Beamte und Richter in der Pflicht: Nur wer tugend­haft im Dienst ist, ist leicht zu belei­digen

von Martin Rath

12.01.2025

Beleidigt jemand einen Richter, wenn er sich darüber beschwert, dass dieser nachts betrunken durch die Gemeinde zieht? Vor 130 Jahren gingen die Meinungen dazu auseinander: Mit einem feurigen Plädoyer für die Tugend von Staatsdienern.

Das Klischee, dass es in der bayerischen Justiz etwas anders zugehe als im übrigen Deutschland, schien sich zu bewahrheiten – mit höchstrichterlichem Segen.

Am Anfang stand eine Denunziation. Der spätere Angeklagte hatte dem Präsidenten des Landgerichts Ansbach am 12. Dezember 1893 einen Brief geschrieben, in dem er sich unter anderem darüber beschwerte, es sei "nicht anständig", dass zwei königlich-bayerische Oberamtsrichter nachts betrunken auf der Straße anzutreffen seien.

Einer der beiden Richter sei vor seiner Haustüre "zusammengestürzt". Mit wenig Verständnis für diesen Vorgang fragte der Briefschreiber reichlich pathetisch, was andere Leute tun sollten, wenn sich schon königlich-bayerische Beamte betrinken, die doch ein gutes Beispiel abgeben sollten.

Der Präsident des Landgerichts Ansbach, nicht die beiden Richter selbst, stellte Strafantrag wegen Beleidigung. § 196 Strafgesetzbuch (StGB) gab dazu vor:

“Wenn die Beleidigung gegen eine Behörde, einen Beamten, einen Religionsdiener oder ein Mitglied der bewaffneten Macht, während sie in der Ausübung ihres Berufes begriffen sind, oder in Beziehung auf ihren Beruf, begangen ist, so haben außer den unmittelbar Betheiligten auch deren amtliche Vorgesetzte das Recht, den Strafantrag zu stellen.”

Vorwurf der Trunkenheit trifft in Bayern die Privatsphäre auch von Richtern

In seinem Urteil stellte das Landgericht Ansbach zwar fest, dass eine Beleidigung vorlag – es war nicht bewiesen, dass die Richter tatsächlich nachts bis zum Zusammenbruch alkoholisiert unterwegs gewesen waren. Jedoch stellte es das Verfahren ein, weil nur der Strafantrag des Landgerichtspräsidenten vorlag und das Gericht der Auffassung war, dass der Vorwurf eines etwas sittenlosen Lebenswandels die beiden Kollegen vom Amtsgericht nicht "in Beziehung auf ihren Beruf" betraf.

Auf Revision der Staatsanwaltschaft bestätigte das Reichsgericht in Leipzig mit Urteil vom 5. Juli 1894 (Az. 1883/94, RGSt 25, 34–37) diese Entscheidung. Soweit § 196 StGB verlange, dass die Beleidigung "in Beziehung" auf den Beruf des Beamten stehe, genüge es nicht, ihm eine Verletzung "allgemeiner Sittengesetze" vorzuwerfen.

Das höchste deutsche Strafgericht erklärte: "Die allgemeine Verpflichtung zu einem des Berufes würdigen Privat- oder außerdienstlichen Leben begründet auch dann keine 'besondere Berufspflicht', wenn der Verstoß dagegen disciplinär bestraft wird. Nur wenn die Verfehlung sich außer dem allgemeinen Sittengesetze auch gegen eine daraus besonders hervorgehobene dienstliche Vorschrift, wie z. B. gegen das Verbot des Mißbrauchs der Waffen richtet, … besteht jene Beziehung".

Hätte der Briefschreiber den beiden königlich-bayerischen Oberamtsrichtern vorgeworfen, sich im Dienst betrunken zu haben, läge die Sache anders. Die Pflicht, sich anständig zu verhalten, treffe auch nicht nur bayerische Beamte, sondern sei eine "allgemeine sittliche Pflicht jedes Gebildeten", Der Vorwurf, gegen sie verstoßen zu haben, sei daher nur nach allgemeinem Strafrecht, auf Antrag des Geschädigten zu verfolgen.

Wann ist ein Beamter "in Beziehung" auf seinen Beruf zu beleidigen?

Dem preußischen Juristen Richard Bartolomäus (geb. 1856), Amtsrichter in Schmiegel, dem heute polnischen Śmigiel, missfielen die Entscheidungen des Landgerichts Ansbach und des Reichsgerichts.

In seinem kurzen Aufsatz "Beleidigung eines Beamten in Beziehung auf seinen Beruf" griff er im Jahr 1896 einigermaßen tief in die rechtshistorische Trickkiste, um ein anderes Ergebnis zu begründen – wenn nicht für die bayerischen Kollegen, so doch wenigstens für Angehörige der preußischen Justiz.

Zunächst stellte er kurz dar, wo andere moderne Gesetze seiner Zeit die Grenze zwischen dem Berufs- und dem Privatleben von Staatsbediensteten zogen. So schreibe insbesondere der französische Code pénal eindeutiger vor, dass die Beleidigung von Beamten "in der Ausübung ihrer Amtshandlungen oder bei Gelegenheit (aus Veranlassung) dieser Ausübung" geäußert worden sein müsse.

