Gubernative Rechtsetzung mit Social Software. Vaterschaft im 21. Jahrhundert. Oder Notwehr gegen Nichtstun. Es gibt Dissertationen, die viel besser sind als ihr Ruf. Eine Revue von Martin Rath.
Im Frühjahr 2011 verlor der strebsame und beliebte Nachwuchspolitiker Karl Theodor zu Guttenberg seinen juristischen Doktorgrad und seine politischen Ämter. Nicht erst seitdem stehen juristische, ja geisteswissenschaftliche Dissertationen verschärft im Verdacht, keinen großen Beitrag zur Wissenschaft oder gar zum Fortschritt der Gesellschaft zu leisten.
Von Zeit zu Zeit stellt LTO aktuelle Doktorarbeiten aus den Rechtswissenschaften vor, nicht zuletzt, um dieses unvorteilhafte Bild ein wenig zurechtzurücken. Junge Juristen und Sozialwissenschaftler mit rechtswissenschaftlichem Interesse tragen dazu bei, Antworten auf Fragen wie diese zu finden:
2/6: Desolate Gesetzgebung: Medizinische Forschung
Es wird von Seiten der pharmazeutischen Forschung erstaunlich wenig Zeit und Geld in die Entwicklung von Medikamenten investiert, die besonders gut zur Behandlung erkrankter Kinder geeignet sind. Meist wird als wesentliche Ursache für dieses Defizit, sicher nicht zu Unrecht, das mangelnde wirtschaftliche Interesse der Industrie genannt. Man verdient daran zu wenig.
In ihrer juristischen Dissertation "Forschung an Einwilligungsunfähigen" macht Scarlett Jansen auf eine verblüffende Rechtslage aufmerksam, die ebenfalls einen Beitrag zu Defiziten in der medizinischen Forschung leisten dürfte:
"Eine einheitliche, allgemeine Regelung bezüglich jeglicher Forschung an Menschen fehlt jedoch in Deutschland."
Ob es sich um Krankheiten von Kindern handelt oder um dementielle Leiden im Alter: Das erstmals bereits vom preußischen Kultusministerium im Jahr 1900 formulierte Prinzip, wonach medizinische Forschung am Menschen nur auf der Grundlage der freien, informierten Zustimmung der Betroffenen erfolgen soll, ist für wichtige Erkanktengruppen nur schwer zu erreichen. Jansen legt am Ende ihrer Auseinandersetzung mit dem Durcheinander des positiven Rechts der medizinischen Forschung an Einwilligungsunfähigen einen Gesetzentwurf vor.
Darüber, dass medizinische Forschung zu wichtig ist, als dass man sie den Medizinern und Pharmazeuten allein überlassen dürfte, herrscht wohl Konsens. Einen wichtigen Beitrag von juristischer Seite leistet nun:
Scarlett Jansen: "Forschung an Einwilligungsunfähigen". Insbesondere strafrechtliche und verfassungsrechtliche Aspekte der fremdnützigen Forschung.
Berlin (Duncker & Humblot) 2015. Inaugural-Dissertation zur Erlangung eines Doktors der Rechte durch die Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Dekan: Prof. Dr. Klaus Sandmann. Erstreferent: Prof. Dr. Martin Böse. Zweitreferent: Prof. Dr. Hans-Ulrich Paeffgen. Tag der mündlichen Prüfung: 28. April 2014.
3/6: Kinder sind selten: Wie beeinflusst das Recht die Zahl derer, die um sie streiten?
Ging ein Kind früher vor die Haustüre, fand es ohne Mühe Altersgenossen zum Spielen oder Raufen. Das ist heute nicht mehr ohne ausgefeilte Terminplanung zu haben, was weniger mit ulkigen Eltern zu tun hat, die ihr digitales Spielzeug zu solchen Zwecken nutzen möchten.
Sie sind nur so unglaublich selten geworden, diese Kinder. Knappheit provoziert Streit. Etwas provokant scheint daher die Frage: "Wer hat das Recht zur rechtlichen Vaterschaft?", mit der Sandra Schröder ihre familienrechtliche Dissertation überschreibt. Schröder trennt zwischen den Anliegen des biologischen, des rechtlichen und des sozialen Vaters. Ein wenig provokant wirkt die Aussage, dass das "Institut der Vaterschaft […] grundsätzlich für mehrfache Vaterschaften offen zu sein" scheine.
"Mehrfache Vaterschaften": Gemeint ist damit natürlich nicht, dass mehr als die üblichen 1,38 Kinder je Frau gezeugt werden könnten. Das wäre ja zu einfach. Es geht stattdessen darum, dass sich heute mehr Anwärter finden, die ihr rechtliches Interesse an besagter eins vor dem Komma in die rechtspolitische und familiengerichtliche Arena tragen. Sandra Schröder leitet diese rechtlichen Interessen aus dem Wandel männlich-väterlicher Rollenverständnisse her und bezieht vorsichtig auch Auskünfte der Sozialbiologie ein.
