neigen sie nicht dazu, den Notstand vorschnell auszurufen, auch wenn die empirischen Zahlen zur Verteilung von Chancen und Risiken in der Gesellschaft Anlass zu richtig schlechter Stimmung geben.
Soweit ist es zwar noch nicht. Aber ein wenig Stirnrunzeln manch staatstragenden Kopfes wäre seit vergangener Woche gleichwohl angebracht: Die neue Bertelsmann-Studie "Soziale Gerechtigkeit in der OECD – Wo steht Deutschland?" belegt, dass man sich über den Zustand der deutschen Gesellschaft durchaus Sorgen machen darf. Vor allem, wo doch der wundeste Punkt der sozialen Anatomie besonders betroffen ist, das Portemonnaie. Die Einkommensverteilung krankt seit Jahrzehnten an schleichendem Gerechtigkeitsschwund.
Ob soziale Gerechtigkeit – als momentan politisch weniger phrasenstrapaziertes Wort böte sich noch "Wohlstand" an – zu den Voraussetzungen einer funktionsfähigen Demokratie zählt, und wenn ja, in welchem Maße, darüber grübeln juristische und philosophische Staatstheoretiker schon seit langem – im Grunde seit den Zeiten des beliebten antiken Philosophen Aristoteles.
Ein Blick in heutige juristische Fachmagazine zeigt, dass diese Frage – wenn überhaupt – mit ideengeschichtlich-dogmatischen Argumenten diskutiert wird. Statistisches Zahlenmaterial und seine sozialstatistische Bewertung scheinen kaum eine Rolle zu spielen. Wohin das führt, soll anhand der Mannheimer Antrittsvorlesung des heute in Köln lehrenden Juraprofessors Otto Depenheuer und einem jüngeren Aufsatz seiner soeben ins Straßburger Richteramt gewechselten Kollegin Angelika Nußberger illustriert werden.
Möglicherweise liegt der Teufel des Details aber nicht in der ideengeschichtlich-dogmatischen Diskussion, sondern im toten Winkel einer ökonomisch-psychologischen Bewusstheitsträgheit. Ob letztere geeignet ist, ein wenig runzelnde Aufmerksamkeit auf die zuständige Staats(rechts)lehrer-Stirn zu furchen, will daher auch untersucht sein.
Vorläufige Entwarnung: Deutschland im Mittelfeld
Doch bevor der Teufel im ökonomisch-psychologischen Detail besucht wird, zunächst eine kleine Entwarnung. Ganz so schlimm, wie man es beim Blick ins je eigene Portemonnaie vielleicht zu tun geneigt ist, beschreibt die Studie "Soziale Gerechtigkeit in der OECD – Wo steht Deutschland?" die Lage nicht: Deutschland rangiert im Vergleich von 31 OECD-Staaten im Mittelfeld.
Das ist kein Anlass zum Jubeln, die Sieger in Sachen sozialer Gleichheit sehen anders aus. Aber von der grotesken gesellschaftlichen Ungleichheit, in der Milliarden Menschen außerhalb der relativ reichen OECD-Länder leben müssen, sind die deutschen Verhältnisse natürlich weit entfernt.
Unabhängig vom juristisch-staatstheoretischen Hautgout laden die Zahlen der Forscher aus Gütersloh also nicht zu dringenden juristischen Notfallplanungen ein. Die Bertelsmann-Studie bewertet die soziale Gerechtigkeit in den 31 Staaten in fünf Hauptkategorien: Armutsvermeidung, Bildungszugang, Arbeitsmarktinklusion, "soziale Kohäsion und Gleichheit" sowie Generationengerechtigkeit.
Wohltuend vom tagespolitischen Schlagabtausch unterscheidet sich die Studie durch valides Material. Ihre Zahlen gelten als länderübergreifend vergleichbar, einigermaßen objektiv. Nur in manchen Unterkategorien wird qualitativ bewertet. Beispielsweise wurden Expertenurteile zur politischen Leistung in Sachen nachhaltiger Rohstoff- und Umweltnutzung herangezogen, um die Unterkategorie "Umweltpolitik" mit qualitativen Zahlenwerten zu füllen – sie fließen in die länderübergreifende Beurteilung der "Generationengerechtigkeit" ein.
Insgesamt überwiegen jedoch die objektiv leistungsfähigeren quantitativen Daten in der Bertelsmann-Studie, die jeweils in einer Skala von schlecht nach gut – von "1 bis 10" – anschaulich gemacht werden. Bei der Gesamtwertung rangiert Deutschland im Feld der 31 OECD-Staaten auf dem mittleren 15. Platz. Führend im Gütersloher Gerechtigkeitsindex sind, wie zu erwarten, Island, Dänemark und Norwegen. Das Schlusslicht hält die Türkei.
