Auf die schwierigsten Fragen suchen wir nach den einfachsten Antworten. Bei der Frage nach der Zukunft der Anwaltszunft hat Peter Kurer fünf davon ausgemacht. Keine davon ist falsch. Und zusammen ergeben sie ein Bild.
Der dänische Philosoph Sören Kierkegaard schrieb, das Leben lasse sich nur rückwärts verstehen, müsse aber vorwärts gelebt werden. Das zeigt die Größe der Herausforderung. Wir müssen und wollen unsere Zukunft gestalten. Wir wissen aber sehr wenig darüber, wie sich das Leben entwickeln wird und sind individuell wie kollektiv unfähig, selbst einfache Ereignisse der unmittelbaren Zukunft vorauszusagen.
Es gibt zwar Entwicklungen, die wir sehr präzise voraussehen können, vor allem solche, die durch technische und physikalische Gesetze geprägt sind. Wenn beispielsweise ein Airbus mit Vollgas über eine Startbahn donnert, nehmen wir an, dass er demnächst abhebt.
Stehen aber menschliche Verhaltensweisen im Vordergrund, dann verflüchtigt sich unsere Voraussagekraft rasch. Wir werden von Ereignissen überrascht, die unmittelbar anstehen. Nehmen wir zum Beispiel die britische Abstimmung über den Brexit. Selten wurde ein solcher Aufwand betrieben, um den Ausgang eines Ereignisses vorauszusagen: Hunderte von Meinungsumfragen, Wetten und raffinierte Prediction Platforms kamen zum Einsatz. Im Nachhinein erwies sich alles als Unfug, insbesondere in der verwirrenden Kombination.
Einfache Theorien für die schwierigsten Fragen
Der traditionelle Anwalt meidet die Begegnung mit seiner eigenen Zukunft. Er ist konservativ, und es geht ihm gut. In den letzten Jahren ist indessen der ökonomische Druck auf den Berufsstand als Folge der Finanzkrise, der zunehmenden Digitalisierung und der geopolitischen Verwerfungen so gestiegen, dass sich mehr und mehr Anwälte der Herausforderung stellen und über ihre Zukunft diskutieren.
Diese Diskussionen gleichen aber oft eher einem Streitgespräch als einem ausgewogenen Diskurs über Optionen, Trends, Szenarien und Wahrscheinlichkeiten. Dies mag daran liegen, dass der Anwaltsberuf ein Streitberuf ist, eine Profession, in der sich Menschen dadurch profilieren, dass sie anderer Meinung sind und dagegenhalten. Aber es gibt noch einen anderen, tiefer liegenden Grund dafür: Gerade weil wir über unsere Zukunft so unsicher sind, legen wir uns oft sehr einfache Theorien über sie zu. Ich nenne diese einfachen Theorien Paradigmen.
Paradigmen sind sozusagen die Metaebene der Zukunftsdiskussion. Sie reflektieren eher eine bestimmte Sicht der Dinge als eine überzeugende empirische Analyse. Im Laufe vieler Diskussionen über die Zukunft des Anwaltsberufes habe ich im Wesentlichen fünf solcher Paradigmen aus der Diskussion herausdestilliert: Inkrementalismus, technologische Disruption, Verhaltensökonomie, geopolitische Analyse und ökonomische Betrachtung.
Der Inkrementalismus: more of the same
Der Inkrementalismus ist die Denkweise, die dem juristischen Denken am nächsten steht. Und er ist derjenige Ansatz, der nach meinem Empfinden von Vertretern des Anwaltsberufs am häufigsten und oft mit Verve vertreten wird.
Auch wenn das so kaum ausgedrückt wird, funktioniert der Inkrementalismus nach Schema: Die Welt verändert sich nicht sprunghaft, sondern langsam und in kleinen Schritten. So wie sich Gesetze und Rechte im Laufe der Zeit durch zahlreiche Modifikationen, durch Gesetzgeber oder Richter weiterentwickeln, so ändert sich auch der Anwaltsberuf eher in kleinen Schritten als in Quantensprüngen. Deshalb wird er auch auf lange Sicht in der Substanz gleich bleiben.
