In der Nacht vom 25. zum 26. April 1986 nahm die Nuklearkatastrophe von Tschernobyl ihren Lauf. In Deutschland führte das Ereignis nicht zuletzt zu juristischen Aufräumarbeiten.
Es ist umstritten, welchen Schaden die Nuklearkatastrophe von Tschernobyl in den vergangenen 35 Jahren angerichtet hat. Unmittelbar an den Folgen der Strahlung starben wohl nur rund 50 Menschen.
Wie viele Menschen jedoch an Krebs- und anderen Erkrankungen leiden, weil sie mit Partikeln in Berührung kamen, die durch die Explosion des Reaktors und den Brand des in der Anlage verwendeten Graphits freigesetzt wurden, ist Gegenstand harscher Kontroversen, die in Deutschland gelegentlich unter einem eigenartig apokalyptischen Tonfall litten und leiden – womöglich mit Konsequenzen für die Wahrnehmung von Risiken in einer von Wissenschaft und Technik beherrschten Welt.
Gemessen jedenfalls an den massiven Ängsten, die seinerzeit mit dem Reaktorunfall von Tschernobyl verbunden wurden, wirkt seine Verarbeitung durch den deutschen Rechtsstaat geradezu beschaulich und beruhigend.
Aus dem Kuhstall kommt keine Romantik – Bearbeitung des Milch-Risikos
Durch den Wind aus Tschernobyl radioaktiv belastete Milchprodukte wurden, vermutlich wegen der Bedeutung von Kuhmilch in der Kinderernährung, zu einem Leitmotiv eines bald ins Groteske umschlagenden atomaren Schreckens: Der Umweltminister des Freistaats Bayern spiegelte einer teils spottenden, teils verärgerten Öffentlichkeit vor, kontaminiertes Molkepulver zu verzehren – inszenierter Mannesmut zum Vorteil der bayerischen Milch- und Käse-Industrie.
Ein weit profaneres Beispiel dafür, mit welchen Sorgen dieser Zweig der Lebensmittelwirtschaft zu kämpfen hatte, gab einige Jahre später der Bundesfinanzhof (BFH): Ein Unternehmen, das bisher Nahrungsmittel für Kinder aus Frischmilch hergestellt, diese aus der Europäischen Gemeinschaft exportiert hatte und sich dafür über das Hauptzollamt mit einer sogenannten Ausfuhrerstattung subventionieren ließ, hatte wegen des Reaktorunfalls von Tschernobyl statt Frischmilch nunmehr eine Mischung aus Magermilchpulver und Butterreinfett verwendet und dies samt Warenproben bei der Zollverwaltung deklariert.
Die Zollverwaltung war mit dem Vorgang offenbar ein wenig überfordert und zahlte, gemessen am Milchanteil, zu hohe Exportsubventionen. Bei der späteren Rücknahme der Bescheide sollte nach Auffassung des BFH die frühe Kenntnis eines örtlich zuständigen Zollamts von der Rezepturveränderung dem Lebensmittel-Unternehmen nicht helfen, Tschernobyl bedingte eine gekürzte Milchausfuhrsubventionierung (BFH, Urt. v. 28.09.1993, Az. VII R 107/92).
Mit Blick auf den politischen Umgangston, in dem seit den 1970er Jahren unter anderem gegen die friedliche Nutzung der Atomenergie gekämpft wurde, hatte diese juristische Filigranarbeit am milchwirtschaftlichen Subventionstatbestand eine fast komische Seite.
So verband beispielsweise der Mediziner Till Bastian (1949–) als einer der führenden Anti-Atomkraft-Publizisten der Bundesrepublik seine Kritik an der "Unkontrollierbarkeit der Großtechnik" mit Erklärungen wie dieser: "Der moderne, von der Zivilisation parasitär abhängige Mensch, weiß sehr viel über die Milchsorten, die in Supermärkten zu finden sind, er weiß, was es bedeutet, wenn eine Milchsorte 'besonders fettarm' oder 'ultrahocherhitzt' heißt, er kennt Milchsorten in eckigen Kartons oder solche in runden Flaschen. Er weiß aber nicht, wie er eine Kuh melken soll, sofern er überhaupt schon einmal eine Kuh gesehen hat."
Sehnsucht nach autoritärer Führung in Staat und Gesellschaft
Der Schriftsteller Gerhard Henschel (1962–) trug bereits 1992 unter dem Titel "Die Apokalyptiker" eine ebenso komische wie erschreckende Sammlung atomwirtschafts- bis allgemein zivilisationskritischer Äußerungen zusammen ("Merkur" Nr. 517, S. 353–360).
Das romantisch-brutale Bild eines wohl erst durch eigenhändiges Melken zur Natur zurückfindenden menschlichen "Parasiten" zählte noch zu den harmloseren Funden Henschels. Der 1979 aus der DDR in den Westen entlassene Philosoph und zeitweilige Grünen-Vordenker Rudolf Bahro (1935–1997) erklärte beispielsweise ein Jahr nach dem Reaktorunfall, dass ein "Erwachen des Volkes" den "Fürsten einer ökologischen Wende" hervorbringen solle und ein die Staatsgewalt bindender "allgemeiner Rat des Volkes" zu bilden sei: "In diesem Oberhaus müssen also, vertreten durch Anwälte, die sich rituell damit identifizieren, Erde, Wasser, Luft und Feuer, müssen Steine, Pflanzen und Tiere Sitz und Stimme haben."