Vergleichsweise schlecht schneidet die Bundesrepublik in den Bereichen Armutsvermeidung, Bildung und Arbeitsmarkt ab. Bemerkenswert dürfte sein, dass die Bertelsmann-Analytiker mit Blick auf die skandinavischen Staaten das Klischee widerlegt sehen, soziale Gerechtigkeit und marktwirtschaftliche Leistungsfähigkeit schlössen einander aus.
Auffällig ist Deutschland in der Gerechtigkeitskategorie "Armutsvermeidung". Hier sticht das starke Wachstum der Kinderarmut hervor: Während in Dänemark nur eines von 37 Kindern (2,7 Prozent) in einem Haushalt aufwächst, dem weniger als die Hälfte des Durchschnittseinkommens zur Verfügung steht, fällt in Deutschland jedes neunte Kind (10,8 Prozent) in diese Kategorie. Wer das beschämend findet, mag Trost darin suchen, dass in Chile 25 Prozent aller Kinder von Armut betroffen sind.
Wenig Trost dürfte es bringen, das Heil im "Job-Wunder" zu suchen, das in diesen Tagen viel gefeiert wurde. Ihm zum Trotz zeigt der deutsche Arbeitsmarkt in punkto sozialer Gerechtigkeit seine dunkle Seite. Langzeitarbeitslosen und Geringqualifizierten, so stellt die Bertelsmann-Studie fest, bleibt der Zugang zu Beschäftigung deutlich erschwert. Bei der Vermeidung von Langzeitarbeitslosigkeit nimmt Deutschland im OECD-Vergleich sogar den traurigen vorletzten Platz ein.
"Setzt Demokratie Wohlstand voraus?"
Sollten Juristen dazu eine fachliche Meinung haben – und nicht "nur" eine politische? Daran wird gezweifelt. In der an pointierten Aussagen erfrischend reichen Mannheimer Antrittsvorlesung des heute in Köln lehrenden Staatsrechtlers Otto Depenheuer findet sich beispielsweise der spitze Satz: "Politik und Justiz können durch Recht und Rechtsprechung Wohlstand nicht schaffen, es sei denn, Politiker und Richter gingen in die Produktion und erwirtschafteten Geld und damit die Grundlage des Wohlstandes."
Nicht nur der spitzzüngigen Rhetorik wegen lohnt es sich, den älteren Text (abgedruckt in: Der Staat 1994, 329-350) zur Frage "Setzt Demokratie Wohlstand voraus?" zur Hand zu nehmen. Als Zeugnis einer konservativ-liberalen Staatslehre ist er beispielhaft: Ihr empirischer Befund lautet, dass es "homogenen" Gesellschaften zwar vergleichsweise leicht falle, Demokratie mit dem rechten Maß an Leidenschaft und praktischer Vernunft zu wagen. Doch lasse sich normativ daraus nichts direkt schließen, weil wirtschaftlicher Wohlstand – und wohl auch dessen Verteilung? – zu jenen Bedingungen gehöre, auf die sich der moderne Staat zwar stützt, die er aber selbst nicht hervorbringen kann. Die Formel kennt man. Ähnlich hält es Ernst-Wolfgang Böckenförde mit der Religion.
Die schlechte Position Deutschlands im Bertelsmann-Gerechtigkeitsindex wird bei dieser theoretischen Ausgangslage wohl nur ein betrübtes Schulterzucken auslösen: Es sei Aufgabe des Gesetzgebers, durch günstige Rahmenbedingungen wirtschaftliche Prosperität zu schaffen, soziale Spannungen zu lockern und, wie es bei Depenheuer etwas kryptisch heißt, "die Synergieeffekte sozialer Homogenität zu steigern".
Aufgeschlossener zeigt sich Angelika Nußberger, seit Anfang Januar deutsche Richterin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in ihrem Aufsatz "Soziale Gleichheit – Voraussetzung oder Aufgabe des Staates?" (Deutsches Verwaltungsblatt 2008, 1.081-1.089). Die Last, sich des empirischen Befundes ungerechter Zustände anzunehmen, weist sie zwar – nicht anders als Depenheuer – der zuständigen Stelle zu: "Da die Herstellung sozialer Gleichheit ein offener Prozess ist, obliegt es zuvörderst dem Gesetzgeber, das angestrebte relative Maß sozialer Gleichheit als politisches Ziel für alle gesellschaftlichen Teilbereiche zu definieren." Doch deutet Nußberger Sympathie für das Sondervotum von Verfassungsrichterin Wiltraut Rupp-von Brünneck an, die bei der Auslegung des Gleichheitsgrundsatzes das Sozialstaatsprinzip aus Artikel 20 Grundgesetz kräftig berücksichtigen wollte (Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts 36, 247 ff.). Für die gerichtliche Würdigung empirischer Befunde von sozialer Ungleichheit wäre damit ein Türchen geöffnet.
