Arbeitspflicht statt Arbeitsrecht: Wer essen will, muss dem Arbeit­samt gehor­chen

von Martin Rath

17.01.2021

Mit Befehl vom 17. Januar 1946 schickten die Militärgouverneure der vier Besatzungsmächte alle potenziell arbeitsfähigen Deutschen zum Arbeitsamt – ein Vorgang, der auch in heutigen Kontroversen zum Kündigungsschutz interessant sein könnte.

Der Fall, über den der Bundesgerichtshof (BGH) mit Urteil vom 21. November 1953 entschied, war für die Klägerin körperlich, für die Richter aus patriotischer Perspektive und für den Beklagten materiell schmerzhaft, aber nicht ohne juristischen Witz:

Die Klägerin behauptete, am 19. Februar 1948 auf dem von Schnee bedeckten Bürgersteig vor einem Trümmergrundstück an der Hardenbergstraße in Berlin-Charlottenburg gestürzt zu sein, und verlangte vom Grundstückseigentümer Schadensersatz und Schmerzensgeld, weil sie sich einen Oberschenkelhalsbruch zugezogen hatte.

Das Landgericht Berlin (West) und das Kammergericht entschieden zu ihren Gunsten: Nach § 1 des Preußischen Gesetzes über die Reinigung öffentlicher Wege vom 1. Juli 1912 und entsprechend dem Ortsgesetz über die Straßenreinigung in Berlin vom 13. April 1933 waren zwar grundsätzlich die Gemeinden verpflichtet, Straßen von Schnee und Eis zu befreien oder mit abstumpfenden Stoffen zu streuen, für die Hardenbergstraße war diese Pflicht jedoch zulässig durch Ortsrecht den Grundstückseigentümern überantwortet worden. 

Haftung aus § 823 Abs. 1 und 2 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) – so weit, so witzlos.

Berliner Trennungsprobleme und besatzungsrechtliches Arbeitskraftregime

Weil es hier im Wesentlichen um die Frage ging, ob das Kammergericht in Berlin (West) das Berliner Recht richtig angewendet hatte, war eine Zuständigkeit des BGH nicht ohne Weiteres gegeben, § 549 Abs. 1 Zivilprozessordnung (ZPO).

Um gleichwohl den BGH mit der Sache befassen zu können, argumentierte der Anwalt des Trümmergrundstückseigentümers mit einem der zahllosen Probleme der Teilung Berlins in einen sowjetischen Ost- und in die drei Westsektoren. 

Denn neben dem Kammergericht in Berlin (West) bestand seit 1949 parallel das Kammergericht in Berlin (Ost). Sich darauf einzulassen, dass hier die Revision nach § 549 Abs. 1 ZPO zulässig sei, weil das Berliner Straßenreinigungsrecht damit in den Bezirken zweier Berufungsgerichte – Kammergericht (freies Berlin), Kammergericht (sowjetischer Sektor) gelte – diese Idee mochte der BGH gar nicht leiden. Generell weigerte man sich in Karlsruhe, der Justiz im Osten allzu viel Liebe zu zeigen, selbst wenn diese nur durch die graue Blume von Zuständigkeitsfragen zu erklären war.

Mit dem Problem der zwei Kammergerichte zu argumentieren, das war schon gewitzt. Doch damit nicht genug: Der beklagte Grundstückseigentümer hatte vor den Gerichten in Berlin (West) erfolglos vorgetragen, er habe – selbst in Berlin-Dahlem wohnend – vor seinem Charlottenburger Trümmergrundstück nicht persönlich gegen Schnee und Eis vorgehen können. 

An der Beschaffung von Personal, das ihm hierbei hätte zur Hand gehen können, sei er jedoch durch den Kontrollratsbefehl Nr. 3 vom 17. Januar 1946 gehindert worden. In diesem Befehl der vier alliierten Militärgouverneure, dem der Rang eines Gesetzes beigemessen wurde, hieß es im Abschnitt "Unterbringung von Arbeitslosen in Arbeit" unter § 16 der deutschen Übersetzung:

"Jeder Arbeitgeber, der Arbeitskräfte benötigt, muß sich ausschließlich an das zuständige Arbeitsamt wenden. Die Beschäftigung von Arbeitslosen oder der Wechsel des Arbeitsplatzes ist verboten, wenn dies nicht über das Arbeitsamt geschieht."

