Einem ehemaligen Anwalt wurde 1960 attestiert, dass die Bremer Behörden ihn zu Recht als Objekt des Erkennungsdienstes behandelten – 23 Jahre, nachdem die Gestapo wegen des Verdachts homosexueller Handlungen gegen ihn vorgegangen war.
Vielleicht folgt auf die deutsche Anwaltschaft eines Tages der Bundeswehr – wenn es um die Frage geht, wie ernst es die Gesellschaft mit dem Versuch nimmt, historisches Unrecht aufzuarbeiten.
Als ein solches Unrecht wurde bekanntlich im Jahr 2017 durch das "Gesetz zur strafrechtlichen Rehabilitierung der nach dem 8. Mai 1945 wegen einvernehmlicher homosexueller Handlungen verurteilten Personen" ein Teil der Strafverfolgung auf Grundlage der früheren §§ 175, 175a Strafgesetzbuch (StGB) vom Bundesgesetzgeber gewürdigt.
Nachdem das Gesetz am 22. Juli 2017 in Kraft getreten war, zögerten die Bundesministerinnen der Verteidigung Ursula von der Leyen (CDU, 1958–) und Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU, 1962–) noch eine Weile, bis die lange Zeit üblichen Sanktionen und Karrierehindernisse für die betroffenen Männer in ihrem Geschäftsbereich zum Gegenstand öffentlich erklärter Bemühungen wurden.
Im Februar 2020 ließ Ministerin Kramp-Karrenbauer eine Anfrage aus der FDP-Bundestagsfraktion noch verneinen, ob nun auch eine Aufhebung einschlägiger truppendienstgerichtlicher Entscheidungen beabsichtigt werde, weil ihnen "der besondere Strafmakel einer strafrechtlichen Verurteilung nicht eigen" sei (Drucksache 19/17305).
Kein halbes Jahr später, nachdem eine militärgeschichtliche Studie (Präprint) zum Umgang der Streitkräfte mit der Homosexualität in den Jahren 1955 bis 2000 vorgelegt worden war, folgte jedoch schon das erklärte Bedauern Kramp-Karrenbauers.
Sollte es nicht bei Bekundungen bleiben, werden sich absehbar Sachverhalte auftun, die nur schwer neu zu bewerten sind – beispielsweise dann, wenn unter den Angehörigen der kasernierten Staatsgewalt sexuell nur unhöfliches und klar missbräuchliches, einerseits ethanolgetränktes, andererseits durchaus zurechnungsfähiges Verhalten bunt gemischt zusammenkamen. Ein instruktives Beispiel für derartige Vorgänge mit kräftigem Zeitkolorit aus den 1980er Jahren bietet etwa das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) vom 27. Juni 1985 (Az. 2 WD 26/84).
Fall aus der Ehrengerichtsbarkeit mit Spur bis ins Melderegister
Vergleichbare Mühen könnten auf die Anwaltschaft auch zukommen. Unter den ersten Entscheidungen des BVerwG zur Durchführung erkennungsdienstlicher Maßnahmen nach § 81b Strafprozessordnung (StPO), findet sich beispielsweise ein Sachverhalt, der weiterer Aufklärung bedarf – jedenfalls dann, wenn sich die früher sogenannte Ehrengerichtsbarkeit der Anwaltschaft dem Versuch anschließen sollte, alten oder längst verstorbenen Menschen nachträglich die neu entdeckte Gerechtigkeit zuteilwerden zu lassen.
Mit Urteil vom 25. Oktober 1960 (Az. I C 63.59) entschied das BVerwG in der Sache eines ehemaligen Anwalts, der im Jahr 1937 von der Geheimen Staatspolizei "wegen des Verdachts homosexueller Betätigung" der Kriminalpolizei "zugeführt" worden war.
Daraufhin war er durch ehrengerichtliches Urteil aus der Rechtsanwaltschaft ausgeschlossen worden. Nach dem Zweiten Weltkrieg war zwar ein wegen homosexueller Betätigung ergangenes Urteil des Amtsgerichts Hamburg aufgehoben worden. Bis 1960 erfolgte jedoch keine Rückkehr in den Anwaltsberuf.