Teufel im Detail: Gini-Koeffizient
Gerichte schließen Gerechtigkeitslücken, wo offensichtliche Willkür abzustellen ist oder abgezählte Diskriminierungsverbote greifen. Ob man sie darüber hinaus einladen will, soziale Gerechtigkeit zu fördern, sei einmal dahingestellt. Denn dazu bedarf es besser operationalisierbarer Studien als der jetzt vorgestellten Antwort auf die Frage: "Soziale Gerechtigkeit in der OECD – Wo steht Deutschland?". Im Aufsatz von Nußberger wird ein Aspekt angedeutet, der auf ein allgemeines juristisches Wahrnehmungsproblem hinweist, das sich auch an der aktuellen Bertelsmann-Studie aufzeigen lässt.
Nußberger merkt im Zusammenhang mit der Frage, ob soziale Ungleichheit die Legitimation des Staates untergrabe, an, dass nicht allein der Mangel an Gleichheit gefährlich sei, sondern die Wahrnehmung dieses Mangels durch die Gesellschaft. Eine "explosive Wirkung" werde diese kaum erzeugen, "es sei denn, sie führte zur Bedrohung der physischen Existenz".
In der Bertelsmann-Studie zeigt sich ein anderes, weniger dramatisches, aber vielleicht böseres Wahrnehmungsproblem. Ungleichheit in der Einkommensverteilung gibt sie mit dem sogenannten Gini-Koeffizienten wieder. Dieses statistische Maß für Ungleichheit reicht vom Wert 0 für totale Gleichverteilung bis zum Wert 1 für totale Ungleichverteilung. Mit einem Gini-Koeffizienten von 0,298 schneidet Deutschland in der OECD vergleichsweise gut ab, der Durchschnitt liegt bei 0,32. Bemerkenswert ist aber, dass der deutsche Gini-Koeffizient seit den 1980er-Jahren um 0,041 Punkte angestiegen ist – doppelt so stark wie im OECD-Durschnitt. Seit dem Jahr 2000 sogar dramatisch insofern, als die "realen Einkommen der armutsgefährdeten Bevölkerungsgruppe geschrumpft", während "die der Wohlhabenden gestiegen" sind.
An dieser Stelle wünschte man sich, dass empirische Daten nicht erst dann die politische oder juristische Blut-Hirn-Schranke durchdringen, wenn es heißt: Arme wurden ärmer, Reiche wurden reicher. Man stelle sich vor, an verantwortlicher Stelle – im Deutschen Bundestag, in Karlsruhe oder in Erfurt – würde kollektiv die Stirn schon in Falten liegen bei der empirischen Erkenntnis: "0,041 Punkte Gini-Zuwachs, Potzteufel! – Das müssen wir uns genauer ansehen. Und berücksichtigt unsere Rechtsordnung überhaupt, dass der Mensch an sich kognitiv behindert ist, sobald Wachstumsprozesse zu klein oder zu groß sind – wie uns das Wirtschaftspsychologen seit Jahrzehnten vorbeten?"
Wie tief Erkenntnislücken auch unter Spitzenjuristen sind, darauf hat jüngst Niels Petersen aufmerksam gemacht ("Braucht die Rechtswissenschaft eine empirische Wende?", in: Der Staat 2010, 436-455/Vorabdruck): In einer seiner Entscheidungen über das Rauchverbot hat sich das Bundesverfassungsgericht demnach nicht zuletzt auf eine Pressemitteilung des Statistischen Bundesamtes gestützt – und die statistischen Tücken völlig übersehen.
Da dürften die Chancen für die kosmetische Industrie mager ausfallen, den Umsatz von Faltencremes unter Spitzenjuristen zu steigern: Wo sich doch schon die Karlsruher Richter ob mangelnder ökonomischer, psychologischer oder schlicht statistischer Erkenntnis nicht grämen.
Der Autor Martin Rath ist freier Lektor und Journalist in Köln.
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Martin Rath, Bertelsmann-Studie zeigt heikle Wohlstandsverteilung: . In: Legal Tribune Online, 09.01.2011 , https://www.lto.de/persistent/a_id/2292 (abgerufen am: 11.11.2024 )
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