Nur ein Bruchteil der Arbeitnehmer nimmt in Deutschland an den gewerkschaftlichen Aufzügen teil, die am Tag der Arbeit, der scherzhaft oft auch "Kampftag der Arbeiterklasse" genannt wird, stattfinden. Ein Denkanstoß von Martin Rath.
Wer den "Kampftag" lieber zuhause, zum Spazierengehen oder Sporttreiben nutzt, mag vielleicht trotzdem diese kleine Revue mit Bildern aus der Arbeitsrechtsgeschichte als Denkanstoß nutzen.
Dass wir heute unser Recht, Ausbildungsplatz und Arbeit frei zu wählen, als beinah naturgegeben erleben, ist ein Irrtum. Erst seit 1791 gilt der Gedanke, dass beispielsweise Berufswahl und die Entscheidung, mit wem man Tisch und Bett teilen muss, sich radikal entkoppeln lassen, als Prinzip westlicher Gesetzgebung.
Trotz der Prominenz einer jährlich beklagten "Gender Pay Gap" betrifft das historisch sensibelste Problem der Ausbeutung von Menschen aufgrund ihrer sozialen und körperlichen Schwäche nicht Frauen, sondern Kinder. Hier gilt es, ein wenig an der Heilsgeschichte des deutschen Arbeitsrechts zu deuteln, aber auch aufrüttelnde Ansätze in der Gegenwart zu beachten.
Der Steuerzahlerbund muss sich fragen lassen, ob er sich für den sogenannten "Steuerzahlergedenktag" nicht ein wenig schämt. Der Emanzipation des Gesindes und der Missachtung der Schalterbeamten, der Kontinuität des Arbeitsrechts gelten weitere Fragen.
Ein bunter Bilderreigen – zum An- und Aufregen mit Blick auf Arbeit und ihr Recht:
2/9: Erst einmal freimachen: Das Gesetz "Le Chapelier"
Den tiefen gesellschaftlichen Donnerschlag vergisst man über dem Schulbuch-Wissen in dieser Sache gerne: Mit Gesetz vom 14. Juni 1791 verbot die verfassungsgebende Nationalversammlung nicht nur den französischen Handwerkern, sich in Gewerkschaften zusammenzuschließen, zu streiken und ihre Arbeitsbedingungen kollektiv auszuhandeln. Auch die Zünfte, also die hergebrachte Organisationsform der gewerblichen Wirtschaft, wurden aufgehoben.
Zwei Generationen später (1848) beschrieben zwei deutsche Flüchtlinge mit einem schweren Hang zur Politik das Ergebnis der "Loi Le Chapelier": "Die Bourgeoisie, wo sie zur Herrschaft gekommen, hat alle feudalen, patriarchalischen, idyllischen Verhältnisse zerstört. Sie hat die buntscheckigen Feudalbande, die den Menschen an seinen natürlichen Vorgesetzten knüpften, unbarmherzig zerrissen und kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übriggelassen, als das nackte Interesse, als die gefühllose ‚bare Zahlung‘. Sie hat die heiligen Schauer der frommen Schwärmerei, der ritterlichen Begeisterung, der spießbürgerlichen Wehmut in dem eiskalten Wasser egoistischer Berechnung ertränkt."
Man mag von Marx und Engels, dem politisierenden Journalisten und dem Fabrikantensohn, halten was man will. Aber dass Fragen der ökonomischen und biologischen Reproduktion einer Gesellschaft zusammengehören, hatten die beiden Alten im Blick.
Wo die Zunft verboten wird, muss die Bürgerstochter zwar nicht mehr den Gesellen heiraten, wird aber zunächst zum Objekt von Heiratsverträgen. Diskutiert man in Zeit von #metoo Fragen von Arbeit und Fortpflanzung auf nur annähernd ähnlich hohem Niveau? Das Gesetz "Le Chapelier" normierte, dass nichts mehr sei zwischen dem Einzelnen und seinem Souverän. Eines der gewaltigsten Gesetze aller Zeiten, zu Schulbuchwissen verstaubt.
