Viele dogmatische Details sind längst vergessen. Doch gerät man beim Blick in eine alte Entscheidungssammlung an einen kleinen, letztlich aber epochalen Wirtschaftsthriller. Vor 125 Jahren dokumentierte das Reichsgericht in Leipzig einen Fall von Industrie(gegen)spionage, in dem auch einer der größten deutschen Manager des 20. Jahrhunderts eine Rolle spielte. Ein Essay von Martin Rath.
Sind sich heute zwei Verkäufer von besseren, weil internetfähigen Telefongeräten nicht einig, wem das "geistige Eigentum" an runden Ecken zusteht, verfolgen auch Juristen in aller Welt eifrig das Prozessgeschehen. Ein Luxusartikelverkäufer wie Steve Jobs (1955-2011) wird von vielen Liebhabern seiner Produkte auf groteske Weise verehrt. Kaum jemand kennt hingegen wirklich reizvolle und Managerpersönlichkeiten wie Walther Rathenau (1867-1922) oder Carl Duisberg (1861-1935), die nicht nur einflussreich waren, sondern intellektuell tatsächlich etwas leisteten.
Eine Produktentwicklung von Carl Duisberg, der im deutschen Kaiserreich, in der Weimarer Republik und den ersten Jahren des "Dritten Reichs" zu den führenden Köpfen der deutschen Industrie zählte, 1925 die I.G. Farben als mächtigsten Chemiekonzern der Welt mit gründete, spielte ihre Rolle in einem Berliner Strafprozess, der in den Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen (RGSt 16, 42-49, Urt. v. 6.5.1887, Az. 989/87) seine Spur hinterlassen hat.
Stoff für Karrieren und Spionage: die Farbe Rot
Der Chemiker Carl Duisberg machte eine Karriere, wie sie deutsche Studenten selbst in den "harten" Fächern heute kaum mehr starten können. Nach dem Studium der Chemie, Geologie und Volkswirtschaft, seiner Promotion sowie einjährigem Militärdienst unterschrieb er an seinem 22. Geburtstag 1883 den ersten Anstellungsvertrag bei den Farbenfabriken, vormals Friedrich Bayer & Co. in Elberfeld (heute: Wuppertal).
Zentrales Produkt der chemischen Industrie, vergleichbar der Mikroelektronik heute, waren Farben. Farben wurden in Massen für die Textilwirtschaft benötigt. Sie spielten aber auch für anderen Wirtschaftszweige eine wichtige Rolle: Farben machten erstmals Krankheitserreger unter dem Mikroskop sichtbar und standen damit am Anfang der modernen Medizin und Medikamentenherstellung.
Bei den "Farbenfabriken, vorm. Friedrich Bayer & Co." machte der junge Doktor Duisberg nicht allein mit Managementleistungen Karriere (er setzte beispielsweise die heute überall gängige Labororganisation durch), er steuerte auch zahlreiche chemische Innovationen zum Unternehmenserfolg bei. Der Historiker Thomas Portz würdigt seine Entdeckung des Benzopurpurin 4b, einem rotfärbenden Baumwollfarbstoff, als "wohl bedeutendste" – "ein roter Anilinfarbstoff, der es den Farbenfabriken erlaubte, erfolgreich den Wettbewerb gegen den Marktführer Agfa und dessen 'Kongorot' aufzunehmen".
Berliner Kommissarius, außerdienstlich: Industrie(gegen)spion
Im Urteil des Reichsgerichts von 1887 bekommen die Konflikte zwischen der rheinischen Firma "Bayer" und der in Templin (damals bei Berlin) ansässigen Aktiengesellschaft für Anilinfabrikation (kurz: Agfa) ihre juristische Farbe:
"Die Aktiengesellschaft 'Farbenfabriken vorm. Fr. Bayer & Co. in Elberfeld' glaubte, daß ein ihr erteiltes Patent auf Herstellung einer Farbe von der 'Aktiengesellschaft für Anilinfarben in Berlin' durch Nachahmung verletzt würde, und beauftragte deshalb einen Rechtsanwalt, gegen die Anilinfabrik vorzugehen."
