Am Ende des Ersten Weltkriegs verschoben sich Staatsgebiete – mit gravierenden Folgen für die Bürger. Deutsche und polnische Juristen bemühten sich vor 100 Jahren deshalb um tragfähige Lösungen. Von Martin Rath.
Die staatlichen Beziehungen zwischen Deutschland und Polen waren nach dem Ende des Ersten Weltkriegs im Herbst 1918 schwierig. So eng die Beziehungen im familiären oder geschäftlichen Kontakt oft waren – die politische Führung in Berlin erklärte die Grenzen des Deutschen Reichs im Osten, kaum dass sie gezogen waren, für änderungsbedürftig und schloss 1922 Frieden mit der Sowjetunion, von der die soeben neu gegründete Republik Polen ebenfalls wenig Gutes zu erwarten hatte.
Der polnisch-sowjetische Krieg, 1919–1921, war für die Republik Polen nur mit einigem Glück erfolgreich verlaufen – ungeachtet des Umstands etwa, das britische wie deutsche Arbeiter Waffenlieferungen nach Polen bestreikten.
In den überwiegend polnisch besiedelten Gebieten Preußens, die an die neue Republik Polen übergingen – vielfach waren sie erst seit 1772 von der preußischen Krone annektiert worden – bestanden lebhafte Erinnerungen an die deutschnationale Politik im Reich des preußischen Königs und deutschen Kaisers.
Während sich etwa im Reichsrat in Wien alle Abgeordneten, wenn auch nicht zum Besten der parlamentarischen Arbeit, ihrer Muttersprachen bedienen konnten, war nach § 12 Reichsvereinsgesetz von 1908 in Deutschland der Gebrauch von Minderheitensprachen bei öffentlichen Versammlungen stark eingeschränkt worden.
In den polnisch-deutschen Landesteilen Preußens hatte die staatliche Praxis, ethnische Polen durch die Subvention ethnischer Deutscher bei landwirtschaftlichen, aber auch freiberuflichen Geschäften zu benachteiligen, für massive Misshelligkeiten gesorgt.
Übergang weiter Teile des deutschen Staats an das Ausland
Nach dem Ersten Weltkrieg verlor Deutschland durch den Versailler Vertrag nicht nur rund 13 Prozent seiner Fläche und circa sieben Millionen Einwohner – woran heute, wenn überhaupt, unter dem Gesichtspunkt ethnischer Konflikte und dem späteren Terror des Zweiten Weltkriegs mit der anschließenden Vertreibung von vielen Millionen Menschen erinnert wird.
Der Blick ins Gesetzblatt hebt hier die Kenntnis zu Konflikten, die bei allem Elend des nationalistischen Wahnsinns halbwegs zivil gelöst werden konnten. So unterzeichneten am 20. September 1920 als Abgesandte Deutschlands und Polens die Herren Dres. iur. Georg Crusen (1867–1949), Witold Prądzyński (1882–1952) und Zygmunt Seyda (1876–1925) das "deutsch-polnische Abkommen, betreffend die Überleitung der Rechtspflege".
Mit der Übergabe weiter Landesteile waren wichtige juristische Fragen zu klären: Wie sollte beispielsweise verfahren werden, wenn die kürzlich noch königlich-preußische Staatsanwaltschaft zwar bereits die Akte zu einer Strafsache angelegt, das bisher zuständige Amts- oder Landgericht den Wechsel der Staatsgewalt aber nicht überstanden hatte?
Was sollte aus den oft langjährigen Zivilverfahren werden, die manchmal schon vor dem Ersten Weltkrieg begonnen hatten?