Auch dem mochte der BGH jedoch nichts abgewinnen. Den Militärgouverneuren sei es erkennbar darum gegangen, den deutschen Arbeitsmarkt im größeren Rahmen zu kontrollieren, nichts hätte den Beklagten aber daran gehindert, "etwa einen Büroangestellten, einen benachbarten Grundstückseigentümer oder dessen Personal" mit dem Schneeräumen und Streuen zu beauftragen – weder die Besatzungsmächte noch das Arbeitsamt hätten es im Jahr 1948 im Sinn gehabt, ihn daran zu hindern (BGH, Urt. v. 21.11.1953, Az. VI ZR 21/52).

Wer sich nicht dem Arbeitsamt fügt, der soll auch nicht essen

Auf den gewitzten, aber gescheiterten Versuch, gegen möglicherweise überspannte Anforderungen der Stadt Berlin vorzugehen, öffentliche Straßen in privater Verantwortung von Schnee und Eis zu befreien, beschränkte sich die Bedeutung der Vorschrift natürlich nicht.

Der "Kontrollratsbefehl Nr. 3" vom 17. Januar 1946 über die "Registrierung der in arbeitsfähigem Alter stehenden Bevölkerung, Registrierung der Arbeitslosen und deren Unterbringung in Arbeit" legte die Organisation des Arbeitsmarkts derart vollständig in die Hände der Arbeitsämter, dass selbst zeitgenössische Juristen, die in Kaiserreich, Weimarer Republik und NS-Staat aufgewachsen waren, ihre Probleme damit hatten.

§ 1 betraute die Arbeitsämter damit, alle arbeitsfähigen Männer und Frauen im Alter von 14 bis 65 bzw. 15 bis 50 Jahren zu registrieren – unabhängig davon, ob sie in Arbeit standen oder arbeitslos waren – und deren "Unterbringung in Arbeit" zu leisten.

Wer sich nicht neu registrieren ließ oder seit Kriegsende noch nicht vom Arbeitsamt erfasst worden war, lief Gefahr, keine Lebensmittelkarten mehr zu erhalten, verlor also den Zugang zum legalen Markt für Grundnahrungs- und Genussmittel.

Arbeitgeber wurden verpflichtet, nahezu jede Entlassung zu melden (§ 17), das Arbeitsamt war bei vorliegender Notwendigkeit – ohne nähere Definition ihrer Voraussetzungen – ermächtigt, "Personen durch Zwangsanordnungen in Arbeitsplätze einzuweisen" (§ 18).

Nach § 19 wurden Arbeitslose, "die aus eigener Initiative Arbeit finden" oder Arbeitskräfte, "die ohne Erlaubnis des Arbeitsamtes ihren Arbeitsplatz wechseln" sowie "alle Arbeitslosen, die Arbeitszwangsanordnungen nicht Folge leisten" mit Geldstrafe bis zu 1.000 Reichsmark oder Gefängnis bis zu drei Monaten bedroht – zudem wiederum mit dem Verlust der Lebensmittelkarten.

Wege zwischen West und Ost trennten sich auch beim Arbeitsamt

Der Befehl wurde in den Besatzungszonen unterschiedlich scharf gehandhabt.

In der Sowjetischen Besatzungszone bildete der Kontrollratsbefehl Nr. 3 einen wichtigen Baustein in der staatlichen Zwangsverwaltung des Produktionsfaktors Arbeit. Beispielsweise erfolgten die Beschaffung und Bindung von Arbeitskräften für die "Sowjetischen Aktiengesellschaften", die zu Reparationszwecken einen Gutteil des mitteldeutschen Industriebestands übernahmen, sowie die Rekrutierung für die Schwerstarbeit im Uranbergbau des Erzgebirges unter anderem auf der Rechtsgrundlage dieses Befehls. Der Historiker Dierk Hoffmann (1963–) erklärt, dass der Befehl bis in die DDR-Zeit als Referenz- und Vorbildnorm diente ("Im Laboratorium der Planwirtschaft. Von der Arbeitseinweisung zur Arbeitskräftewerbung in der SBZ/DDR [1945–1961]). 