Dieser von "Bayer" gegen "Agfa" beauftragte Rechtsanwalt nahm die Dienste eines Berliner "Kriminalkommissarius" in Anspruch, was dem Gesetzeshüter ein Strafverfahren wegen Bestechung nach § 332 Strafgesetzbuch (StGB) einbrachte. Dem Kommissar wurden vom Anwalt 1.000 Mark – deutlich mehr als der Jahresarbeitslohn eines Arbeiters – als "Auslagen" für seine Recherchen gegen "Agfa" angeboten. Der Polizist nahm den Auftrag mit den Worten an, "daß es ihm nicht lieb wäre, wenn seine vorgesetzte Behörde etwas davon erführe, weil diese ihn dann für nicht ausreichend beschäftigt erachten könnte". Ein eigentliches Honorar lehnte der Kommissar ab, jedoch wurden ihm die überreichlich bemessenen "Auslagen" ohne Rechnungslegung gezahlt.
Die Recherchen des Kommissars fielen deutlich effizienter aus als jene eines zuvor beauftragten "Privatdetektivs" (eine so anrüchig neue Tätigkeit, dass sie die Reichsgerichtsräte in Gänsefüßchen setzten). Er verschaffte sich und dem Anwalt Zugang zu einem früheren "Agfa"-Angestellten, der als Strafgefangener im Gefängnis saß und Auskunft zu den Produktionsverfahren der "Berliner Fabrik" geben sollte. Zudem recherchierte der Berliner "Kriminalkommissarius" in Templin, indem er sich gegenüber der "Agfa" als "Drogenhändler" ausgab – so die Diktion des Reichsgerichts, heute spricht man wohl von "Pharmavertretern" – und damit das Material für eine Strafanzeige von "Bayer" gegen "Agfa" wegen der Verletzung der Schutzreche zusammenbrachte.
Krude Logik der Berliner Justiz
Zu den Aufgaben eines "Kommissarius" in diesen Jahren hielt das Reichsgericht fest: "Den Kriminalpolizeibeamten in Berlin ist seitens des ihnen vorgesetzten Polizeipräsidiums untersagt, aus eigener Initiative behufs Feststellung von strafbaren Handlungen Ermittlungen anzustellen; sie bedürfen dazu eines ausdrücklichen Auftrags der vorgesetzten Behörde oder einer durch solchen Auftrag gegebenen Veranlassung, es sei denn, daß Gefahr im Verzuge obwalte."
Der "Kommissarius" hatte seine Ermittlungen der vorgesetzten Behörde nicht mitgeteilt. Das Landgericht Berlin I entwickelte daraus eine reichlich krude Logik, die zu einem ersten Freispruch führte: Weil der Polizist die Ermittlungen "nicht habe vornehmen dürfen, ohne seine Amtspflicht zu verletzen", seien seine Recherchen "ausschließlich eine Privatthätigkeit" gewesen. Diese verdreht Logik verwirft das Reichsgericht, "weil sonst kein Fall der Anwendbarkeit des § 332 [StGB] übrig bliebe".
Seite 2/2 Reichsgericht formuliert Grundgesetz des "Anfütterns"
Das Reichsgericht beließ es zwar beim Freispruch, zog aber die Grenzen anders – und zwar so, dass das "Anfüttern" von Amtsträgern in den Bereich legaler Geschäftstätigkeit von Unternehmern kam: Der Anwalt habe dem Angeklagten "die Erforschung der vermuteten Verletzung des Patentrechtes als eine außerhalb seines Amtes als Kriminalkommissarius auszuübende Thätigkeit übertragen" und der Angeklagte habe den Auftrag "als Privatgeschäft übernommen".
Weil er es versäumt hatte, seine Recherchen und das Honorar dem Polizeipräsidium anzuzeigen, habe der "Kommissarius" zwar eine Pflichtverletzung, also eine Diensthandlung durch Unterlassen, begangen, die jedoch nicht unter den Tatbestand der Bestechung zu fassen sei, weil die Elberfelder Auftraggeber ihn zu diesem Verschweigen nicht "bestimmt" hätten.