§ 196 StGB (heute § 194 Abs. 3 StGB) erschwere hingegen die "praktische Verständlichkeit des Gesetzes" durch die Phrase von der Beleidigung der Beamten "in Beziehung auf ihren Beruf".

Bartolomäus meinte nun, dass das Reichsgericht den Begriff des "Berufs" eines Beamten zu modern verstehe, es sei der Beamte oder Richter damit nicht mehr von einem "Privatangestellten" zu unterscheiden, vom gewöhnlichen Arbeitnehmer.

Während der gewöhnliche Angestellte nur beschränkte, vertraglich definierte Pflichten gegenüber seinem Arbeitgeber übernehme und damit in seinem Privatleben frei sei, gelte für den Staatsdiener etwas anderes:

“Der Beamte schließt mit dem Staate überhaupt keinen Vertrag, sondern gibt seine ganze, als brauchbar angesehene, Person dem Staat; sein Beruf ergreift den ganzen Menschen, nutzt nicht nur gewisse Kräfte für den Staat. Sein Beruf ist es, mit seiner ganzen Kraft dem Staat zu dienen, nicht nur diejenigen Verrichtungen auszuführen, zu denen etwa im Staatshaushalt ein Gehalt ausgeworfen ist. Dies Gehalt (wenn er es bezieht) ist nicht Gegenleistung für die Dienste des Beamten, wie die Bezahlung laut Vertrags für die Leistungen der Privatangestellten, sondern gewährt ihm die Möglichkeit zu leben, da er für seine Existenz nichts thun kann, da durch seine Beamteneigenschaft seine Erwerbsfähigkeit aufgehoben, mindestens beschränkt, unter Aufsicht gestellt ist.”

Beamter als Verkörperung des Staates hat sittliches Vorbild zu sein

Im Kern kennt zwar das Beamtenrecht diese hier rhetorisch überreizte Konstruktion eines alimentierten, nicht für seine Leistung entlohnten Staatsdieners auch heute noch. Aber Bartolomäus hob zu hohem Pathos an, um den strafrechtlichen Ehrenschutz des Beamten auch in seiner Freizeit argumentativ vorzubereiten:

“Es ist der Beruf des Beamten, sich der Achtung, die sein Beruf erfordert, überall würdig zu zeigen; es ist der Beruf des Beamten, diejenige Ehrenhaftigkeit und ehrliebende Gesinnung, welche man bei seiner Anstellung voraussetzte, überall zu zeigen; es ist der Beruf des Beamten, sich gegen allgemeine Sittengesetze nicht zu verfehlen; es ist der Beruf des Beamten, durch sein Verhalten seiner Eigenschaft als Organ des Staates, als einer sittlichen Gemeinschaft, sich bewußt zu zeigen, mit gutem Beispiel auf andre einzuwirken, wie der Staat als oberste Gemeinschaft durch Bethätigung von Rechtsgefühl, Menschlichkeit auf seine Mitglieder einwirkt.”

Kurz gesagt: Der Staat, dieser sterbliche Gott höchster Sittlichkeit, sollte also auch durch jeden seiner Beamten in vollendeter Form allzeit verkörpert werden.

Vom preußischen Beamten ist sittlich mehr zu verlangen als vom bayerischen

Für den Fall, dass diese pathetischen Worte noch nicht überzeugten, sicherte der preußische Amtsrichter Richard Bartolomäus seine Argumentation mit Blick auf das positive Recht weiter ab – und griff auf eine schon seinerzeit eher ungewöhnliche Quelle zurück.

In der Allgemeinen Gerichtsordnung (A.G.O.) für die Preußischen Staaten aus den 1790er Jahren fand Bartolomäus die gesetzliche Vorschrift, mit der sich jedenfalls die umfassende Indienstnahme der Justizangehörigen durch den preußischen Staat begründen ließ.

Im 3. Teil, 3. Titel der A.G.O. heißt es etwa unter § 5: "Auch außerhalb ihres Amtes müssen sie" – die Justizbeamten, die Richter – “sich eines anständigen, gesitteten, und regelmäßigen Lebenswandels befleißigen; nicht nur grober, ihr Amt entehrende Ausschweifungen sich enthalten, sondern auch ihr ganzes Betragen andern zum Muster der Redlichkeit, Uneigennützigkeit, Verträglichkeit, und aller übrigen bürgerlichen und christlichen Tugenden dienen lassen.”

Dem Verbot der Überschuldung seiner Justizangehörigen hatte der preußische König in den 1790er Jahren folgende Worte vorangestellt, § 6 der A.G.O. a.a.O. (man lese "für" als "vor"):

"Auch in ihrer häuslichen Oekonomie müssen sie sich der Ordnung und Regelmäßigkeit befleißigen, und für Schuldenmachen sorgfältig hüten".