In den westlichen Besatzungszonen machte der Kontrollratsbefehl Nr. 3 eine deutlich bescheidenere Karriere. Die Dienstverpflichtungen nach § 18 blieben selbst dort erfolglos, wo es für die Volkswirtschaft dringend auf sie ankommen mochte. Hoffmann nennt das Beispiel des Steinkohle-Bergbaus im Ruhrgebiet – Bottrop oder Oberhausen waren durch die Kohle damals das schmutzige Abu Dhabi des kleinen Mannes. Dort schieden 73 Prozent der eingewiesenen Arbeiter im Jahr 1946 binnen Monatsfrist wieder aus. Seine starke Anziehungskraft bekam das Ruhrgebiet dann erst wieder, indem die Bergleute in Lohn- und Ernährungsdingen deutlich bessergestellt wurden.

Ihren Beitrag dazu, sich wieder einem funktionierenden Arbeitsmarkt anzunähern, leisteten Juristen im Westen, indem sie dem Widerspruch gegen die Einweisung in ein Arbeitsverhältnis durch das Arbeitsamt eine aufschiebende Wirkung bis zur gerichtlichen Klärung zubilligten. Dies machte sie als Mittel der Arbeitsmarktregulierung unattraktiv, gerade wenn ein Unternehmer auf ihm wohlgesonnene Arbeiter angewiesen war.

Bis zum Ende des Befehls: Zügelung des Besatzungs- durch Fortgeltung von NS-Recht

Auch von der drastischen Regelung, dass mit Geldstrafe, Gefängnis und Entzug der Lebensmittelkarten bedroht wurde, wer Beschäftigungsverhältnisse ohne Zustimmung des Arbeitsamts einging, rückten die Juristen beispielsweise in der Britischen Besatzungszone ab, indem sie die Fortgeltung des in diesem Punkt liberaleren Rechts aus der NS-Zeit unterstellten: Eine Zustimmungspflicht des Arbeitsamts hatte bereits die "Verordnung über die Beschränkung des Arbeitsplatzwechsels" vom 1. September 1939 geregelt, von einer harschen Sanktion für einvernehmliche Vorgänge zwischen Beschäftigten und Unternehmen jedoch abgesehen.

Im freien Teil Deutschlands beendete schließlich, wie der BGH in einem Urteil vom 29. November 1951 erklärte, das Kündigungsschutzgesetz vom 10. August 1951 den Versuch des Kontrollratsbefehls, den Arbeitsmarkt restriktiv durch das Arbeitsamt regulieren zu lassen (Az. III ZR 4/50).

Dass vom NS-Staat und den Besatzungsmächten alle Arbeitsverhältnisse unter staatliche Kuratel gestellt worden waren, nach dem Prinzip: "Wer dem Arbeitsamt nicht gehorcht, der soll auch nichts zu essen bekommen", bis Artikel 12 Grundgesetz und bald nach ihm das neue Kündigungsschutzgesetz dem ein Ende setzten, spielte in den Kontroversen der vergangenen Jahrzehnte zum Kündigungsschutzrecht kaum jemals eine Rolle.

Für ein vollständiges Bewusstsein der Freiheit, in der wir heute leben, ist auf diesen Befund jedoch kaum zu verzichten.

Hinweis: Der Kontrollratsbefehl enthält zwanzig nummerierte Absätze, die hier als Paragraphen zitiert werden.

Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor in Ohligs.

Zitiervorschlag

Arbeitspflicht statt Arbeitsrecht: Wer essen will, muss dem Arbeitsamt gehorchen . In: Legal Tribune Online, 17.01.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/44003/ (abgerufen am: 16.04.2024 )

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