Vor Gericht sprach man statt für Erde, Wasser, Luft und Feuer einstweilen nur für das damals noch fernmündlich kommunizierende Angstbürgertum: Als die Verwaltung des Stuttgarter Landtags den Telefonanschluss des damaligen Grünen-Abgeordneten Gerd Schwandner (1951–) sperren ließ, weil die Rufnummer für ein Protest-Telefon in Sachen Volkszählungsfurcht umfunktioniert worden war, berief sich seine Fraktion vor dem Staatsgerichtshof Baden-Württemberg darauf, die Telefonanlage kurz zuvor in Sachen Tschernobyl bereits in dieser Weise genutzt zu haben. Soweit es um den Volkszählungs-Boykott seitens der Grünen ging, hielt das Gericht die Sperrung für zulässig (Urt. v. 28.01.1988, Az. GR 1/87).
Reaktorkatastrophe von Tschernobyl und deutsche Kernkraftwerke
Über diese und ähnlich randständige Rechtsfragen hinaus – beispielsweise zum Unterlassungsanspruch, was Anti-Atomkraft-Spruchbänder an der Fassade einer Eigentumswohnung betrifft (Kammergericht Berlin-West, Beschl. v. 15.02.1988, Az. 24 W 4716/87) – wurde vielfach versucht, unter Berufung auf die Tschernobyl-Erfahrung eine juristische Neubewertung deutscher Atomkraftwerke zu erreichen.
Anführen lässt sich hier als Beispiel für eine durchaus reiche Rechtsprechung nach dem Unfall in der Sowjetunion der Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 5. April 1989. Die Kläger begehrten vom nordrhein-westfälischen Minister für Wirtschaft, Mittelstand und Technologie den Widerruf der Betriebsgenehmigung für das Kernkraftwerk Würgassen und die Anordnung seiner Stilllegung. Die Katastrophe von Tschernobyl habe deutlich gemacht, dass "nicht der erforderliche Schutz vor der Gefahr einer Kernschmelze gewährleistet" sei und "auch nachträglich nicht gewährleistet werden" könne, "und zwar in einem Maße, das eine solche Gefahr nach den Regeln praktischer Vernunft ausschließt".
Trotz des weite Kreise der Bevölkerung schockierenden, von zahlreichen Intellektuellen als apokalyptisches Zeichen wahrgenommenen Unglücks nahmen die Verwaltungsgerichte keinen Abstand von der grundsätzlichen Erwägung des Bundesverfassungsgerichts, wonach die atomrechtlichen Genehmigungen dem Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit genügten, solange "es nach dem Stand von Wissenschaft und Technik praktisch ausgeschlossen ist, daß solche Schadensereignisse eintreten" (vgl. nur BVerfG, Beschl. v. 20.12.1979, Az. 1 BvR 385/77).
Apokalyptiker hatten längeren Atem als der Bundesgesetzgeber
Als das aus Angehörigen von CDU/CSU und FDP bestehende Kabinett Merkel II im Jahr 2011 unter dem Eindruck der Erdbeben-Katastrophe von Fukushima seinen Beschluss über den bis heute betriebenen Ausstieg aus der friedlichen Atomenergienutzung traf, ging es in einem Punkt merkwürdigerweise weiter als es sich die älteren Apokalyptiker vorstellen durften.
Denn die Vordenker dieser nicht nur radikal "atomkritischen", sondern generell der Moderne abgeneigten Bewegung – mangels melkender Zeitgenossen vermutlich – wie der abtrünnige CDU-Politiker Herbert Gruhl (1921–1993), der Tierforscher Konrad Lorenz (1903–1989) oder Publizisten wie Holger Strohm (1942–) und Robert Jungk (1913–1994) sahen in der Großtechnologie und in der hedonistischen Konsumgesellschaft einen Zivilisationsumbruch: So wie sich einst die menschliche Natur durch die Abkehr vom Jäger- und Sammlerdasein hin zur landwirtschaftlichen Sesshaftigkeit fundamental geändert habe, sei der Mensch nun auf Ewigkeiten zum Umgang mit der Atomindustrie und ihren Produkten verflucht.
Wenn sie damit Recht hatten, wie sollte ein "Ausstieg" möglich sein? – Es ist zumindest fraglich, ob den älteren Apokalyptikern die Wende des Kabinetts Merkel II eingeleuchtet hätte, die relativ sicheren deutschen Atomkraftwerke zügig stillzulegen, statt sie noch eine Weile im Dienst der Klimapolitik laufen zu lassen. – Was sind zehn, 20 oder 50 Jahre "Brückentechnologie", wenn der atomare Umbruch der menschlichen Zivilisation doch längst bewirkt wurde und einschneidend ist wie die neolithische Revolution?
Tröstlich ist immerhin, dass nicht erst ein peruanischer Landwirt in Zeiten des Klimawandels auf den Gedanken kam, sondern dass bereits ein niedersächsischer Gartenbauer im radioaktiven Partikelstrom aus Tschernobyl zu den ersten zählte, die sich vor deutschen Gerichten darum bemühten, Staaten oder mächtige ausländische Umweltverschmutzer in Haftung zu nehmen: Ein Gärtner aus Dörverden-Barme versuchte nach dem 26. April 1986 die Sowjetunion vor dem Amtsgericht Bonn auf Schadensersatz nicht unter 750 Mark zu in Haftung zu nehmen. Er verlangte 45 Mark für bereits vernichtetes Obst und Gemüse und nicht unter 705 Mark für weiteren Nutzungsausfall. Die Sache blieb zwar vergeblich, doch versucht hatte er es jedenfalls (AG Bonn, Beschl. v. 29.09.1987, Az. 9 C 362/86)
Reaktorkatastrophe von Tschernobyl vor 35 Jahren: . In: Legal Tribune Online, 25.04.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/44802 (abgerufen am: 14.10.2024 )
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