Die Ablehnung des Westens: "Anti­im­pe­ria­lismus" vor Gericht

von Martin Rath

27.02.2022

In einem Urteil aus dem Jahr 1993 fasste das Bundesarbeitsgericht einmal in witziger Kürze zusammen, was es mit dem "Antiimperialismus" auf sich hat. Und auch andere westdeutsche Gerichte befassten sich mit dem Thema.

Dass beim Wechsel der Verfassung des Norddeutschen Bundes zur Reichsverfassung von 1871 die Bezeichnung des Staatsoberhaupts von "Bundespräsidium" in "Deutscher Kaiser" geändert wurde, dürfte heute bestenfalls noch Rechtshistoriker interessieren.

Nur fünf Jahre später gelang der britischen Regierung jedoch ein Coup, der diese Aufwertung nicht nur einholte, sondern völlig in den Schatten stellte: Der "Royal Titles Act" aus dem April 1876 regelte, dass Queen Victoria (1819–1901) zusätzlich zu ihren bisherigen Titeln in den Rang der "Indiæ Imperatrix" befördert wurde – zur "Kaiserin von Indien".

Das war mehr als nur ein neuer protokollarischer Status, um den preußischen König wieder im Rang auszustechen – der Titel der "Empress of India" vermittelte zudem ein romantisches Bild von der Herrschaft über tropisch ferne Länder, von Tee und Curry, von Mogulpalästen und – last but not least – vom Segen und Fluch des britischen Weltreichs.

DDR-Gesetzgebung verlangte antiimperialistische Erziehung

Es ist kaum anzunehmen, dass solche exotischen Details im Erziehungswesen der DDR jemals vermittelt wurden – denn unter Fernweh litten Mandy, Maik und Peggy als Insassen der SED-Diktatur ohnedies.

Jedoch verpflichtete § 1 Abs. 2 Jugendgesetz der DDR (1974) die Jugendlichen u. a. dazu, sich in "antiimperialistischer Solidarität" zu üben, und gab ihnen das Versprechen, dass ihr "Streben" danach, sich "offensiv mit der imperialistischen Ideologie auseinanderzusetzen … allseitig gefördert" werde.

Dass dieses Gesetz sämtliche DDR-Pädagogen anwies, "alle jungen Menschen zu Staatsbürgern zu erziehen, die den Ideen des Sozialismus treu ergeben sind, als Patrioten und Internationalisten denken und handeln, den Sozialismus stärken und gegen alle Feinde zuverlässig schützen", bot selbst politisch bedingt belasteten Lehrkräften nach 1990 eine Chance, ihren Beruf weiter auszuüben.

Ein Beispiel aus zahllosen arbeitsgerichtlichen Prozessen gibt das Urteil des Bundesarbeitsgerichts (BAG) vom 4. November 1993 (Az. 8 AZR 127/93): Eine vormalige Freundschaftspionierleiterin mit Lehrbefähigung in den Fächern Mathematik und Musikerziehung wehrte sich gegen die Kündigung ihres Beschäftigungsverhältnisses. Neben Zweifeln an der fachlichen Qualifikation ging es darum, ob sie sich durch ihre Position in der DDR für die Arbeit im nun freiheitlich-demokratischen Staat weltanschaulich diskreditiert hatte.

Das BAG schloss sich der Auffassung an, wonach die Tätigkeit als "hauptberuflicher Funktionär des sozialistischen Jugendverbands" der DDR zwar ein Indiz dafür sei, dass man sich "in besonderer Weise mit dem SED-Staat identifiziert" hatte, dies aber – wegen des zitierten § 1 Jugendgesetz – jeweils im Einzelfall konkret zu belegen sei.

Und zum gesetzlichen Erziehungsauftrag merkten die BAG-Richter hier auch erfrischend kurz an, was den Jugendlichen habe beigebracht werden müssen – und zwar "eine Ablehnung all dessen, was aus dem Westen (Imperialismus) kam".