3/9: Ein Blick ins Gesetz verhindert Eigenlobhudelei
Schier endlos wurde das Verbot der Kinderarbeit in Preußen, das mit königlicher Verordnung vom 9. März 1839 in Kraft trat, in den populärhistorischen Himmel gehoben. Oft wird das Lob ein bisschen pseudokritisch eingeschränkt: Den militaristischen Preußen sei es dabei nur darum gegangen, die Zahl körperlich untauglicher Rekruten zu mindern.
Ein Blick ins "Regulativ über die Beschäftigung jugendlicher Arbeiter in Fabriken" gibt schon in der Überschrift des Gesetzes zu erkennen, dass der Dampfzug der Humanität hier nur mit angezogener Bremse fuhr: Das Beschäftigungsverbot betraf Kinder vor "zurückgelegtem neunten Lebensjahr" beziehungsweise unter 16-Jährige, soweit sie noch nicht drei Jahre zur Schule gegangen waren und Anfängerkenntnisse im Lesen und Schreiben aufwiesen. Zehn- bis 16-Jährige durften nun in der Regel nicht länger als zehn Stunden werktäglich zwischen 5 und 21 Uhr beschäftigt werden – bei zwei Pausen von 15 Minuten und einer Mittagspause von einer Stunde.
Soweit diese Regeln eingehalten wurden, boten sie natürlich Schutz vor der völligen Selbstversklavung. Lesen und Schreiben: Das vermittelt etwas Zugang zur Welt. Wenig Beachtung findet jedoch allzu oft der sachliche Geltungsbereich dieses ersten modernen Verbots der Kinderarbeit: Geregelt wurde hier die Tätigkeit "in einer Fabrik oder bei Berg-, Hütten- und Pochwerken". Die Masse kindlicher und jugendlicher Arbeitskräfte, die in der Landwirtschaft, im elterlichen Haushalt oder im Handwerk tätig war, wurde von diesem frühen Verbot noch nicht erfasst.
4/9: Zwangsarbeit in den deutschen Kolonien
Der Bund der Steuerzahler führt bekanntlich in jedem Jahr den sogenannten "Steuerzahlergedenktag" ins Feld – ein Datum, bis zu dem der durchschnittliche Steuerzahler nicht für sich, sondern für die Steuer- und Abgabelast gearbeitet hat. Nach den durchaus eigenwilligen Berechnungen der bündischen Steuerzahler war dies beispielsweise im vergangenen Jahr der 19. Juli.
Dort, wo das Thema Steuern auf seelische Schwärze trifft, weil Menschen zur Arbeit gezwungen wurden, um Steuern zu entrichten, schauen die bündischen Steuerzahler nicht recht hin.
Gern wird vergessen, dass das deutsche Volk – konservativ gezählt – nicht nur zwei bis drei Staaten in Europa gegründet hat, sondern sich zwischen 1880 und 1918/19 auch auswärts – insbesondere auf dem afrikanischen Kontinent – in der Staatsbildung versuchte.
In der seit 1884 in Besitz genommenen Kolonie Deutsch-Ostafrika (Tansania, Burundi, Ruanda) wurde seit 1898 zunächst eine sogenannte Hüttensteuer und seit 1905 eine Kopfsteuer eingeführt. Seit dem Jahr 1900 war sie in Geld zu leisten.
Die afrikanische Subsistenzwirtschaft operierte bis dahin kaum mit Geld. Statt nun primär in den Genuss der an sich genialen Geldwirtschaft zu kommen, war die Steuerschuld mittels Zwangsarbeit abzuleisten – dieser Arbeitskraft galt das eigentliche Interesse der kolonialen Staatsverwaltung.
Die Notlage, bedingt durch die erzwungene Vernachlässigung der existenzsichernden eigenen Landwirtschaft, mündete 1905 im sogenannten "Maji-Maji"-Aufstand – im Zuge seiner Niederschlagung starben schätzungsweise 250.000 bis 300.000 Menschen.
Wer sich dabei für klug hält, darf dies gerne mit der unbarmherzigen Phrase vom angeblichen deutschen "Schuldkult" verwerfen. Es würde freilich beim nächsten Witzeln über das komplexe deutsche Steuerrecht einmal guttun, daran zu denken, wer den folgenreichsten Widerstand gegen die deutsche Trias aus Arbeit, Steuern und Staat geleistet hat. Der Steuerzahlerbund jedenfalls war es nicht.