Facetten dieser Sicht sind: Es gibt immer mehr Gesetze und Regulierung. Die Rechtsrisiken für Unternehmen nehmen ständig zu, und deshalb werden diese mehr Geld für deren Kontrolle ausgeben. Und wenn es mehr rechtliche Probleme gibt, brauchen wir auch mehr Juristen. Also: More of the same.
Überflüssig durch Technik oder erst gar nicht mehr nötig: eine Welt ohne Anwälte
Das Paradigma der technologischen Disruption besagt demgegenüber, dass die technologische und digitale Revolution bald so weit fortgeschritten sein wird, dass Juristen durch Algorithmen, künstliche Intelligenz und Big Data ersetzt werden. So wie Uber das klassische Taxigewerbe zerstört, würden diese Fortschritte eines Tages den Anwaltsberuf überflüssig machen. Am Ende dieser Entwicklung stünde eine Welt ohne Anwälte.
Das Paradigma der technologischen Disruption ist sicherlich heute die vorherrschende Theorie der juristischen Futurologen, wie nicht zuletzt die Agenda des Zukunftskongresses, aber auch des Anwaltstags 2017 zeigt. Es wurde maßgeblich durch die bahnbrechenden Bücher von Richard Susskind geprägt.
Indessen gewinnt in den letzten Jahren auch eine andere Sichtweise an Einfluss, die gerade nicht von der Technologie, sondern vom menschlichen Verhalten herkommt. Es ist dies das Paradigma der Verhaltensökonomie, entwickelt von maßgebenden Ökonomen und Psychologen wie Daniel Kahneman, Dan Ariely, Richard Thaler, Ernst Fehr, Cass Sunstein und anderen.
Diese Wissenschaftler betreiben empirische Forschung über das Verhalten von Menschen, d.h. sie untersuchen, wie diese sich unter gewissen Bedingungen verhalten oder wie sie sich motivieren lassen. Einige dieser Verhaltensökonomen forschen und beraten zunehmend im Bereich von rechtlichen und Complianceproblemen. Sie suchen die Antworten auf neue Fragen wie zum Beispiel Wie kann ich meine Mitarbeiter so beeinflussen, dass sie die Complianceanforderungen auch wirklich einhalten oder sich ethisch korrekt verhalten?
Wie auch die Technologie arbeitet die Verhaltensökonomie an einer radikalen Substitution der klassischen juristischen Tätigkeit: An die Stelle des alten Paradigmas von Regelbildung und Sanktion tritt ein neues, das im sanften Beeinflussen des menschlichen Verhaltens besteht.
Mehr oder weniger rule of law?
Das vierte Paradigma ist die geopolitische Betrachtungsweise. Sie besagt, dass unsere Zukunft nicht durch technologische oder verhaltensökonomische Aspekte, sondern durch gewisse Makrotrends geprägt wird. Die Welt hat in den letzten dreißig Jahren einen einzigartigen Globalisierungsschub erlebt. Bei geopolitischer Betrachtungsweise ist dies der wahre Grund dafür, dass das rechtliche Umfeld so viel komplizierter wurde und es so viel mehr Arbeit für Juristen gibt.
Von hier an teilt sich das Paradigma jedoch in zwei Unterkategorien: Die eine, optimistische, sagt, dass die Welt zurzeit eine Pause von der Globalisierung einlege, diese aber bald wieder mit voller Kraft zurückkommen werde. Dies bedeute dann noch mehr rechtliche Probleme, noch mehr komplizierte Transaktionen, noch mehr Bedarf an Juristen und noch größere und globalere Anwaltsfirmen.
Im Kontrast dazu geht eine andere Theorie davon aus, dass die eigentliche Globalisierung am Ende sei, die Welt zunehmend in regionale Blöcke zerfalle, die Barrieren für Handel und Kapitalfluss wieder höher würden, und die ganze Welt mehr und mehr von fragilen Staaten und Terrorismus beherrscht werde. In dieser Welt neige sich das Zeitalter der „rule of law“ und des wohlgeordneten Nationalstaates zunehmend dem Ende zu. In einer solchen Welt brauche es keine Juristen mehr, weil es kein Recht mehr gibt.