Diese gesetzlichen Regelungen seien, so Bartolomäus, jedenfalls überall im Preußen des Jahres 1896 weiter in Kraft, wo die A.G.O. seit 1795 verbindlich eingeführt worden war – das Königreich hatte ja im Lauf des 19. Jahrhunderts erheblich an Fläche zugenommen, aber das jeweils vorgefundene materielle Zivilrecht wie auch Verfahrens- und Gerichtsordnungen vielfach in den annektierten Gebieten beibehalten.

Ob auch der bayerische Beamte im Allgemeinen, der bayerische Richter im Besonderen derart umfassend als sittliches Vorbild seines Staates zu dienen hatte und damit rund um die Uhr durch den Vorwurf eines Fehlverhaltens zu beleidigen war, wie es diese Vorschriften nahelegten, untersuchte Richard Bartolomäus allerdings nicht weiter – ihm genügte, dass die vom Reichsgericht zitierten Äußerungen zu betrunkenen bayerischen Amtsrichtern im Fall von preußischen Kollegen wohl "in Beziehung" auf ihre Position als Justizbeamte hätten strafbar sein müssen.

Ein erweiterter Blick ins Gesetz ergibt eine Pointe für die Gegenwart

Eine in jüngerer Zeit populär gewordene Vorschrift, § 188 StGB, wirft Fragen auf, die eine gewisse Familienähnlichkeit mit den von Bartolomäus diskutierten Problemen haben.

Nach dieser Regelung handelt es sich um eine qualifizierte Beleidigung, wenn diese "gegen eine im politischen Leben des Volkes stehende Person" begangen wird, und zwar "aus Beweggründen", "die mit der Stellung des Beleidigten im öffentlichen Leben zusammenhängen" und "sein öffentliches Leben erheblich zu erschweren geeignet" sind.

Von Interesse ist hier die Phrase "die mit der Stellung des Beleidigten im öffentlichen Leben zusammenhängen". Wäre es beispielsweise besonders zu bestrafen, bayerischen Politikern ohne Wahrheitsbeweis zu unterstellen, sie seien nachts betrunken unterwegs gewesen? – Selbst wenn dort nicht jeder Fall von Trunkenheit zum Ende einer politischen Karriere führt, geeignet, die politische Tätigkeit zu erschweren, wäre der Vorwurf doch immerhin.

Ein Blick in die Allgemeine Gerichtsordnung für die Preußischen Staaten aus den 1790er Jahren hilft weiter, wenn es um die Voraussetzungen jeglicher moralischer Überhöhung einer Person im Dienst des Staates geht.

Denn es nahmen nicht nur die vom preußischen Amtsrichter Richard Bartolomäus in seiner Kritik am liberalen Reichsgericht zitierten Vorschriften der A.G.O. die Beamten in die Pflicht. Das Gesetz sah auch vor, dass die in ihrer Ehre geschützten Diener des Staates einer unausgesetzten Überwachung ihres sittlichen Betragens unterworfen sind.

In § 7 III 2 A.G.O. heißt es beispielsweise zur Aufsicht der Gerichtspräsidenten über ihre Richter: “Auch das Privatleben und die Conduite der Mitglieder und Subalternen des Collegii müssen die Präsidenten zum Gegenstande ihrer Aufmerksamkeit machen. Ob es ihnen also weder zugemuthet, noch verstattet werden kann, sich in die Privat- und Familienangelegenheiten der ihnen subordinirten Justizbedienten einzudringen; so müssen sie dennoch darauf Acht haben, daß dieselben äußerlich einen ordentlichen und anständigen Lebenswandel führen; alle zum Aergernisse und Anstoße des Publici, und zur Entehrung ihrer Würde gereichenden Ausschweifungen und Niederträchtigkeiten sorgfältig vermeiden; und überhaupt nichts vornehmen, oder beginnen, wodurch das ihnen sonst gebührende, und zur Ausrichtung ihres Amts nothwendige Ansehen und Achtung vor der Welt heruntergesetzt, oder gar verloren werden könnte.”

Kurz gesagt: Wer als Diener des Staates einen besonderen Schutz seines öffentlichen Rufes genießen wollte, hatte sich einer Tugendordnung und der Aufsicht eines Vorgesetzten zu unterwerfen.

Beides ist z. B. dem Amt des gewählten Volksvertreters heute eher fremd: Wer wollte sich da schon etwa unter die Sittenaufsicht eines Parlamentspräsidenten stellen, nur um einen besonderen strafrechtlichen Schutz seines Rufs als besonders tugendhaft und ehrenwert zu genießen?

Hinweis: Der Artikel von Richard Bartolomäus wurde veröffentlicht in der Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft, Bd. 16 (1896), S. 142–146. Die Allgemeine Gerichtsordnung für die Preußischen Staaten. Dritter Theil. Pflichten der Justizbedienten wird von der Bayerischen Staatsbibliothek online zur Verfügung gestellt.
 

Zitiervorschlag

Beamte und Richter in der Pflicht: . In: Legal Tribune Online, 12.01.2025 , https://www.lto.de/persistent/a_id/56309 (abgerufen am: 08.02.2025 )

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