5/9: Unterdrückte Statistik zur Kinderarbeit
Zwischen dem preußischen Regulativ über die Beschäftigung jugendlicher Arbeiter in Fabriken von 1839 und dem 1903 beschlossenen, am 1. Januar 1904 in Kraft getretenen "Reichsgesetz betreffend die Kinderarbeit in gewerblichen Betrieben" hatte der Gesetzgeber zwar die Gewerbeaufsicht verschärft und mit Blick auf Pausen und Schutzalter ein wenig nachgebessert.
Im Wesentlichen galt der Jugendarbeitsschutz aber Kindern und Jugendlichen in Fabriken, Berg- und Hüttenwerken. Seit 1891 war die Beschäftigung von Kindern unter 13 Jahren in Fabriken verboten, 13- und 14-Jährige durften täglich bis zu sechs, 14- bis 16-Jährige bis zu zehn Stunden arbeiten. Außerhalb der Fabriken blieb es bei der Ausbeutung der Kinderarbeit. Das Reichsgesetz von 1903 dehnte die Verbote und Regelung der Kinder- und Jugendarbeit auf alle gewerblichen Betriebe aus.
Ganz ausgenommen von der staatlichen Regulierung blieben die Land- und Forstwirtschaft. Zwar hatte die Sozialdemokratie 1903 auch hier ein Verbot gefordert, doch konnte sie nicht mehr als eine statistische Erfassung der Kinder- und Jugendarbeit in diesen – seinerzeit beschäftigungsintensiven Wirtschaftszweigen – durchsetzen. Die erfassten Zahlen blieben aber bis 1922 unter Verschluss: 1,77 Millionen Kinder unter 14 Jahren arbeiteten demnach 1904 in der Land- und Forstwirtschaft, dies entsprach jedem fünften Kind unter 14 Jahren.
Ein grundsätzliches Verbot der Kinderarbeit, also von Personen unter 14 Jahren mit Ausnahmen, regelten §§ 4, 5 des Gesetzes über Kinderarbeit und die Arbeitszeit der Jugendlichen vom 30. April 1938, in Kraft ab dem 1. Januar 1939. Unter dem erklärten Gesetzeszweck, alle "Jugendlichen zu seelisch und körperlich gesunden Volksgenossen zu erziehen" schützte es freilich allein die sogenannte "deutsche Jugend".
6/9: Vom Gesinde zur Arbeitnehmerschaft
Was wissen wir schon über die Zeit, in der unsere (Ur-) Großeltern ihre Kindheit verbrachten. Der heutige Außen- und frühere Justizminister erklärte, die Einführung von Frauenquoten für Dax-Aufsichtsräte sei der größte emanzipatorische Fortschritt seit der Einführung des Frauenwahlrechts gewesen. Es kann gut sein, dass ihn die Großmütter, sogar die Suffragetten unter ihnen, der Ahnungslosigkeit bezichtigt hätten.
Zu den ersten revolutionären Maßnahmen des Jahres 1918 zählte die Aufhebung der Gesindeordnungen in den Teilstaaten des Deutschen Reichs. Im thüringischen Kleinststaat Reuß jüngere Linie verkündete zum Beispiel der Gesetzgeber in Gestalt des Arbeiter- und Soldatenrats – keine zwei Wochen nach dem 9. November 1918 – ein Gesetz von unspektakulärer Kürze: "Auf das Dienstverhältnis des Gesindes finden in Zukunft die Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs über den Dienstvertrag Anwendung" (§ 2 Notgesetz vom 19. November 1918 über die Aufhebung der Gesindeordnung). In den größeren deutschen Territorien geschah nichts anderes.