Juristen als Manager des Risikos Recht
Eng damit verwandt ist das ökonomische Paradigma einer rein betriebswirtschaftlichen Betrachtung. In der neuen Weltordnung wird es für Unternehmen zunehmend schwierig, Wachstum zuzulegen und gute Margen zu erzielen. Die Konkurrenz wächst durch den Eintritt neuer Mitbewerber aus Ländern wie China oder Indien, und deshalb stagniert die Realwirtschaft.
Zugleich geraten insbesondere große, globale Unternehmen zunehmend unter regulatorischen Druck, werden häufiger auf Zahlung horrender Summen verklagt und müssen hohe Bußgelder an Aufsichts- und Strafverfolgungsbehörden zahlen.
In dieser Welt wandelt sich das Recht. Es wird vom Ordnungsrahmen zu einem reinen Risikofaktor, der möglichst effizient gemanagt werden muss. Unternehmensführer wollen jetzt keine teuren und smarten Juristen mehr; nein, sie wollen einfach möglichst kostengünstige Managementprozesse, die ihnen die rechtlichen Probleme ohne großes Aufheben aus dem Weg räumen. More for less, ist der Schlachtruf dieses Paradigmas.
Nicht länger die Hüter des heiligen Grals
Es gibt mehr als eine Zukunft. Alles hängt davon ab, welche Brille man gerade trägt. Jede dieser Brillen hat ihre Berechtigung, aber keine bringt für sich allein die wirklich klare Sicht. Der Anwaltsberuf hat sich immer entwickelt, und oftmals mehr inkremental als disruptiv.
Wir sehen nun aber in vielen Bereichen einen ungeheuren Durchbruch der Digitalisierung. Es wäre naiv, zu glauben, die Anwälte blieben von dieser Entwicklung verschont.
Auch die sanften Technologien zur psychologischen Beeinflussung unseres Verhaltens werden in unserer multikulturellen Welt wichtiger. Die Globalisierung ist eine Tatsache. Das gilt aber ebenso für die zunehmende Fragmentierung der Welt, geopolitische Brüche und die damit verbundenen Herausforderungen für Unternehmensführer. Die Mandanten können sich keinerlei rechtliche Sentimentalitäten oder Ineffizienzen mehr leisten.
Verknüpft und vernetzt man die fünf Paradigmen, kann man schlussfolgern: In der neuen Welt der Zukunft braucht es wohl immer noch Anwälte. Aber sie werden wohl nicht mehr dieselbe große Rolle spielen wie in den vergangenen dreißig Jahren der rauschenden Globalisierung.
Sie wandeln sich vielmehr vom Gralshüter der rechtlichen Weisheit zu Technokraten, die im Verbund mit anderen Spezialisten wie Technologieexperten, Compliancemanagern, Revisoren, Analysten, Kommunikationsspezialisten, Projektmanagern und Psychologen arbeiten. Diese multidisziplinären Teams, die man in modern geführten Unternehmen bereits in statu nascendi beobachten kann, werden feingewobene und effiziente Prozess steuern, um die Rechtsrisiken zu kontrollieren. Sie ersetzen den klassischen Anwalt, der die Oberhoheit über alle rechtlichen Probleme verloren und eine neue, bescheidenere Rolle als Fachexperte unter vielen gewonnen hat.
Peter Kurer, Autor von Legal and Compliance Risk – A Strategic Response to a Rising Threat for Global Business (Oxford University Press 2015). Er ist Partner der private Equity Firma BLR, Mitglied des Steering Committees von Schönherr sowie Präsident des Telekomunternehmens Sunrise und des Verlages Kein & Aber.
Peter Kurer, Anwälte heute und morgen: Es gibt mehr als eine Zukunft . In: Legal Tribune Online, 03.10.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/20739/ (abgerufen am: 25.04.2024 )
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