Im Dezember 2014 beunruhigte ein britischer Kanzlei-Consultant die Branche mit Prognosen zum künftigen Marktwert einfacher juristischer Dienstleistungen. Über die Auswirkungen "Künstlicher Intelligenz" auf Karrierechancen von Juristen wird im angelsächsischen Raum schon länger diskutiert. Martin Rath träumt von Google Glass für Juristen. Und was würde das für die Examen bedeuten?
Die Abenteuer des Pizzalieferjungen Philip J. Fry, von denen die Zeichentrick-Serie "Futurama" erzählt, beruhen sicher nicht auf den realistischsten Überlegungen zur Zukunft der menschlichen Gesellschaft: Der Ärmste landet, nachdem er zum Jahreswechsel 1999/2000 durch einen bösen Streich in einer Kryonik-Einrichtung konserviert wurde, nach seinem Auftauen im Jahr 3000 gleich wieder in seinem alten Job als Lieferjunge – nur dass er seine Arbeitsleistung nun in einem Betrieb des Raumfrachtgewerbes erbringt.
Wäre der Pizzalieferjunge Anwalt, gäbe es seinen Job dann noch, in dieser fernen Zukunft? Mit ihrer Untersuchung "The Future of Employment: How Susceptible are Jobs to Computerisation" (dt. etwa: "Die Zukunft der Beschäftigung: Wie anfällig sind Berufstätigkeiten gegenüber der Computerisierung?") lösten die in Oxford arbeitenden Forscher Carl Benedict Frey und Michael A. Osborne Ende 2014 im englischen Sprachraum eine kleine Flut an Publikationen zur Zukunft der Arbeit aus (PDF). Das Ergebnis in Kürze: nachdem der Rationalisierungsdruck in den vergangenen Jahrzehnten vielen Arbeitsplätzen in schmutzigen und gefährlichen Tätigkeitsbereichen den Garaus gemacht hatte, jedenfalls in den einst industrialisierten Ländern des Westens, gehe es nun massiv den Jobs in den sauberen Büroberufen an den Kragen.
47 Prozent aller Beschäftigungen IT-bedroht
So mancher dieser Kragen wird im kleidungstechnischen Zusammenhang mit juristischen Berufstrachten zu finden sein. Durch die englischsprachige Publizistik der Juristenzunft wehte im Jahr 2014 jedenfalls die aufgeregte Frage, in welchem Umfang die eigenen Berufsfelder von der Prognose Freys und Osbornes betroffen sind, die nicht weniger als 47 Prozent der US-amerikanischen Beschäftigungsverhältnisse von den weiteren Schritten der Digitalisierung bedroht sehen.
Umstürzende Folgen insbesondere für nachgeordnete oder vorbereitende Arbeit, die heute noch von Rechtsanwaltsfachangestellten und jungen Rechtsanwälten in Lawfirms geleistet wird, sieht David Holme, Vorstandschef des internationalen Outsourcing-Anbieters Exigent, durch die Entwicklung leistungsfähiger Systeme der Künstlichen Intelligenz (KI): Als bedrohte Teilfunktionen werden das Zusammentragen fallrelevanter Informationen, die Prüfung rechtserheblicher Daten oder Dokumentationsaufgaben benannt, die von den "Bots" der IT-Systeme alsbald in erheblichem Umfang übernommen würden, soweit dies in anvancierteren Anlagen nicht schon geschieht.
Prognosen, die an ihren Vorfahrinnen leiden
Zuletzt kündigte eine Studie des britischen Beratungsunternehmens Jomati Consultants im Dezember 2014 den durchgreifenden Einsatz von Künstlicher Intelligenz in der Branche für das Jahr 2030 an. Die umfangreichen Datenbestände der großen Rechtsberatungsunternehmen würden dann von "Knowledge bots" durchforstet, deren Leistungsfähigkeit weit über die heutigen Systeme des Wissensmanagements hinausgingen.
Derartige Prognosen leiden gern ein wenig an der überbordenden Phantasie, die mit Fragen der sozialen Auswirkungen technischer Systeme einhergeht. Die Geschichte sozialtechnologischer Spekulationen hat gewiss einen Schlag ins Komische: Bereits 1973 sollte beispielsweise in Chile mit Hilfe der richtigen Software der Sozialismus etabliert werden. Der Militärputsch verhinderte, dass diese Idee an ihrer eigenen Unzulänglichkeit scheitern konnte.
Schon für das Jahr 2029 sieht der auch hierzulande recht bekannte US-Technologiefantast Ray Kurzweil die Möglichkeit kommen, dass Mensch- und Maschinenbewusstsein hybride Einheiten bilden könnten. Staatsnahe Berufsausübende haben hier leicht Bedenken: In Deutschland müssen sich heute Rechtsanwälte bekanntlich immer noch ernsthaft mit Justizdienststellen über die Anschlussnummern von Fax-Geräten streiten, Richter diktieren Aktennotizen über die Nichtherausgabe von E-Mail-Adressen, die dann von Schreibstellen-Mitarbeitern auf graues Papier gebracht werden – hierzulande striegeln wohl doch zu viele Justizwachtmeister das Amtsross, als dass man den Technologieprophezeiungen und den Unkenrufen zu den sozialen Auswirkungen künstlicher Intelligenz anders als skeptisch gegenüberstehen könnte. Und diese Haltung wird von akademischen Beobachtern der Automatisierungsthematik durchaus geteilt.