Für die Zivilverfahren wurde eine Fortführung der Verfahren vereinbart, die beim bisherigen deutschen Gericht noch nicht rechtskräftig erledigt waren. Sofern dieses Gericht "fortgefallen" war, war die Sache bei dem deutschen oder polnischen Gericht "gleicher Ordnung" fortzuführen, das seinen Sitz im Bezirk des bisherigen Prozessgerichts nahm (Art. 1 § 1). Die Verfahrensparteien konnten unter Umständen verfügen, dass die Sache an ein Gericht des anderen Staates zu übergeben war (Art. 1, §§ 2–3). Bei Verfahren des Deutschen Reichs oder des Preußischen Staats sollte die Republik Polen an deren Stelle treten (Art. 1 § 4).
Für Strafsachen wurde ebenfalls im Grundsatz eine Fortführung beim bestehenden deutschen oder bei einem neuen deutschen bzw. polnischen Gericht mit Sitz im Bezirk des bisher zuständigen Amts-, Land- oder Oberlandesgerichts vereinbart, wobei Deutsche mit Wohnsitz oder ständigem Aufenthalt im Deutschen Reich, Polen mit Wohnsitz oder ständigem Aufenthalt in der Republik Polen eine Übergabe der Sache an das Gericht ihres Staates verlangen konnten (Art. 2, §§ 1–4). Die Staatsanwaltschaften sollten Strafsachen an die Kollegen des anderen Staates abgeben, sobald absehbar war, welches Gericht bemüht werden würde (Art. 2, § 5). Auch die Strafvollstreckung – sofern mehr als sechs Wochen Freiheitsstrafe anstanden – konnte auf Antrag des Betroffenen auf den anderen Staat übergehen.
20 Jahre Rechtsstreit – dann die Trennung
Wie verwickelt die Verhältnisse bei der Auftrennung einer Rechtsordnung wurden, die seit einigen Generationen als Einheit bestanden hatte, zeigten Angelegenheiten, in denen das Abkommen vom 20. September 1920 nicht griff.
Ein Beispiel gibt etwa ein Rechtsstreit, den Gräfin Martha von Alvensleben-Schönborn (1854–1915) respektive ihre Erben seit den 1890er Jahren gegen den preußischen Staat betrieben hatten.
Die Eigentümer unter anderem eines herrschaftlichen Ritterguts im bisher preußischen Ostrometzko sahen sich durch den Staat geschädigt, weil durch Regulierungsarbeiten an der Weichsel die Versandung eines bis zu 600 Meter langen Grabens – der sogenannten Reptowka – bewirkt worden sei, was eine Versumpfung von Wiesen der Familie Alvensleben-Schönborn nach sich gezogen hatte.
Mit Urteil vom 19. Dezember 1923 (Az. V 390/20) hatte das Reichsgericht die undankbare Aufgabe, Licht in die verwickelten Verhältnisse zu tragen: Die versumpften Flusswiesen der Familie Alvensleben-Schönborn lagen inzwischen auf dem Gebiet der Republik Polen. War daher womöglich jetzt der für die Wasserwirtschaft der Weichsel im fraglichen Flussabschnitt zuständige polnische Fiskus für die Forderungen der Grafenfamilie verantwortlich? Und wer überhaupt hatte zu entscheiden?
Der Freistaat Preußen argumentierte, dass das Oberlandesgericht Marienwerder am 22. Juni 1920 über die Berufung nicht hätte entscheiden dürfen, weil das Landgericht Danzig, das in dieser Sache am 7. Mai 1913 ein Teilurteil gesprochen hatte, aufgrund des Friedensvertrags von Versailles – in Kraft getreten am 10. Januar 1920 – seinen Sitz nicht mehr im Deutschen Reich, sondern in der Freien Stadt Danzig hatte. Zwar hatte die für die Stromregulierung zuständige preußische Behörde ihren Sitz in Danzig gehabt, die dort ansässigen Gerichte übten nunmehr aber fremde Staatsgewalt aus, der sich der Freistaat Preußen nicht ungefragt unterwerfen lassen wollte.
Das Reichsgericht sah jedoch für die bereits in Vorkriegszeiten fällige Forderung der Alvenslebens die deutschen Gerichte und den preußischen Fiskus in der Verantwortung.