Keine männer- oder frauenrechtliche Kampfschrift, sondern eine Bestandsaufnahme zur Entwicklung des heutigen Rechts der Vaterschaft(en) bietet:
Sandra Schröder: "Wer hat das Recht zur rechtlichen Vaterschaft?" Vorschlag zur Neugestaltung der rechtlichen Stellung des biologischen Vaters im Abstammungsrecht bei Bestehen einer sozial-familiären Beziehung zwischen Kind und rechtlichem Vater.
Frankfurt/Main u.a. (Peter Lang) 2015. Erstgutachterin: Prof. Dr. Bettina Heiderhoff. Zweitgutachter: Prof. Dr. Reinhard Bork. Tag der mündlichen Prüfung: 19. November 2014.
4/6: Intellektuell muss man Strafrecht lieben
Vor dem inneren Auge sieht man dämonisch grinsende Examensprüfer und Blut schwitzende Prüflinge der juristischen Zunft, deren Fantasie von bislang wenig diskutierten Fragen der strafrechtlichen Rabulistik angeregt wird. André Stahls strafrechtliche Dissertation "Notwehr durch Unterlassen" regt mit folgendem Fall an.
"Hindert der Vater V beispielsweise seinen Sohn S, einen Nichtschwimmer, nicht daran, in einem von gefährlichen Tiefen und Strömungen durchzogenen See zu baden, führt er durch Unterlassen eine Gefahr für das Leben seines Sohnes herbei."
Prüfen Sie, ob Förster F den V sofort mit seiner Flinte niederstrecken durfte oder ein Warnschuss erforderlich war.
Letzteres ist natürlich eine sarkastische Zuspitzung. André Stahl setzt sich in seiner Dissertation mit dem in der juristischen Praxis vernachlässigten Phänomen von Unterlassen auseinander, gegen das Notwehrhandlungen zulässig sein könnten. Das Reichsgericht hatte beispielsweise noch häufiger mit der Frage zu tun, ob gegen den auszugsunwilligen Wohnungsmieter nach dem Ende des Vertrags Notwehr wegen Hausfriedensbruchs möglich sei. Es verneinte das mit Blick auf die reine Passivität des Ex-Mieters. Vielleicht hielten es die Reichsgerichtsräte auch einfach für sozial inadäquat, wenn eher militärisch als juristisch ausgebildete Schutzmänner in Mietrechtsfragen das erste und das letzte Wort haben sollten. Vermutlich kümmerte man sich allein deshalb in den frühen Fällen eines möglichen Notwehrrechts gegen Unterlassen wenig um dogmatisch-rabulistische Trennschärfen.
Wenn hier ein wenig herumgealbert wurde, welche Erstsemester- oder Examensfragen aus der Figur des Notwehrrechts gegen Unterlassen geschöpft werden können, ist das ein bisschen unfair. Denn wer den allgemeinen Teil des Strafrechts nicht nur irgendwie "drauf haben", sondern wirklich verstanden haben will, sollte zu so scharfsinnigen Dissertationen greifen wie:
André Stahl: "Notwehr durch Unterlassen".
Inaugural-Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades eines Doktors der Rechte durch die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität zu Münster. Erster Berichterstatter: Prof. Dr. Mark Deiters. Zweiter Berichterstatter: Prof. Dr. Ulrich Stein. Dekan: Prof. Dr. Ingo Saenger. Tag der mündlichen Prüfung: 13. Januar 2015.
5/6: Inhaftiert werden dumme, nasse Alkoholiker
So grandios und intellektuell liebenswert die rabulistischen Leistungen der Strafrechtswissenschaft sind, so sehr hinterlässt die Strafrechtspraxis mitunter den Eindruck einer überforderten Kindergärtnerin, die nach einer Rauferei im Sandkasten den dümmsten und unsympathischsten Kampfzwerg zur Strafe in den Keller sperrt.
Man nehme die Ersatzfreiheitsstrafe, die ein Verurteilter zu verbüßen hat, wenn er Tagessätze seiner Geldstrafe nicht entrichtet hat. In der Justizvollzugsanstalt Berlin-Plötzensee wurden in den Jahren 1999, 2004 und 2010 Daten zu den "Ersatzstraflern" erhoben, was ihre rechtlichen, sozialen, psychologischen und – ansatzweise – psychiatrischen Umstände betraf. Ein kleines Zahlenspiel aus dem Jahr 2010:
Der Mittelwert ausstehender Geldstrafen lag bei 900 Euro. Ein Tag Haft kostet das Land Berlin circa 100 Euro. Überwiegend arbeitslos, mit einer Quote zwischen 34 Prozent (2010) und 77 Prozent (1999) alkoholabhängig, mit völlig unzureichender Schulbildung ausgestattet, sehr häufig als Heimkind aufgewachsen, alles andere als selten mit einer Geschichte vorangegangener Psychiatrie-Aufenthalte gesegnet: Die Befunde in Sebastian Schildbachs kriminologischer Dissertation zur Ersatzfreiheitsstrafe lesen sich wie ein moderner Charles-Dickens-Roman.