Die Revision der Staatsanwaltschaft enthielt, naheliegend, das Argument, der Polizist habe mit dem Verhör des inhaftierten "Agfa"-Angestellten seine amtliche Stellung missbraucht. Hier greift der Tatbestand der Bestechung nach Auffassung des Reichsgerichts nicht, "weil nur derjenige Vorteil als für pflichtwidrige Handlung gewährt angesehen werden kann, welcher nach dem Willen und Bewußtsein der Beteiligten als Belohnung für die pflichtwidrige Handlung gelten soll". Das Reichsgericht bestätigt den Berliner Freispruch also, weil kein Beweis vorlag, dass das Honorar für die Rechercheleistungen dafür gezahlt worden war, dass der Polizist "die ihm aufgetragene Privatthätigkeit unter mißbräuchlicher Interposition seiner Amtsautorität zur Ausführung bringe".
Solange eine Schmiergeldzahlung nicht mit einem hinreichend konkreten Zweck verbunden ist, ist sie keine Bestechung. Ein Gedanke wie aus dem Lehrbuch des organisieren Verbrechens, formuliert vom Reichsgericht zu Leipzig, 1887.
Preußen und Bayern – die "Ordnungszellen" Deutschlands?
Dass die Reichsgerichtsräte gleichsam ein Grundgesetz jeder Korruptionspraxis formulierten, wirkt wie ein moralisierender Vorwurf, ist aber nicht so gemeint. Unter den staatsrechtlichen Rahmenbedingungen der Gründerjahre des deutschen Nationalstaats war das "Durchmogeln" von Spitzenmanagern und Lobbyisten jedenfalls nachvollziehbar.
Seit 1890, drei Jahre nach dem Leipziger Urteil, ist bekannt, dass noch weit bedeutendere hoheitliche Zauberkräfte von schnöden Geldzahlungen korruptiv kontaminiert waren – oder besser: gewesen sein sollen. Nichts Geringeres als der Verlust der bayerischen Souveränität könnte auf "Anfüttern" zurückzuführen sein.
Der preußische Ministerpräsident Otto von Bismarck konnte seit 1866, nachdem Preußen das Königreich Hannover okkupiert hatte, auf das beschlagnahmte Vermögen der Welfenherrscher zurückgreifen, ohne dafür seinem König oder gar dem Parlament Rechenschaft abzulegen. Ein Teil des Schwarzgeldes, man spricht von 300.000 Goldmark pro Jahr nebst Sonderzahlung von einer Million, floss über Schweizer Konten an den Bayernkönig Ludwig II. (1845-1886), der damit die Schulden seines bayerischen Disneylands, Neuschwanstein & Co., tilgte. Peter Gauweiler, auf der Suche nach Beispielen für den heutigen Souveränitätsverlust Deutschlands in Europa, beklagte den Untergang Bayerns in Deutschland noch jüngst, vergaß in seiner Abrechnung mit Bismarck aber die Spur des Geldes – was wohl ein Indiz für die Effizienz des "Anfütterns" bei weit größeren amtlichen Aktivitäten als den Rechercheleistungen eines preußischen "Kommissarius" ist.
"Bayer" und "Agfa" haben sich letztlich "auf dem Wege der Güte geeinigt." Beide Unternehmen sollten später zu den Gründern der mächtigen und schließlich verbrecherischen I.G. Farben AG werden, die trotz ihrer Zerschlagung durch die Alliierten nach dem Zweiten Weltkrieg ein schier endloses juristisches Weiterleben hatte.
Der durchaus geniale Chemiker und Industriemanager Carl Duisberg sollte sich am Ende seines Lebens nicht entblöden, einem der verbrecherischsten und korruptesten Juristen aller Zeiten, dem Münchener Rechtsanwalt Hans Frank (1900-1946) in der "Akademie für deutsches Recht" zuzuarbeiten.
Aber das sind Rechtsgeschichten, die dem freundlichen Rückblick zu sehr im Wege stehen.
Hinweis: In seiner 1887 geltenden Fassung handelte § 331 StGB von "Bestechung". Dies ist hier kein Fehler.
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Journalist und Lektor in Köln.
Martin Rath, Doktor Duisberg und der "Kommissarius": Gründerjahre der Industriespionage . In: Legal Tribune Online, 30.09.2012 , https://www.lto.de/persistent/a_id/7204/ (abgerufen am: 28.03.2024 )
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