Imperialismusvorwurf ist alt, aber jünger als man denkt

In dieser witzigen Formulierung des BAG, der SED-Erziehungsauftrag in Sachen Antiimperialismus habe schlicht bezweckt, Abscheu vor dem Westen zu vermitteln, lag keine allzu grobe Verkürzung der Sache – denn zum einen dürften die DDR-Pädagogen den Jugendlichen kaum die historischen Feinheiten des "Imperialismus"-Begriffs erschlossen haben, zum anderen war man sich für undifferenzierte, ja irrsinnige Propaganda nie zu schade.

Die Feinheiten des "Imperialismus"-Konzepts sind überraschend. Denn bis zum Ersten Weltkrieg – also ausgerechnet in der Zeit, in der die weltweiten Imperien der europäischen Staaten ihren Zenit erreichten – wurde noch so gut wie gar nicht von "Imperialismus" gesprochen. Oder wenn doch, oft in einem deutlich anderen Sinn.

Denker wie Constantin Frantz (1817–1892) oder Bruno Bauer (1809–1882) sahen zwar bereits Zusammenhänge zwischen einer kapitalistischen Ökonomie und der weltpolitischen Expansion, fassten sie jedoch unter Begriffe wie "Säbelherrschaft". Bauer kritisierte die Politik Bismarcks als imperialistisch – aber nicht etwa wegen der Eroberung von Kolonien in Übersee, sondern wegen des Versuchs seiner konservativen Staatsführung, die Zustimmung breiter Bevölkerungskreise unter Schwächung des liberalen Bürgertums zu erreichen: die Renten- und Krankenversicherung, ein Akt des "Sozialimperialismus".

Die Idee, dass die expandierende kapitalistische Marktwirtschaft und die politische Expansion der europäischen Mächte zusammenhingen und mit dem Begriff "Imperialismus" etikettiert werden könnten, verbreitete sich ganz vereinzelt seit dem Jahr 1900. Eine Art zwingendes historisches Entwicklungsgesetz zum Spiel von "Börse" und "Säbel" wollte dann im Jahr 1916 ein abgebrochener Jurist aus Russland erkannt haben, Wladimir Iljitsch Uljanow (1870–1924), besser bekannt unter dem Namen Lenin.

Selbst liberale und konservative Historiker billigen den sozialistischen Denkern zu, überhaupt eine entwickelte Theorie des "Imperialismus" formuliert zu haben – ohne die Augen davor zu verschließen, dass alsbald ihr propagandistischer Gebrauch gegenüber dem theoretischen Anspruch weit überwog.

Wirklichkeitsferner "Antiimperialismus"

Am Feld echten "antiimperialistischen" Widerstands hatte diese Propaganda meist kein vertieftes Interesse. Denn seine Helden hatten mit Sozialismus oft nichts am Hut. Es reichte von Roger Casement (1864–1916), der an der Aufdeckung der belgischen Kolonialverbrechen beteiligt war und 1916 in London als irischer Verräter hingerichtet wurde, über den bekannten indischen Rechtsanwalt Mohandas K. Gandhi (1869–1948) bis zu den mehr als 1.000 Menschen, die 1957 von den Briten in Kenia hingerichtet wurden – übrigens drei Jahre nachdem sie die Europäische Menschenrechtskonvention in ihrem Imperium für anwendbar erklärt hatten.

Die Propaganda der DDR und westdeutscher Linksextremisten lebte ihren "Antiimperialismus" derweil geographisch weitab vom britischen, französischen oder gar russischen Imperium aus – wie zahllose Urteile dokumentieren.

Beispielsweise griff der DDR-Funktionär Anton Plenikowski (1899–1971) die westdeutsche Justiz 1952 als "Vollstrecker der imperialistischen Willkürherrschaft" an. Sein Chef, Walter Ulbricht (1893–1973), fantasierte im gleichen Jahr davon, dass den "Terror-Aktionen der Adenauer-Regierung" durch einen antiimperialistischen Freiheitskampf der deutschen Arbeiterklasse begegnet werden müsse. Der Bundesgerichtshof (BGH) sah in solchen Ideen an sich, anders als zuvor das Landgericht Flensburg, noch nichts zwingend Hochverräterisches (Urt. v. 01.09.1954, Az. 6 StR 115/54).

