Hype um Netflix-Serie "Adolescence": Wenn Kinder töten

von Katharina Reisch

12.04.2025

In der aktuell gehypten britischen Serie "Adolescence" kommt ein 13-Jähriger ins Gefängnis. Er hat seine Mitschülerin getötet. Die Serie erschüttert. Doch wie viel Wirklichkeit steckt in "Adolescence"? Katharina Reisch mit einem Realitätscheck.

 "Adolescence" ist anders. Die britische Netflix-Serie wird derzeit international durch die Decke gehyped wie kaum eine Serie vor ihr. Vier Wochen nach ihrer Veröffentlichung steht sie mit über 114 Millionen Aufrufen noch immer an der Spitze der weltweiten wöchentlichen Seriencharts. Schon jetzt ist sie eine der erfolgreichsten Netflix-Serien aller Zeiten. Die britische Regierung möchte "Adolescence" nun sogar an allen Schulen zeigen.

Klar ist: Die Serie trifft einen Nerv. Sie erschüttert. Doch wie viel Wahrheit zeigt sie? Wie realistisch ist die Darstellung der Ermittlungen gegen einen 13-Jährigen aus deutscher Sicht? Zeit für einen Realitätscheck.

"Ich hätte es besser machen sollen"

Im Zentrum der Serie steht der 13-jährige Jamie aus England. Ihm wird vorgeworfen, seine Mitschülerin Katie getötet zu haben.

In vier Episoden ist zu sehen, was nach der Tat geschieht: die Festnahme durch schwer bewaffnete Polizisten um sechs Uhr morgens. Die ungläubigen Eltern. Jamie, der sich in die Hose macht. Die Vernehmung auf dem Polizeirevier. Der ultimative Beweis im Video einer Überwachungskamera. Die Ermittlungen an Jamies Schule. Ein Meer aus Blumen für die getötete Katie. Die emotionalen Aus- und Zusammenbrüche ihrer besten Freundin. Ratlose Ermittler im Dschungel der sozialen Medien. Eine Psychologin auf Motiv-Suche inmitten eines wilden Strudels aus toxischer Männlichkeit, Incel-Kultur und Cybermobbing mit bunten Emojis. Jamies Familie neun Monate nach der Tat. Das "Pedo"-Graffitti auf dem Van seines Vaters. Die Häme der Nachbarn. Die impulsiv-explosive Wut eines Vaters, der viel zu spät erkennt: "Ich hätte es besser machen sollen".

Langjährige Haftstrafen für junge Teenager

"Adolescence" zeigt viel, geht ganz nah ran. An den Täter. Seine Gedanken. Seine Familie. Zeigt Unangenehmes, bis sich einem vor Fremdscham die Nackenhaare aufstellen. Die Serie will authentisch sein. Durch ihren aufwändigen One-Shot-Ansatz, bei dem jede Episode in einer einzigen Aufnahme gefilmt wurde, wirkt es, als wäre man selbst immer mitten im Geschehen. Wer zuschaut, soll schnell merken: "Adolescence" – das ist echt, das ist Hyperrealismus in 4K.

Aus englischer Sicht mag dies zutreffen. In England beginnt die Strafmündigkeit bereits ab zehn Jahren (Children and Young Persons Act 1933 Section 50). Dort gilt eines der strengsten Jugendstrafsysteme in Europa. Das Komitee für Kinderrechte der Vereinten Nationen (UN) kritisiert England hierfür schon seit Jahren. Der jüngste UN-Bericht zur Kinderrechtslage in Großbritannien von 2023 fordert umfassende Reformen einschließlich einer Anhebung des Strafmündigkeitsalters auf 14 Jahre.

Reagiert wurde hierauf bislang nicht. Erst letztes Jahr wurden in England zwei zur Tatzeit Zwölfjährige wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt, weil sie einen 19-Jährigen mit einer Machete erstochen haben.

Kinderkriminalität in Deutschland nicht strafbar

Deutschland geht mit solchen Fällen ganz anders um, als in "Adolescence" gezeigt.

Ein 13-Jähriger wie Jamie wäre in Deutschland auch wegen einer so schweren Straftat wie eines Tötungsdelikts nicht strafbar (§ 19 Strafgesetzbuch (StGB)). Ein Kind kann hierzulande nach ganz herrschender Meinung nicht Beschuldigter sein. Es darf mangels Anfangsverdachts nach § 152 Abs. 2 StPO kein Strafverfahren eingeleitet werden.