Der ehemalige Anwalt begehrte, dass die 1937 auf Veranlassung der Gestapo von der Bremer Polizei angefertigten erkennungsdienstlichen Unterlagen – Fingerabdrücke und Fotografien – vernichtet werden. Sein Anliegen war es zudem, dass aus seiner beim Einwohnermeldeamt geführten Meldekarte ein Vermerk beseitigt wird, der seinen Ausschluss aus der Rechtsanwaltschaft dokumentierte. Dass ihn die Bremer Polizei zudem in einem "Verbrecher-Album" verewigt hatte, bestritt die Behörde – wenn auch nur zur Überzeugung der Bundesrichter – glaubwürdig.
Mit seinem Anliegen scheiterte der Jurist auf ganzer Linie. Nach Ansicht des Verwaltungsgerichtshofs – heute Oberverwaltungsgericht – Bremen war die Aufbewahrung der 1937 aufgenommenen Fotografien und Fingerabdrücke durch die Polizeibehörde weiter von § 81b StPO gedeckt. Der Melderegister-Vermerk über das ehrengerichtliche Urteil sei nach bremischem Gewohnheitsrecht zulässig.
Finstere Aspekte liegen nicht nur in der älteren Sexualmoral
Das BVerwG war in dieser Sache sichtlich mehr an der Klärung organisatorischer Kompetenzen denn an grund- und menschenrechtlichen Aspekten interessiert.
Denn in den ersten Nachkriegsentscheidungen zu § 81b StPO war die eher dogmatische Frage diskutiert worden, ob wegen der polizeilichen Eingriffe in das Persönlichkeitsrecht – die Erfassung der Fingerabdrücke und die Anfertigung von Fotografien für die Kartei verdächtiger Menschen – der Verwaltungsrechtsweg gegeben sei oder nur im Rahmen des etwaigen Strafverfahrens Beschwerde dagegen erhoben werden könne (BVerwG, Urt. v. 03.11.1955, Az. I C 176.53).
Dem historischen Gesetzgeber war ein besonderes Bedürfnis, hier dem Bürger gegenüber Polizei und Justiz den Rücken zu stärken, kaum nachzusagen – denn die Ermächtigungsgrundlage zur erkennungsdienstlichen Erfassung von Beschuldigten war zum 1. Januar 1934 durch eines der Ausführungsgesetze zum sogenannten Gewohnheitsverbrechergesetz in die StPO aufgenommen worden.
Auf den Rechtsschutz nur im Zusammenhang mit einem eventuell noch einmal gegen ihn in Gang gesetzten Strafverfahren wollte das BVerwG den ehemaligen Anwalt zwar nicht verweisen: Die damals neue verwaltungsgerichtliche Generalklausel, § 40 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) hatte den bisher in kompetenziellem Flickwerk verfangenen Verwaltungsgerichtszweig munter gemacht, zum anderen war hier klar, dass die Fotografien und Fingerabdrücke einstweilen für präventiv-polizeiliche, nicht für strafrechtlich-repressive Zwecke vorrätig gehalten wurden.
Mit seinen menschenrechtlichen Argumenten und der Idee, dass die Beteiligung der Gestapo die ganze Sache 1937 kontaminiert haben könnte, fand der ausgeschlossene Anwalt jedoch wenig Gegenliebe bei den Bundesrichtern.