Beseitigt wurde damit das Sonderarbeitsrecht für das Gesinde, im Wesentlichen das Hauspersonal. Seine soziale Mobilität war bis dahin durch die Pflicht, das Gesindebuch zu führen – also eine Art justizfreie Personalakte – extrem eingeschränkt gewesen. Die Entlohnung erfolgte im Wesentlichen durch Naturalleistungen, die Einbindung der Dienstboten in den Haushalt ihrer Herren machte die mehrheitlich weiblichen Beschäftigten extrem vulnerabel. Dienstmädchen dienten Bürgerssöhnen, erste sexuelle Erfahrungen zu machen. Im Schwangerschaftsfall drohte die Entlassung, der Suizid war ein oft gewählter Ausweg. Jedenfalls informell, wenn nicht ausdrücklich normiert, stand der Herrschaft ein Züchtigungsrecht zu.
Das Sonderarbeitsrecht der Gesindeordnung betraf einen Gutteil der urbanen Arbeitnehmerinnen. Möglicherweise war seine Aufhebung doch eine bedeutendere Leistung als spätere Ruhmestaten auf dem Gebiet der Gleichstellung.
7/9: Koalitionsfreiheit, geregelt im Stinnes-Legien-Abkommen
Der Montanindustrielle Hugo Stinnes (1870–1924) und der Gewerkschaftsführer Carl Legien (1861–1920) unterzeichneten am 15. November 1918 die "Satzung für die Arbeitsgemeinschaft der industriellen und gewerblichen Arbeitgeber und Arbeitnehmer Deutschlands".
Während die republikanische Reichsverfassung erst im Jahr 1919 beschlossen wurde, regelten die Tarifpartner schon einmal Grundfragen der wirtschaftlichen Ordnung. Dreißig Jahre später vollzog sich ein entfernt ähnlicher Vorgang: Auch das heutige Tarifvertragsgesetz, datiert vom 9. April 1949, ist also älter als das Grundgesetz.
Das sogenannte Stinnes-Legien-Abkommen traf Vorkehrungen für die Rückkehr der zahllosen Arbeitnehmer, die aus dem Krieg kamen. Man vereinbarte Betriebsräte und verwahrte sich gemeinsam gegen etwaige Versuche von staatlicher Seite, in die Koalitionsfreiheit hineinregieren zu wollen.
Die Arbeitgeberseite verzichtete darauf, weiterhin sogenannte "gelbe Gewerkschaften" zu fördern. Im Kaiserreich war die – in jüngster Zeit beispielsweise von Rainer Wendt wiederbelebte – Praxis, sich als Gewerkschafter außersyllagmatisch von der Arbeitgeberseite "kaufen" zu lassen, recht verbreitet gewesen.
Wenig vorausschauend war die Einigung zwischen Gewerkschafts- und Kapitalseite mit Blick auf die neue Klasse der Angestellten, seinerzeit noch als (private) "Schalterbeamte" bekannt. Ihnen war die hergebrachte Arbeiterbewegung meist zu schmutzig, abgestoßen auch vom symbolpolitischen Kult der Arbeiterklasse, roten Fahnen und Marx-Chinesisch. Angestellte zeigten sich später als vergleichsweise anfällig für den Nationalsozialismus.
8/9: Kontinuitätsfragen im Arbeitsrecht
Der 1. Mai, als gesetzlicher Feiertag eingeführt von der nationalsozialistischen Führung, könnte Anlass geben, über Kontinuitäten und Brüche in der rechtlichen und kollektiven Organisation von Arbeit in Deutschland nachzudenken.
Nach der Enteignung und Zerschlagung der Gewerkschaften im Jahr 1933 stand der NS-Staat vor der Aufgabe, die kollektiven Organisationsformen der Arbeit, insbesondere die Tariffragen und die innere Organisation der Betriebe zu regeln.
Das "Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit" vom 20. Januar 1934 liest sich – mit Blick auf das heutige Betriebsverfassungsgesetz – wie eine Travestie. Der Arbeitgeber wird zum "Führer des Betriebes" erklärt, die "Angestellten und Arbeiter" zur "Gefolgschaft". Verdrängt man den Tonfall des Gesetzes, klingt manches doch vertraut. In § 2 Abs. 2 heißt es etwa zum "Führer des Betriebes": "Er hat für das Wohl der Gefolgschaft zu sorgen. Diese hat ihm die in der Betriebsgemeinschaft begründete Treue zu halten."