Und das ist richtig so.

Denn unter Resozialisierungsgesichtspunkten kann ein früher Kontakt mit dem Strafsystem nicht nur "wenig hilfreich", sondern "für die weitere Entwicklung sogar kontraproduktiv" sein, wie die Kriminologin Prof. Dr. Katrin Höffler und ihr wissenschaftlicher Mitarbeiter Hauke Bock jüngst mit Blick auf die empirische Forschungslage feststellten: "Je länger man Kinder aus dem Strafrechtssystem heraushalten kann, desto besser sowohl für das Selbstbild als auch für die Zukunftschancen".

Der frühere Richter am Bundesgerichtshof (BGH) und Vorsitzende des zweiten Strafsenates Prof. Dr. Thomas Fischer wies außerdem schon 2023 bei LTO darauf hin, dass der Strafgedanke der "Vergeltung" gegenüber Kindern "unangemessen und verboten" ist.

So soll die deutsche Polizei mit strafunmündigen Kindern umgehen

Trotzdem bleiben die Straftaten eines unmündigen Kindes auch in Deutschland nicht ohne jede Folge. Zwar kann ein Kind hierzulande nicht wie ein Beschuldigter behandelt und entsprechenden polizeilichen Maßnahmen unterworfen werden. Setzen sich Polizeibeamt:innen darüber hinweg und laden sie ein Kind, wie im Falle eines Berliner Sechsjährigen geschehen, als Beschuldigten vor, dann können sie sich sogar nach § 344 Abs. 1 StGB wegen der Verfolgung Unschuldiger strafbar machen.

Die Polizei ist aber trotzdem handlungsfähig. Sie kann ermitteln. Ihre Ermittlungen sind aber nur darauf auszurichten, ob zum Beispiel strafmündige Personen an der Tat beteiligt waren oder ob eine Verletzung der elterlichen Fürsorge- und Erziehungspflicht vorliegt. Festgehalten ist dies in der Polizeidienstvorschrift (PDV) 328 zur "Bearbeitung von Jugendsachen".

In dieser Verwaltungsvorschrift ist das Vorgehen detailliert beschrieben. Beispielsweise darf das Kind als Zeuge vernommen werden. Sollte es ein Zeugnisverweigerungsrecht haben, müssen das Kind und seine gesetzlichen Vertreter (meist Eltern) nach § 52 Abs. 3 StPO darüber belehrt werden (3.5.1 PDV). Außerdem sind Kinder nicht in Gewahrsamsräumen unterzubringen. Sie sind, wenn sie nicht dem Jugendamt überstellt werden, in anderen geeigneten Räumen unter polizeiliche Aufsicht zu stellen (6.1.2 PDV). Anders also als in "Adolescence": Dort hört man nämlich mutmaßlich erwachsene Beschuldigte auf der Polizeistation gegen ihre Zellentüren hämmern und Dinge brüllen wie "Ich tret‘ hier alles kurz und klein! Hört ihr mich, ihr Wichser?".

Das können die Jugendämter tun

Da eine so schwere Straftat wie ein Tötungsdelikt auch ein Indiz für eine Gefährdung des Kindeswohls und die soziale Entwicklung des Kindes darstellt, können auch Maßnahmen der Jugendhilfe nach dem Achten Buch Sozialgesetzbuch (SGB VIII) ergriffen werden. Daher wird auch das Jugendamt über die Tat informiert. Dieses verfügt über verschiedene Handlungsoptionen, die bis zur Inobhutnahme nach § 42 SGB VIII reichen.

Das niedersächsische Landesamt für Soziales, Jugend und Familie erklärt gegenüber LTO: "In der Regel dürfte es zu einer Herausnahme aus dem Elternhaus kommen. Es wird wohl ein akuter pädagogischer und therapeutischer Bedarf gesehen werden, der eine professionelle und vor allem intensive Betreuung erfordert und dem das Elternhaus zuvor offenbar nicht ausreichend gerecht werden konnte". Es komme jedoch stets auf die Umstände des Einzelfalles an. Gegebenenfalls sei auch eine anonyme Unterbringung möglich.

Zum Beispiel wurden die beiden strafunmündigen Mädchen, die 2023 die zwölfjährige Luise aus Freudenberg getötet haben, in Einrichtungen des Jugendamtes untergebracht.

Liegt eine psychische Erkrankung vor und stellt das Kind deshalb eine Gefahr für sich oder andere dar, kann es in einer kinder- und jugendpsychiatrischen Klinik untergebracht werden (§ 1631b BGB). Dieser Maßnahme müssen die Eltern oder ein Familiengericht zustimmen. Sie soll nicht der "Bestrafung", sondern dem Wohl des Kindes dienen.

"Adolescence" blendet die Opferperspektive völlig aus

"Adolescence" bildet noch in einem weiteren Punkt nicht die Realität ab – und zwar nicht nur die deutsche nicht, sondern jede: die Realität der Opfer. In der vierstündigen Serie findet die getötete Katie allenfalls im dramaturgischen Hintergrundrauschen statt. Sie ist nur auf Fotos zu sehen und einmal kurz in jenem Video, das ihre Tötung zeigt. Die emotionalen Ausbrüche ihrer besten Freundin werden vom ermittelnden Polizisten allenfalls mit irritiertem Stirnrunzeln quittiert: "Ich versteh’ nicht, warum dieses Mädchen so ausgeflippt ist".

Was stattdessen ausführlich gezeigt wird: Wie brachial Jamie festgenommen wird, wie er vor Angst und Verzweiflung weint, wie er mit einer Psychologin über seine verletzten Gefühle spricht und wie stark seine Familie unter den sozialen Folgen der Tat leidet. Zu sehen ist, wie Jamies Vater nicht einmal mehr unbehelligt im Baumarkt einkaufen kann und wie ihm sein 50. Geburtstag noch Monate nach der Tat durch öffentliche Anfeindungen versaut wird.

"Eher Verständnis für den Täter als Mitgefühl für das Opfer"

"Diese Perspektive ist sehr problematisch, da hierbei aus dem Blick verloren wird, was die Tat für das Opfer und dessen Umfeld bedeutet", sagt Juristin Lena Weilbacher, stellvertretende niedersächsische Landesvorsitzende beim Opferhilfeverein "Weißer Ring".

Durch die Unsichtbarkeit der Betroffenen entstehe bei "Adolescence" ein einseitiges Narrativ, das Opfer darauf reduziere, "Anlass für ein Verbrechen" und nicht mehr Mensch mit Persönlichkeit, Träumen und Beziehungen zu sein. "So entwickeln die Zuschauer:innen eher Verständnis für den Täter als Mitgefühl für die Opfer", so Weilbacher.

Wichtig sei aus Perspektive der Opferhilfe daher, auch die weitreichenden sozialen Folgen eines Gewaltverbrechens für die Betroffenen zu beleuchten. Diese betrauerten Weilbacher zufolge nämlich nicht nur den Verlust eines geliebten Menschen, sondern erlebten häufig Schuldgefühle ("Hätten wir es verhindern können?") und soziale Isolation oder Stigmatisierung.

"Adolescence" hätte seine Wirkung weit besser erzielen können, wenn die Perspektive der Betroffenen ebenso viel Raum eingenommen hätte wie jene des Täters. Es hätte etwa eine Folge mit einer Rückblende in Katies Leben vor der Tat geben können oder mit einem Gespräch zwischen einem Psychologen und Katies Eltern. "Nur durch diese Sichtbarmachung der Opferrealität kann langfristig Empathie gestärkt, Bewusstsein geschärft und echte Prävention gefördert werden", sagt Weilbacher.

Im Realitätscheck durchgefallen?

Ist "Adolescence" damit im Realitätscheck durchgefallen? Ja und nein. Aus englischer Sicht wird die Serie den Umgang mit dem 13-jährigen Jamie wohl realistisch abbilden. Aus deutscher Sicht aber ist das gezeigte Ermittlungsverfahren weit von der Wirklichkeit entfernt.

Ganz klar durchgefallen ist "Adolescence" aber in puncto Betroffenenperspektive. Oder, positiv gewendet: Hier besteht Potenzial für eine 2. Staffel. Möge Netflix es ausschöpfen.

Zitiervorschlag

Hype um Netflix-Serie "Adolescence": . In: Legal Tribune Online, 12.04.2025 , https://www.lto.de/persistent/a_id/56992 (abgerufen am: 25.04.2025 )

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