Krieg, Annexion und dann auch noch die Inflation und ihre rechtlichen Folgen
In einer Sache, die das Reichsgericht mit Urteil vom 27. Juni 1928 (Az. V B 26/28) entschied, war jedoch eine Zuständigkeit polnischer Gerichte bzw. eines nach dem Versailler Vertrag zu bildenden Gemischten Gerichtshofs gegeben.
Gestritten wurde hier – beiderseits von Erben – über eine Darlehensforderung in Höhe von beachtlichen 100.000 Mark, die vor dem Kriegsende durch Hypothek auf ein Grundstück besichert worden war, das seit 1920 auf polnischem Staatsgebiet lag.
Wegen der Hyperinflation des Jahres 1923 war die Darlehensforderung gerichtlich neu zu bestimmen. Welches Gericht aber war dazu für wen zuständig?
Das Kammergericht hatte – abweichend von der Rechtsprechung des Reichsgerichts – das (bis 1945 deutsche) Amtsgericht Stettin für die Aufwertung der Vorkriegshypothek bestimmt. Das Argument der Berliner Richter, vereinfacht gesagt: Weil alle Beteiligten vor dem Krieg eine deutsche Staatsangehörigkeit hatten, greife für die jetzt polnischen Grundstückseigentümer die Regelung von Art. 304 lit. b Abs. 2 Versailler Vertrag nicht, der zufolge ein Gemischter Gerichtshof angerufen werden konnte. Außerdem sei der Friedensvertrag überhaupt zweifelhaft, weil Polen kein Kriegsgegner Deutschlands gewesen sei.
Wenngleich sich das Reichsgericht in dieser – noch darüber hinaus hübsch verwickelten Sache – für den schuldrechtlichen Teil der Frage darauf einließ, dass sich die Beteiligten insoweit wohl vor dem Kriegsende auf deutsches Recht verständigt hätten, wollte es den Erben des mit der Hypothek belasteten Grundstücks in Polen den Weg zum Gemischten Gerichtshof nach dem Versailler Vertrag nicht verweigern.
Unterhändler waren deutsche Juristen polnischer und deutscher Herkunft
Weil der Zugang zu einem Gemischten Gerichtshof nach dem Versailler Vertrag für polnische wie deutsche Bürger absehbar umständlich und teuer sein würde, sah das deutsch-polnische Abkommen vom 20. September 1920 – wie seine Nachfolger – eine Möglichkeit vor, ein zuständiges Gericht in Deutschland oder in Polen zu finden. Ungeachtet aller nationalistischen Wahnvorstellungen der Epoche gaben die Parteien diesem Weg regelmäßig den Vorzug vor der gut gemeinten Idee gemischter Gerichte.
Dass Regelungen im Sinn der justizunterworfenen Bürger getroffen worden waren, könnte auf die gemeinsame Sozialisation aller drei Unterhändler zurückzuführen sein: Während es sich beim deutschen Bevollmächtigten Georg Crusen heute beinah selbstverständlich um einen u. a. in Berlin und Marburg studierten Juristen handelte, fällt erst auf den zweiten Blick auf, dass natürlich auch Witold Prądzyński und Zygmunt Seyda in Breslau und Leipzig, Greifswald und München Jura studiert hatten und dort zu Doktoren der Rechte promoviert worden waren.
Aufgrund seiner Bekanntschaft mit dem Juristenkollegen Hans Frank (1900- 1946), staatsterroristischer Generalgouverneur in Krakau, überstand Prądzyński die systematische Verfolgung und Ermordung polnischer Akademiker im besetzten Polen, mit der deutsche Polizisten im Herbst 1939 begannen, als mehr oder minder widerständiger Richter.
Die oft unglückliche Beziehung zwischen Deutschland und Polen ist um viele Fußnoten reicher, als es der nationalistische Wahnsinn wissen will.
Deutschland und Polen 1920: . In: Legal Tribune Online, 20.09.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/42841 (abgerufen am: 08.10.2024 )
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