Als Wechselspiel von Fürsorge- und Treuepflicht konturierten derartige Gedanken auch noch das Arbeitsrecht der Nachkriegszeit. Die auf der Grundlage des "Gesetzes zur Ordnung der nationalen Arbeit" von einem sogenannten Reichstreuhänder – einem Substitut für die beseitigten Tarifvertragsparteien – erlassenen Tarifordnungen blieben in der Nachkriegszeit vielfach als kollektives Arbeitsrecht erhalten, bis sie durch neue Regelungen überschrieben wurden – Entscheidungen aus den 1950er Jahren beziehen sich unzählige Male auf sie.
Als der Historiker Götz Aly im Jahr 2005 mit seiner Studie "Hitlers Volksstaat" darauf hinwies, wie sehr sich das NS-Regime durch sozialpolitische Wohltaten die Willfährigkeit, jedenfalls den Opportunismus weiter Volkskreise erkaufte, löste dies noch einen kleinen Sturm im deutschen Feuilleton aus. Inzwischen sollte es an der Zeit sein, dies auch auf dem Gebiet des Arbeitsrechts nüchtern aufzuarbeiten – also beispielsweise dem Werk der wohl wichtigsten Stimme im NS-Arbeitsrecht und späteren Präsidenten des Bundesarbeitsgerichts Hans Carl Nipperdey (1895–1968) nachzugehen, statt marktschreierisch z.B. die Beseitigung nach ihm benannter Straßen zu fordern.
9/9: Kindergewerkschaften – Perspektiven auf Zukunft der Arbeit
Das in Deutschland seit 1938/39 etablierte, regelmäßig zu beachtende Verbot, Menschen unter 14 Jahren in Arbeitsverhältnissen zu beschäftigen, beansprucht heute auf Grundlage der Konvention 138 der International Labour Organization beinah weltweit Geltung. Auch die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen erkennt in ihrem Artikel 32 das Recht des Kindes an, vor wirtschaftlicher Ausbeutung geschützt und nicht zu einer Arbeit herangezogen zu werden, die seine Erziehung, Gesundheit und körperliche, seelische oder soziale Entwicklung schädigen könnte.
Solche Normen werden in ihrer Geltung nicht allein durch die böse Realität der armen Staaten unterlaufen, sondern stoßen auch auf offene Kritik. In Mittelamerika, auch in Bolivien und Peru, finden sich Kindergewerkschaften, die von der katholischen Befreiungstheologie inspiriert sind. Ihre Parole geht dahin, nicht Kinderarbeit schlechthin, sondern nur eine solche zu verbieten, die körperliche, seelische und intellektuelle Schäden nach sich zieht. Bolivien geriet so mit einer entsprechenden Arbeitsgesetzgebung in offenen Konflikt mit der International Labour Organization.
In Deutschland ist diese intellektuelle Bewegung in den 1970er Jahren mit dem Philosophen Ivan Illich (1926–2002) einmal recht bekannt geworden. Hierzulande galt die Kritik vor allem der umfassenden Verschulung – damals des Lebens von Kindern. Heute ließe sich noch an der Doktrin des "lebenslangen Lernens" ansetzen, soweit sie eine Verschulung des Lebens auch erwachsener Menschen verlangt.
Man mag unschlüssig sein, ob man beispielsweise die jugendlichen Anführer der Kindergewerkschaften nicht vor sich selbst schützen muss. Und ist die Frage obszön, ob das Leben eines 12-jährigen bolivianischen Schuhputzers, der halbtags zur Schule geht, nicht reicher ist als das einer 25-jährigen deutschen Bachelor-Studentin mit Hauptfach Eventmanagement?
Dass der hohe arbeitsrechtliche Standard, den wir in Deutschland kennen, aber auf einer Verkettung mehr und manchmal minder glücklicher Zufälle beruht, sollte nicht aus dem Blick geraten. Offen zu bleiben auch für drastisch andere Entwicklungslinien und Beispiele, schützt davor, unseren normativen Status quo für alternativlos zu halten – sei es zu seinem Schaden, sei es zu seinem Gunsten.
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Ohligs.
Martin Rath, 1. Mai: Raus auf die Straße! . In: Legal Tribune Online, 01.05.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/28367/ (abgerufen am: 23.04.2024 )
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