Wo es gelingt, die "Ersatzstrafler" dahin zu lotsen, ihre Geldstrafe durch gemeinnützige Arbeit abzudienen, sieht es etwas weniger schlimm aus. Sozialarbeiter helfen, aber da schimpfen so schlaue Köpfe wie Jan Fleischhauer bestimmt auch wieder. Noch eine Zahl für die Strafverteidiger unter unseren Lesern:
1999 waren rund 80 Prozent, 2010 immerhin noch 51 Prozent der befragten "Ersatzstrafler" ohne Hauptverhandlung nach Plötzensee gekommen.
Sebastian Schildbach: "Ersatzfreiheitsstrafe aus kriminologischer Sicht". § 43 StGB – funktional oder dysfunktional?
Epidemiologische Querschnittsuntersuchungen an Ersatzfreiheitsstrafern der Justiz-Vollzugsanstalt Berlin-Plötzensee in den Jahren 1999, 2004 und 2010. Unterensingen (Saturia) 2015. Dissertation zur Erlangung der Würde des Doktors der Dr. phil. Universität Hamburg. Vorsitzender: Prof. Dr. Olaf Asbach. Erstgutachter: Prof. Dr. Peter Wetzels, Zweitgutachter: Prof. Dr. Norbert Konrad. Drittgutachter: Prof. Dr. Bernd-Rüdeger Sonnen.
6/6: Der feuchte Traum piratischer Norm-Ingenieure?
Bürgerbeteiligung kann so aussehen: Alle vier bis acht Wochen gibt es eine Sitzung des Stadtrats, der man inzwischen mittels wackeligem Online-Streaming audiovisuell folgen könnte. Beschlussvorlagen sind einsehbar, soweit man bereit ist, sich alle verstreut abgelegten PDF-Dateien zu einem Vorgang zusammenzusuchen. Gewählte Ratsvertreter brauchen Stunden dazu, greifen daher lieber auf Drucksachen zurück, mit denen sie im Lauf eines Jahres ihr Körpergewicht mehrfach aufwiegen können.
Einen Bürgerhaushalt gibt es da und dort auch. Wer will, darf dann über einen Bruchteil eines Gemeindehaushalts mitbestimmen, was meist auch nicht mehr heißt als Prioritätswünsche anzumelden, die dann irgendwann später im Verfahren völlig untergehen.
Jeder Rechtsanwalt, der sich über das Faxgerät bei Gericht beschwert, ist eingeladen, in seiner Anwaltskammer Satzungsdiskussionen mittels Social Software zu etablieren.
So lässt sich vielleicht der erste Nutzwert der Dissertation "Gubernative Rechtssetzung mit Social Software" formulieren, die von Tanja Röchert-Voigt in Potsdam vorgelegt wurde. Mit "gubernativer Rechtssetzung" sind alle Vorgänge der Verwaltung gemeint, die für eine Vielzahl von Vorgängen normative Festlegungen treffen. Nach juristischer Rechtsquellenlehre ist damit das Spektrum von der Rechtsverordnung über die körperschaftlichen Satzungen bis hin zu untergesetzlichen Verwaltungsanweisungen gemeint.
Tanja Röchert-Voigt entwickelt ein System, mit dem sich der Einsatz von Social Software in den Kommunikationsprozessen planen lässt, die vor dem förmlichen Erlass der genannten "gubernativen" Normsetzungsgestaltungen vonstattengehen. Ein kommunaler Hauptverwaltungsbeamter, der sich nicht dem Vorwurf aussetzen möchte, die Bürger mit frucht- und folgelosen Beteiligungsritualen zum Narren zu halten, wird sich mit dieser Schnittstelle von Technik, Politik und Recht befassen müssen. Bundes- und Landesebene müssen schon vergleichsweise weit.
Auch Bundes- und Landesminister werden gut daran tun, ihre Bediensteten mit der passenden Social Software verstärkt in interne Normsetzungsprozesse einzubinden – und sei es nur, weil ihre Studienkollegen in der Privatwirtschaft ihre Geschäftsprozesse mit intelligenteren Kommunikationsmitteln organisieren als einem Faxgerät.
Tanja Röchert-Voigt: "Gubernative Rechtsetzung mit Social Software".
Berlin (Gito-Verlag) 2015. Dissertation zur Erlangung eines Doktors der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften (doctor rerum politicarum), vorgelegt der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Potsdam. Disputation am 13. Mai 2015.
Martin Rath, Dissertations-Revue: Notwehr gegen Nichtstun und Social Software . In: Legal Tribune Online, 27.09.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/17012/ (abgerufen am: 29.03.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag