Was nicht in den Akten ist, ist nicht in der Welt? Eine billige Weisheit. Interessanter wird es, der Frage nachzugehen, wer auf Akten zugreifen kann und wie Akten überhaupt entstehen: Auskunft gibt die Archivwissenschaft.
Über "verborgene Orte" zu schreiben, Fotografien oder verbotenen Zutritt zu Ruinen des 19. und 20. Jahrhunderts zu vermarkten, ist ein kleiner Trend in der Gegenwartskultur. Wer in seiner Erwerbsbiografie selbst Zutritt hatte, wird das vermutlich eher langweilig finden, dies vielleicht aber zu Unrecht: Schon ein martialisch als Kreditbunker bezeichneter Raum könnte – dank einiger Vorschriften des Kreditwesengesetzes – beispielsweise die geheime Herzkammer des rheinischen Kapitalismus sein.
Es müsste nur jemand nachschauen oder seine Perspektive entsprechend schärfen.
Noch in den Dörfern und Kleinstädten der Republik ließen sich seit den 1950er Jahren selbst Sparkassen und Volksbanken eine zumindest mittelgroße fensterlose Kammer einrichten, besonders feuerfest in Stahlbeton ausgeführt, die rollbaren Aktenschränke gern zum Bersten gefüllt mit eingehängten Akten.
Schrieb § 13 des Kreditwesengesetzes (KWG, Stand 1934) vor, dass sich die Bank von ihren Schuldnern ab einer Kreditlinie von 5.000 Reichsmark "die wirtschaftlichen Verhältnisse" offenlegen lassen musste, nannte § 18 KWG im Jahr 1962 eine Linie von 20.000 Mark. Heute wird dies u.a. bei einer Kredithöhe ab 750.000 Euro verlangt. Diese unregelmäßig erhöhten Beträge, die es der Kreditwirtschaft aufgaben, umfangreichere Akten über ihre Kundschaft anzulegen, sind schon für sich genommen ein Stück Wirtschafts- und Gesellschaftsgeschichte der Bundesrepublik.
Mehr als bundesdeutsches Biedermeier
Dies mag sich auf die aktenmäßige Erfassung von Häuslebauern seit 1934 beschränken. Elite besteht aber bekanntlich erst aus jenen Kreisen, deren Soziologie niemand zu schreiben wagt. Eine Hausfinanzierung zu stemmen, genügt dazu nicht.
Doch es gibt noch § 15 KWG: Jene Netzwerke, die alle Landstriche Deutschlands durchziehen, in denen sich Fuchs und Hase, die mittelständische Wirtschaft und die Sparkassen-Filialleiter gute Nacht sagen, sollten sich gut dokumentiert in den nach dieser Norm anzulegenden Akten widerspiegeln. Sie gibt vor, wie Beschlüsse über Organkredite zu fassen sind, z.B. zu Krediten an die politisch entsandten Verwaltungsratsmitglieder der Sparkassen. Manch Bauer, der im Speckgürtel der Großstadt zum DM-Millionär mutierte, wird hier aktenkundig sein.
Doch die Akte ist nicht nur historisches Dokument, sondern auch Mittel der Vernunft. Max Weber (1864–1920), Jurist und Gründervater der Soziologie, hat ein hohes Lied auf die Akte gesungen: "Die rein bureaukratische, also: die bureaukratisch-monokratische aktenmäßige Verwaltung ist nach allen Erfahrungen die an Präzision, Stetigkeit, Disziplin, Straffheit und Verläßlichkeit, also: Berechenbarkeit für den Herrn wie für die Interessenten, Intensität und Extensität der Leistung, formal universeller Anwendbarkeit auf alle Aufgaben, rein technisch zum Höchstmaß der Leistung vervollkommenbare, in all diesen Bedeutungen: formal rationalste, Form der Herrschaftsausübung."
Akten – nicht nur Stoff für nörgelnde Berliner
Mit einem Beispiel, wie ein Inhaber legaler Macht über Zweifel an seiner "bureaukratisch-monokratischen aktenmäßigen Verwaltung" stolperte, beginnt die wider Erwarten recht spannende Broschüre "Moderne Aktenkunde".
In diesem Aufsatzband gehen Archivwissenschaftler den Gegenwartsfragen ihres Fachs nach, das nicht zuletzt durch den digitalen Wandel herausgefordert wird. Zur Einstimmung ins Thema wird die Sache von Stefan Mappus (1966–) aufgegriffen, der die Löschung von E-Mails aus seiner Zeit als baden-württembergischer Ministerpräsident begehrte und damit aus archiv- wie rechtswissenschaftlicher Sicht das Problem vollständiger Akten aufwarf: Der Verwaltungsgerichthof Baden-Württemberg stellte mit Urteil vom 30. Juli 2014 (Az. 1 S 1352/13 – hier Rn. 88) unter anderem fest, dass eine "ausdrückliche landesrechtliche Regelung zur Führung vollständiger Akten in Behörden einschließlich Ministerien" fehlte.
Manchem Praktiker ist die hergebrachte Akte bereits ein Fossil aus dem "Gürteltier"-Zeitalter. Kaum eine Woche vergeht, in der sich nicht ein Berliner Strafverteidiger darüber beschwert, dass ihm eine Staatsanwaltschaft keine hinreichend digitalisierten Akten aushändigt.
Bizarre Einblicke in bürokratische Ineffizienzen
Für Historiker scheint die papiergebundene Aktenproduktion aber immer noch die Königsklasse an Dokumenten zu liefern, zumal sich die Behörden – wie einer der Beiträge in dem Band nachzeichnet – im 20. Jahrhundert zwar technisch immer wieder an der effizienteren Textverarbeitung der unternehmerischen Wirtschaft orientierten, aber die Büroorganisation in den alten Spuren verblieb – mit entsprechenden Reibungsflächen:
Wie das Digitale in die Behördenwelt als Komplexitätsvermehrung hereinbricht, zeigt ein geradezu erschreckendes Ablaufdiagramm, das einen "hybriden" Geschäftsgang dokumentiert: vom Entschluss der Behördenleitung bis zum Empfänger von E-Mail und Behördenschreiben geht das Organigramm über rund 40 Stationen. Während der Historiker sich fragt, wie daraus eine für ihn auswertbare Akte werden könnte, ruft der Strafverteidiger nach der ordentlich gebrannten CD auch des papierförmigen Aktenbestands – und ein Controller vermutlich nach Herzschmerzmedikamenten. Diese kleine Studie zu Geschäftsgängen in Behörden und ihrer Sedimentierung in Aktenform (Karsten Uhde: "Schriftgut des 20. und 21. Jahrhunderts genetisch betrachtet") ist reizvoll, und sollte ein bisschen nostalgischen Beifall auslösen, wenn der Wachtmeister im Amtsgericht mit dem "Gürteltier"-Wagen vorbeirollt, gefüllt mit den Papieren richterlicher Internetausdrucker.
2/2: Man möchte sich sofort in Akten vergraben
Ein digitalisiertes Beispiel aus der Broschüre "Moderne Aktenkunde", das online verfügbar ist, mag den Reiz der alten Akten demonstrieren, gerade weil ihm nicht bis zur historisch abschließenden Erkenntnis gefolgt werden kann. Es "zeigt den im 20. Jahrhundert klassischen Dienstweg von der Ministerialebene bis hinunter zum einzelnen Beamten in einer Stadtverwaltung. Dabei wird es nicht nur von einer Behörde zur anderen geschickt, sondern zum Teil auch innerhalb einer Behörde weitergeleitet" (PDF).
Damit nicht genug. Präsentiert wird u.a. ein Schreiben des Hessischen Ministers des Innern vom 16. Juni 1952, mit ihm eine "Mitteilung des Bundesministeriums für gesamtdeutsche Fragen" wonach ein in Saarbrücken ansässiges "Zentralinstitut für Landesforschung - Institut zur Förderung öffentlicher Angelegenheiten" bundesweit "unter dem Deckmantel der Beschaffung von Unterlagen für saarländische Strukturuntersuchungen Auskünfte erbittet, die schon nach ihrer Fragestellung den Verdacht der Industrie- und Werkspionage aufkommen lassen. Es handelt sich bei diesem Institut nicht um eine wissenschaftliche Einrichtung, sondern aller Wahrscheinlichkeit nach um eine gegen die Bundesrepublik gerichtete Propagandastelle, die aus Geheimfonds der saarländischen Regierung finanziert wird."
Im Beispiel ist das Saarland gar nicht putzig
Saarländische Industriespionage und gegen die Bundesrepublik Deutschland gerichtete Propaganda aus Saarbrücken? Das scheint ein fremdes Universum zu sein! Es ist ein Erkenntniskeim in nuce: 1952 war das Saarland noch nicht Teil der Bundesrepublik Deutschland, sondern eine Art französisches Protektorat, das Saarländische Oberlandesgericht hatte einen französisch-deutschen Senat mit französischer Führung, der Pariser Geheimdienst akquirierte fleißig, der spätere Chef der saarländischen Verbraucherschutzzentrale, ein ehemaliger NS-Studentenführer, soll sich sowohl den Franzosen als auch der DDR-Führung angedient haben – der Kampf um die deutsche Einheit hatte noch eine Westfront.
Ein Durchschlag in der Marburger Stadtverwaltung dokumentiert, was der Prozess der europäischen Einheit seit 1957 eben auch bedeutete: ein Ende imperialer Herrschaftsvorstellungen in Deutschland, ausgeführt in klandestiner Manier. Und hier wird im Kleinen deutlich, was die "europaskeptische" Verstocktheit nicht bedeutet: Sie leitet heute nicht in die Zeiten des letzten Weltkriegs zurück, aber doch zurück in solch grausliche Behördenparanoia, in denen noch ein so putziger Landstrich wie das Saarland als Brutstätte innereuropäischer Geheimdienstoperationen zu sehen war.
Babylon, Saarbrücken, Berlin: Non est in actis …
Im Jahr 2000 legte die früh verstorbene Rechtswissenschaftlerin und Philosophin Cornelia Vismann (1961–2010) unter dem Titel "Akten. Medientechnik und Recht" eine inhaltsschwere Untersuchung vor, die den Bogen von den babylonischen Kanzleischreibern bis in ihre Gegenwart schlug. Die "Moderne Aktenkunde" bietet einen archivwissenschaftlichen Blick auf das, womit – und oft genug: worin – Juristinnen und Juristen leben: die Welt der Akten.
Dass sich in manch altem Gürteltier-Inhalt, gelblich am Rand, vor Staub nur schlecht zu greifen, auf brüchigem Papier eine – ohne jeden Scherz – dramatische Perspektive auf die Gegenwart auftut, war hier nur am zufälligen Beispiel zu zeigen: Es muss nur jemand nachschauen oder seine Perspektive entsprechend schärfen.
Hinweis: Holger Berwinkel, Robert Kretzschmar, Karsten Uhde (Hg.): Moderne Aktenkunde (Veröffentlichungen der Archivschule Marburg, Band 64) ist über die Hochschule für Archivwissenschaft zu beziehen.
Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Ohligs.
Martin Rath, Archivkunde: Aktenkundig werden leichtgemacht . In: Legal Tribune Online, 11.06.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/23153/ (abgerufen am: 18.04.2024 )
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