Weniger freundlich ging die Justiz zehn Jahre später mit zwei niedersächsischen Funktionärinnen des "Demokratischen Frauenbunds" ins Gericht, die wegen Rädelsführerschaft in einer verfassungsfeindlichen Organisation, §§ 90a, 128, 129 Strafgesetzbuch (StGB), zu zehn Monaten Gefängnis verurteilt wurden. Sie waren beschuldigt, die Mitglieder der Bundesregierung "fortlaufend und planmäßig als Kriegstreiber, Imperialisten, Faschisten, als volksfeindlich, jugendfeindlich und kinderfeindlich, als brutal, skrupellos, unmenschlich, lügnerisch, verantwortungslos und verfassungsfeindlich geschmäht und angeprangert" zu haben: "Bundeskanzler Adenauer wolle die Söhne deutscher Mütter als Söldner verschachern, fordere dazu auf, kaltblütig die Massengräber vorzubereiten, gebe zynisch zu, daß seine Regierung gemeinsam mit den Hitlergeneralen einen Angriff gegen die Sowjetunion plane, trete in die Fußstapfen Hitlers und schrecke selbst vor einem Staatsstreich nicht zurück" (BGH, Urt. v. 04.02.1964, Az. 3 StR 53/63).

Antiimperialistisch durchgedreht auch ohne DDR

Ein gutes Beispiel dafür, welche Blüten die "antiimperialistische" Rhetorik trieb, gab der Strafverteidiger des Stuttgarter Anwalts Jörg Lang im Jahr 1974. 

Lang, laut "Spiegel" zunächst selbst eine Art Protegé des späteren Generalbundesanwalts Kurt Rebmann (1924–2005), war wegen Unterstützung einer kriminellen Vereinigung – der RAF-Terroristen Gudrun Ensslin und Andreas Baader – angeklagt, entzog sich jedoch, gegen Kaution auf freiem Fuß, dem Verfahren durch Flucht ins Ausland.

Sein Verteidiger verbreitete eine Presseerklärung, in der es u. a. hieß: "Die beispiellose Hetze, mit der der Staatsapparat der BRD, die Geheimdienste, die Regierung, die Krisenstäbe und Sonderkommissionen, Sicherungsgruppen und BGS-Einsatzkommandos, die gesamte kapitalistische Presse – den antiimperialistischen Kampf der RAF verfolgt haben und verfolgen, beweist nur, daß dieser Staat selbst eine vom US-Imperialismus besetzte Kolonie und seine Diener und Bosse dessen Agenten sind.

Das Konzept der perfekten jahrelangen Isolationsfolter gegen die politischen Gefangenen; die Isolations-, Konzentrations-, Gehirnwäschetrakts, die heute in die Gefängnisse eingebaut werden; das als Gerichtsgebäude getarnte Konzentrationslager in Stuttgart-Stammheim beweisen nur, daß der Faschismus nicht nur das Rezept des Imperialismus zur Ausbeutung und Unterdrückung der Völker der Dritten Welt ist, daß der Faschismus auch das Programm ist für den Bürgerkrieg gegen das Volk hier."

Zwölf Jahre später strafte der BGH diesen Irrsinn Lügen. Denn Lang hatte nach seiner Flucht Erfolg, als er wieder die Zulassung zur Anwaltschaft begehrte (BGH, Beschl. v. 26.05.1986, Az. AnwZ (B) 11/86). 

In handelsüblichen Justiz-Datenbanken finden sich viele Belege für derartige "antiimperialistische" Äußerungen, in jüngerer Zeit wild ergänzt um islamistische oder antisemitische Bausteine. Als Dokumente bilden sie die Spitze eines Eisbergs, wird hier der Irrsinn doch durch den behördlichen Zuständigkeitsfilter gesiebt.

Eines haben sie aber stets gemeinsam: Imperialistinnen und Imperialisten scheinen immer nur aus dem Westen zu kommen – "Ex oriente lux, ex occidente luxus" (Stanisław Jerzy Lec).

Zitiervorschlag

Die Ablehnung des Westens: "Antiimperialismus" vor Gericht . In: Legal Tribune Online, 27.02.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/47652/ (abgerufen am: 20.04.2024 )

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