2/2: Systeme der erweiterten Realität
Bis sich eine Kanzlei ein derzeit mit rund einer halben Million US-Dollar Anschaffungskosten veranschlagtes KI-System anschaffen wird, das Akten und andere Vorgänge so gut aufbereiten und recherchieren soll, wie es derzeit die Rechtsanwaltsfachangestellten oder die aufgeweckteren Jurastudenten unter den Praktikanten tun, wird darum wohl noch viel Spreewasser durch mitteldeutsche Gurkenanbaugebiete fließen. Eine kleine technische und soziale Spekulation mag aber vielleicht dazu dienen, das Jahr 2030 als Zielmarke für grundlegende Veränderungen in den juristischen Dienstleistungen im Auge zu behalten.
Vorausgesetzt sei: Angetrieben durch die Spiele- und die Werbewirtschaft machen sich in den nächsten Jahrzehnten technische Systeme im Alltag breit, wie es das Mobiltelefon in den vergangenen vielleicht 15 Jahren tat. Sie bündeln technisch-soziale Funktionen, die buchstäblich ins Auge gehen: Man denke sich eine KI-Brille, die Bilderfassungs- und Bildausgabefunktionen enthält und in Echtzeit mit digitalen Netzwerken verbunden ist.
Derzeit gelten solchen Systemen, wie sie namentlich von der Firma Google in Alltagstestläufe gebracht wurden, vor allem Datenschutzbedenken. Spätestens wenn jeder Rollator mit GPS ausgestattet ist, weil man anders mit der Zahl an frühdementen Menschen nicht mehr zurande kommt, wird man derlei Bedenken wohl in den Wind schreiben. Den Nutzen, den Systeme der "erweiterten Realität", wie sie KI-Brillen eröffnen, für kranke wie gesunde Menschen bringen können, wird man vermutlich weniger hysterisch diskutieren als seinerzeit die Einführung von "Street Maps" in Deutschland.
Die Brockovich-App und was von den Staatsexamen bleibt
Eine KI-Brille in der Anwaltskanzlei oder Lawfirm könnte die soziale Hierarchie und damit die Arbeitsverhältnisse in zwei Richtungen umwälzen. In den Prognosen wird derzeit vor allem dem hochkarätigen Lawfirm-Anwalt eine immer noch rosige Zukunft vorhergesagt, weil die KI-Systeme seine Kernkompetenz im direkten Kundengeschäft nicht ersetzen könnten. Was aber, wenn eine KI-Brille so profane Dinge tut, wie die Blickrichtung ihres Trägers aufzuzeichnen?
Stellen wir uns eine Angestellte ohne Examina vor, die durch diesen Mechanismus exakt dazu angehalten wird, absolut jedes Blatt einer Akte (Papierakten werden 2030 vielleicht noch vom berittenen Justizwachtmeister aus den spreewäldischen Amtsgerichten gebracht), auf jedem Blatt wiederum jede Information zu lesen – wobei in Echtzeit die jeweils fallrelevanten Hintergrundinformationen und Norm-Kommentare aus dem Netz geliefert, ins Brillen-Display eingeblendet werden: In wie vielen Aspekten unterschiede sich die mögliche Leistung einer rechtswissenschaftlich nur halbgebildeten Person mit der Erin-Brockovich-App in der KI-Brille noch vom doppelt staatsexaminierten Rechtsdienstleister?
Die Frage soll die intellektuelle und biografische Leistung, die mit der "Befähigung zum Richteramt" verbunden ist, nicht in Abrede stellen. Aber mit dem Gedanken, dass technische Neuerungen binnen recht überschaubarer Zeit starke Veränderungen in der Arbeitswelt der juristischen Berufe nach sich ziehen werden, muss man sich wohl anfreunden.
Fraglich ist, welche Technik es sein wird. An welcher Stelle in der sozialen Hackordnung der Einkommensklassen es zum größten Federlesen kommen wird, Prognosen wie jene von Frey und Osborne gehen meist von Verlusten in den geringer qualifizierten Bereichen aus, darf man daher mit Skepsis betrachten – das wird vermutlich stark davon abhängen, welche technischen Tools die Veränderung bewirken mögen. In den Prognosen werden überwiegend Top-down-Techniken berücksichtigt, zuletzt etwa die künstliche Kanzlei-Intelligenz, die Junganwälte und Fachangestellte verarmen lässt. Denkbar, wie angedeutet, ist aber wohl auch eine Bottom-up-Technik, mit der sich das bisherige Fußvolk zusätzliche Fachintelligenz aneignet und die juristischen Silberrücken Mores lehrt.
Zum Trost: Frys "Futurama"
Trost angesichts der beunruhigenden Perspektiven von Frey & Osborne spendet die Welt des Lieferjungen Stephen J. Fry. Auch in der burlesken Zukunftswelt von "Futurama" tritt eine Anzahl von Juristen aus der Gegenwart und jüngeren Vergangenheit auf. Beispielsweise ist Antonin Scalia, der heute 78-jährige beisitzende Richter am U.S. Supreme Court, immer noch als "Justice of The Supreme Court of Earth" tätig.
Lassen wir die etwas unfeine Funktion von Technik in dieser Phantasiejustiz der Zukunft beiseite, in "Futurama" treten die mehr oder weniger ehrenwerten Richterinnen und Richter als Köpfe im Marmeladenglas auf. Tröstlich ist, so unappetitlich das Zeichentrickbild ist, die Auswahl der "Futurama"-Schöpfer: Antonin Scalia gilt, trotz seiner bald 79 Lebensjahre, als einer der fleißigsten Richter des obersten US-Gerichts. Daraus folgt: Unabhängig davon, worauf sich Menschen durch technische Innovationen noch werden reduzieren lassen müssen: Es überleben, wie es scheint, doch stets jene, die die Arbeit machen, statt bloß darüber zu reden.
Martin Rath, Künstliche Intelligenz statt Anwälten?: Juristenverarmung mit der Brockovich-App . In: Legal Tribune Online, 11.01.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/14326/ (abgerufen am: 19.03.2024 )
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