So habe die Kriminalpolizei, nachdem die Gestapo ihn "zugeführt" hatte, einen eigenständigen Verdacht homosexueller Tätigkeit gegen den ehemaligen Anwalt entwickelt, der auch "vor den Strafgerichten nicht ausgeräumt worden" sei. Daran ändere auch der Umstand nichts, dass in der Nachkriegszeit das Strafurteil des Amtsgerichts Hamburg aus dem Jahr 1937 aufgehoben worden war. Mochte Artikel 6 Abs. 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) neuerdings – seit 1953 – auch vorgeben, dass jeder für unschuldig zu gelten habe, bis der gesetzliche Beweis der Schuld erbracht ist, müsse dies die Kriminalpolizei in ihrer Präventionsarbeit gegen homosexuelle Umtriebe nicht kümmern. Das Gericht erklärte ein von jedem Zweifel befreites Vertrauen in die Sachkunde dieser Behörde:
"Die Zwecke des Erkennungsdienstes ergeben sich aus den Aufgaben der Kriminalpolizei, die Bevölkerung vor Vergehen und Verbrechen zu schützen. Hierzu ist ihr die Befugnis erteilt worden, von Personen, die eines Vergehens oder Verbrechens verdächtig sind, die erkennungsdienstlichen Unterlagen aufzunehmen. Wie weit im Einzelfall die Unterlagen für den Erkennungsdienst notwendig sind, ergibt sich aus den kriminalistischen Erfahrungen und Erkenntnissen. Diese Erkenntnisse gehen dahin, daß bei Personen, die zu homosexueller Betätigung neigen, in besonderem Maße die Gefahr von Wiederholungen besteht und ihre erkennungsdienstliche Erfassung zum Schutze der Allgemeinheit notwendig ist."
Polizeilicher Gotteskomplex statt datenschutzrechtlicher Druckempfindlichkeit
Wird heute mitunter beklagt, dass eine gewisse Grundempfindlichkeit im staatlichen Umgang mit Daten der Bürger wahlweise einer effizienten Verwaltungsarbeit oder Deutschlands Platz an der Sonne der digitalisierten Weltwirtschaft im Wege stehe, wird hier noch ein sehr robustes richterliches Vertrauen in die polizeiliche Kartographierung eines stets drohenden Verbrechertums erkennbar.
So wurde nicht nur die skandalöse Erfassung von "Zigeunern" nach dem Völkermord an ihnen recht bruchlos, teils mit neuem Eifer fortgesetzt, in diesem Fall musste der Jurist nach Ansicht des BVerwG hinnehmen, dass im Bremer Melderegister sein Ausschluss aus der Rechtsanwaltschaft vermerkt bleibe, weil die hier geführten "sogenannten polizeilichen Listen" nur als das schützenswerte Gedächtnis der Behörde zu potenziellen Verbrechern zu betrachten seien – bundesrechtliche Vorgaben zum Strafregisterwesen blieben unverletzt, weil solche Kartei-Einträge nicht zu amtlichen Mitteilungen über Strafen genutzt würden.
Perspektivwechsel statt ministerieller Public-Relations-Übungen
Das vom seinerzeitigen Verbraucherschutz- und Justizminister Heiko Maas (SPD, 1966–) promovierte Gesetz zur strafrechtlichen Rehabilitierung nach dem Zweiten Weltkrieg verfolgter homosexueller Männer traf auf ein deutlich geringeres Echo unter den vielleicht 50.000 Betroffenen als in der Öffentlichkeit – in den ersten beiden Jahren wurden keine 200 Anträge auf Entschädigungszahlungen wegen erlittener Nachteile gestellt.
Ob sich unter denjenigen, die in der Bundeswehr, der Anwaltschaft oder anderen Professionen mit berufsständischem Sanktionsregime wegen ihrer sexuellen Orientierung von rechtlichen Nachteilen betroffen waren, überhaupt genügend Menschen finden, um jetzt als historisches Unrecht entdecktes Staatshandeln individuell neu zu bewerten, lässt sich kaum einschätzen.
Ein Perspektivwechsel wie jener, dass der mutmaßlich homosexuelle Ex-Rechtsanwalt im Jahr 1960 vor den Augen der Polizei gleichsam Seite an Seite mit dem kaum schlechter gestellten "Zigeuner" stand, tut vielleicht eher not – ein historisches Bewusstsein dafür, in welcher Weise der Staat in Gestalt der §§ 81a ff. StPO seit 1934 über den Körper der ihm unterworfenen Menschen verfügt, erst recht.
Verfolgung homosexueller Anwälte: . In: Legal Tribune Online, 25.10.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/43198 (abgerufen am: 04.10.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag