500 Jahre Bauernkrieg: Als Land­wirte noch lernten, sich zu arti­ku­lieren

von Martin Rath

02.03.2025

Die Zwölf Artikel der Memminger Bauernschaft des Jahres 1525 werden als Dokument gefeiert, das bereits auf moderne Menschenrechte vorausweisen soll. Mindestens ebenso sehr führen sie aber in eine sehr fremde Welt und juristische Denkweise.

Dem schottischen Schriftsteller Iain Banks (1954–2013) verdanken wir die Beschreibung einer Gesellschaft, die den menschlichen Verhältnissen unserer Gegenwart äußerst fremd ist.

In dieser Gesellschaft, kurz "die Kultur" genannt, bewohnen rund 18 Billionen Menschen und synthetische Intelligenzen, etwa in Gestalt von beseelten Drohnen und Raumschiffen, einen Zipfel der Galaxis von beachtlicher Größe – vielfach nicht auf Planeten, sondern in großen ringförmigen Habitaten in der Nähe von Sternen.

Die künstlichen Intelligenzen sind der biologischen weit überlegen, entwickeln aber oft einen leicht spleenigen Charakter. Informations- und Biotechnologie machen den individuellen Tod der Menschen unwahrscheinlich, für ihr Bewusstsein gibt es, solange sie das wollen, ein Back-up in einem neuen Körper.

Die soziale Ordnung "der Kultur" ist anarchistisch, auch wenn im Hintergrund ein Geheimdienst arbeitet. Möglich macht das ein Wirtschaftssystem, das eigentlich gar keines mehr ist, denn jede Knappheit an Geld oder Gütern ist durch die Verfügungsmöglichkeiten über Energie und formbare Materie beseitigt. Den Bewohnern "der Kultur" stehen alle Ressourcen unentgeltlich zur Verfügung, Eigentum haben sie faktisch nur an ihrer seelischen Gestalt.

500 Jahre in die fiktive Zukunft, 500 Jahre in die Vergangenheit

Wäre es möglich, einem Bürger "der Kultur" zu vermitteln, nach welchen Spielregeln in der Bundesrepublik Deutschland ein Kaufvertrag über Lebensmittel abgeschlossen wird oder vielleicht sogar ein Tarifvertrag?

Wie fremd müsste auf den Bewohner einer "Nach-Knappheits"-Gesellschaft in 500 Jahren ein ritualisierter Arbeitskampf wirken, bei dem etwa wesentliche Kollektivgüter wie öffentliche Verkehrsbetriebe oder Kindergärten ihren Betrieb einstellen, um am Arbeitsentgelt oder an den Anwesenheitszeiten der Dienstverpflichteten marginal etwas zu ändern? – Es dürfte sehr schwer sein, davon auch nur ein anschauliches Bild zu zeichnen.

Vor einem ähnlichen Problem steht, wer sich mit Ereignissen beschäftigt, die nicht in einer fiktiven Zukunft spielen, sondern sich in der realen Vergangenheit der Jahre 1524 bis 1526 vollzogen haben. Sie werden meist unter dem Schlagwort "Deutscher Bauernkrieg" nacherzählt.

Rund 90 Prozent der Bevölkerung lebten vor 500 Jahren von der landwirtschaftlichen Produktion, die weitgehend auf entbehrungsreicher menschlicher Arbeitskraft beruhte, erleichtert allein durch tierische Muskelkraft sowie durch ausschließlich mechanisch nutzbare Wind- und Wasserenergie, etwa in Mühlen- oder Schmiedebetrieben.

Was heute die Regel ist, nämlich Güter und die Arbeitskraft, die zu ihrer Erzeugung aufgewendet wird, in Zahlungsmitteln zu bewerten, fand nur sehr begrenzt statt. Die Antwort auf die Frage, warum ein Mensch auf dem Land zu arbeiten hatte, gab nur zum Teil ein Arbeits- oder Gütermarkt, überwiegend wurde sie in einem komplexen System sittlicher und rechtlicher Regeln gesucht.

Auch Zwang, ausgeübt von kirchlichen oder adligen Grundherren, war ein wesentlicher Anreiz für die Landbevölkerung, unmittelbar ihre Arbeitskraft sowie land- und forstwirtschaftliche Produkte bereitzustellen.

"Deutscher Bauernkrieg" und die "Zwölf Artikel"

Abwanderung in die Städte und ein mehr oder weniger lauter Widerspruch aus der bäuerlichen Bevölkerung, wenn die Pflichten gegenüber dem Grundherrn als zu drückend wahrgenommen wurden, kamen bereits vor den 1520er Jahren vor.

Vergleichsweise neu war es aber, die Interessen zu artikulieren. Der Wortsinn wird hier sichtbar: in Artikeln normativ verstandener Dokumente niederzuschreiben. Das hatte unter anderem mit einer Medienrevolution zu tun – seit den Erfindungen von Johannes Gutenberg (ca. 1400–1468) waren Massenschriftstücke deutlich günstiger verfügbar geworden, die Literalität nahm damit landläufig zu.

Außerdem suchten die Bauern auch in beachtlichem Umfang juristische Beratung – ungeachtet des Klischees, nach dem sie insbesondere unter humanistisch gebildeten, urbanen Bürgern hergebracht oft als wilde Wesen, hart an der Grenze zur tierischen Existenz (oder unterhalb) lebende Kreaturen betrachtet wurden.

Ihren Widerspruch äußerten sie kollektiv, wobei schon eine typische Bezeichnung für ihre Organisationsform in die Irre führen kann – der "Haufen".  

Im 16. Jahrhundert war "Haufen" noch keine abwertende Vokabel, sondern gebräuchlich für ordentliche militärische Verbände von ganz legitim auf das Kriegshandwerk eingeschworenen Männern. Im älteren Staatsschutzrecht war diese Verschworenheit, nicht die Verfügungsgewalt über tödliche Instrumente – sie gab es in der Landwirtschaft immer –, das wesentliche Indiz dafür, dass der Obrigkeit Gefahr drohte. Noch bis 1998 pönalisierte das deutsche Recht die "Bildung bewaffneter Haufen".

Der Bauer des Jahres 1525 kannte diese Organisationsform, weil ihm selbst gelegentlich Kriegsdienste abverlangt wurden. Sie war Ausdruck von ihm gesuchter Ordnung, gerade kein Synonym für Krawall.

Mit dem Schwäbischen Bund bestand in Südwestdeutschland auch auf der anderen Seite – jener der adligen und kirchlichen Grundherren – eine institutionalisierte Form kollektiver Interessenausübung, die zudem richterliche bzw. schiedsrichterliche Verfahren vorhielt.

Die "Zwölf Artikel" von Memmingen dokumentierten ("artikulierten") nun die – vor Ort eigentlich jeweils recht unterschiedlichen – Beschwerden aus der bäuerlichen Bevölkerung, verbunden zu Haufen und darüber hinausgehenden verschworenen Interessengemeinschaften.  

Forensische Lesart am Beispiel von Fischerei- und Jagdrechten

Damit standen sich gewissermaßen zwei Parteien gegenüber, die sich forensisch oder in ähnlicher Weise kollektiv über die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen auf dem Lande ins Benehmen setzen konnten.

In welcher Sprache dies die Bauern taten, soll einmal im Original festgehalten werden. Der vierte Artikel von Memmingen lautete:

Zum vierten ist bißher jm brauch gewesen, dz kayn armer man nit gewalt gehabt hatt, das willpret gefigel oder fisch jn fliessendē wasser nit zů fachen zů gelassen werdē, welchs vns gantz vnzymlich vn vnbruederlich dunckt, sun der aigennützig vn dem wort Gotz nit gemeß sein, Auch in etlichen ortern die oberkait vns dz gewild zů trutz vnd mechtigem schaden habē, wir vns dz vnser (so Got dem menschen zů nutz wachsen hat lassen) die vnuernüfftigen thyer zů vnutz verfretzen můtwiligklich, leydē muessen, dar zů stillschweigen, das wider Gott vnd dem nechsten ist, Wan als Gott der herr den menschen erschůff, hat er jm gewalt geben vber alle thier, vber den fogel im lufft vnd vber den fisch jm wasser. Darumb ist vnser begeren wan ainer wasser hette dz ers mit gnůgsamer schrifft beweysen mag das man das wasser in wyssenlych also erkaufft hette, begeren wir jms nit mit gewalt zů nehmen Sunder man muest ain Christlich eynsechen darynnen habē vō wegen bruederlicher lieb, aber wer nit gnůgsam anzaigen darum kan thon, solß ainer gemayn zymlicher weyß mittailen.

In seiner Habilitationsschrift "Gemeiner Mann und Gemeines Recht. Die Zwölf Artikel und das Recht des ländlichen Raums im Zeitalter der Bauernkriege" (2018) paraphrasiert der Rechtshistoriker David von Mayenburg (1968–) dies wie folgt:

"Es sei gegenwärtig Brauch, daß kein armer Mann das Recht habe, Wildbret, Geflügel oder Fisch in fließendem Wasser zu fangen. Dies sei ungeziemlich, unbrüderlich und eigennützig und damit gegen das Wort Gottes. Auch verstoße die Art und Weise, wie die Obrigkeit das Wild halte, gegen bäuerliche Interessen und richte mächtigen Schaden an. So müßten die Bauern ertragen, daß die unvernünftigen Tiere ihre Feldfrüchte, die Gott doch den Menschen zunutze wachsen lasse, unnütz wegfräßen und daß man dazu stillschweigen müsse, was wider Gott und den Nächsten sei. Als nämlich Gott den Menschen erschaffen habe, habe er ihm Gewalt gegeben über alle Tiere, den Vogel in der Luft und den Fisch im Wasser."

Dass die Bauern sich normativ auf die Bibel, also das Wort Gottes beriefen, kann wiederum in die Irre führen. Zum einen war die Heilige Schrift auch unter gelehrten Juristen eine gängige Quelle, insbesondere dann, wenn sie mit dem gemeinen Recht allein nicht weiterkamen.

Zum anderen wird der "Deutsche Bauernkrieg" seit dem 19. Jahrhundert vielfach als eine Art "Klassenkampf" interpretiert, wozu nicht nur das Interesse von Friedrich Engels (1820–1895) beitrug. Sein Werk "Der deutsche Bauernkrieg" (1850) prägte unter anderem in der DDR das Bild von den Vorgängen. Auch erzkonservative, namentlich preußische Historiker sahen seinerzeit in den Haufen eine Vorstufe sozialdemokratischer Wühlarbeit in den modernen Fabriken. Wer sich dann auch noch normativ auf Gottes Wort berief, wirkte gleich doppelt verblendet.

David von Mayenburg weist hingegen darauf hin, den Bauern sei durchaus bewusst gewesen, dass sich die schriftliche Dokumentation eines Besitzstands als Goldstandard rechtlicher Verbindlichkeit durchzusetzen begann. Sich auf die Heilige Schrift zu beziehen, bezweckte wohl auch, die Beweisnot ihrer bisher weitgehend schriftfreien Lebenswelt zu kompensieren.

Außerdem zeigt von Mayenburg, wie fein ausdifferenziert das Verlangen der Bauern war, indem sie zwar auf die fließenden Gewässer frei zuzugreifen wünschten – damals eine reiche Quelle wertvoller tierischer Proteine –, nicht aber auf die bereits zum Beispiel im Rahmen von Mühlen regulierten Wasserwirtschaftsbetriebe.

Bei aller Radikalität bleibt eine Tendenz zum konkreten Ausgleich

Entsprechendes lässt sich auch für weitere Missstände zeigen, die seitens der Bauern zu ihren konkreten Lebens-, Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen "artikuliert" wurden.

Im dritten Artikel wird etwa nicht weniger als die Abschaffung der Leibeigenschaft postuliert. Hier wiederum kann in die Irre führen, dass die Nachwelt vielfach ein sehr holzschnittartiges Bild von der Knechtschaft hat. Konkret nahm sie aber viele Formen an.

Die Leibeigenschaft konnte mancherorts in die Nähe der Sklaverei rücken, wenngleich – anders als etwa bei den nach Amerika deportierten afrikanischen Frauen und Männern – die formale Freiheit zur Ehe kirchenrechtlich stets im Kern gewahrt blieb. Oder sie beschränkte sich auf eine symbolische Form, die nicht allzu krass über eine heutige Pflicht hinausgingen, ein gepachtetes Grundstück auch zu bewirtschaften. Entsprechend wurden durchaus heterogene Interessen recht abstrakt artikuliert.  

David von Mayenburg ordnet den Artikel zur Leibeigenschaft wie folgt ein:

"Wenn die Bauern nun die ersatzlose Aufhebung der Leibeigenschaft forderten, so war dies vor dem Hintergrund der entsprechenden Rechtspositionen auf Seiten der Herren eine einschneidende Forderung, die in ihren christlichen und naturrechtlichen Bezügen zweifellos nicht nur an entsprechende Freiheitspostulate der spätmittelalterlichen Programmschriften anknüpfte, sondern auch Vorbilder in den Rechtsbüchern, vor allem dem berühmten Freiheitsartikel des Sachsenspiegel-Landrechts hatte. Doch ist gleichzeitig hervorzuheben, daß die Bauern die Brisanz dieser Forderung durchaus abzumildern suchen. So verwiesen sie auf die eigene Gehorsamspflicht aus Röm 13 und betonen, daß sie nicht etwa Herrschaft an sich ablehnten."

Bei kleinräumigeren Konflikten seien vertragliche Milderungen der Leibeigenschaft durchaus möglich gewesen, beispielsweise zwischen der Obrigkeit und den Bauern des Achertals im nördlichen Schwarzwald. An die Stelle der großen Freiheitsforderung traten hier relative Freizügigkeit und der Verzicht auf Eingriffe in die Freiheit der Eheschließung.  

Populäre Zugänge nach über 500 Jahren sind fragwürdig

Was sich in rechtlicher Sprache und Prozessführung womöglich noch hätte friedlich einhegen lassen können, eskalierte im "Deutschen Bauernkrieg" der Jahre 1524 bis 1526 vor allem im süddeutschen Raum in teils extremer Gewalt.

Selbst für diese Gewalt wurde mitunter aber noch die rechtliche Form gesucht, die seinerzeit von der jeweils anderen Seite, später womöglich gar nicht mehr als solche verstanden wurde.

Zu den massenmedialen Skandalen des Krieges gehörte etwa die "Bluttat von Weinsberg", als die aufständischen Bauern Angehörige der feindlichen Herrschaft im Vollzug des "Spießgerichts" hinrichteten, was die ohnehin obrigkeitsliebenden protestantischen Theologen in Wittenberg vollends gegen ihre evangelischen Glaubensbrüder auf dem Lande in Rage versetzte. Dabei gehörte das Rutenlaufen zur rechtlichen Ordnung militärischer Verbände, der "Haufen". Umgekehrt konnte sich die Obrigkeit bei der Tötung widerständiger Bauern ohne förmliches Strafverfahren darauf berufen, das geltende Recht sehe für deren skandalöse Taten eine entsprechende Ausnahme vor. Letzteres immerhin wurde von späteren Juristen kritisiert.

Nicht zufällig hat der Kölner Staatsrechtslehrer Martin Kriele (1931–2020) auf die mehr geschichts- als rechtsphilosophische Frage nach einem "Urgrundrecht" mit dem Hinweis auf den Habeas-corpus-Grundsatz geantwortet: Erst wer nicht mehr willkürlich verhaftet werden darf, kann mit rechtlichen Mitteln um weitere Rechte kämpfen. Der Prozess ist dann nicht nur forensisch, sondern auch "gesamtgesellschaftlich" eröffnet. Der "Habeas corpus" stand nicht auf dem Zettel mit den Zwölf Artikeln der Memminger Bauern. Vielleicht taugt er damit nicht allzu viel als Vorschreibpapier für die UN-Menschenrechtskonvention.

Es ist aber so schwierig, Ereignisse des Jahres 1525 einzuordnen, wie es vielleicht den künstlichen Intelligenzen eines Iain Banks schwerfallen wird, die seltsamen Rechtsinstitute des Jahres 2025 zu würdigen.

Literatur: David von Mayenburg: Gemeiner Mann und Gemeines Recht. Die Zwölf Artikel und das Recht des ländlichen Raums im Zeitalter des Bürgerkriegs. Frankfurt am Main (Klostermann) 2018. Für Studierende ist das Werk oft über die Universitätsbibliothek digital verfügbar. 

Zitiervorschlag

500 Jahre Bauernkrieg: . In: Legal Tribune Online, 02.03.2025 , https://www.lto.de/persistent/a_id/56707 (abgerufen am: 18.03.2025 )

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