100 Jahre nach Beginn des Ersten Weltkriegs ist die Flut an Gedenkartikeln auf das Jahr 1914 kaum zu stoppen. Da muss einiges an "heiler Welt" untergegangen sein. Ein Blick in die Hinterlassenschaften des deutschen Reichsgerichts zeigt, dass dieser Gedanke nicht völlig falsch ist: Über Uranverbote, freundliche Kriegsjustiz und Bauchgefühle in richterlicher Würdigung. Von Martin Rath.
"In der vom Angeklagten geleiteten Konservenfabrik ist nach dessen Weisung bei der Einlegung (Konservierung) abgekochter Gemüse (Erbsen, Bohnen und Spinat) zur Erzielung einer grünen Farbe Kupfersulfat zugesetzt worden. Weiter wurden Erdbeeren, Kirschen und Johannisbeeren eingelegt und dabei mittels eines Teerfarbstoffs rot gefärbt. Beide Sorten von Konserven sind in den Verkehr gebracht worden."
Dieser etwas unappetitlich zu lesende Tatbestand liegt einem Urteil des Reichsgerichts vom 18. Mai 1914 zugrunde. Der österreichische Thronfolger hatte da noch 40 Tage zu leben, bis seine Ermordung in Sarajevo den Weg in den Weltkrieg bahnte. Die Reichsgerichtsräte in Leipzig demonstrierten, dass das Lebensmittelrecht bereits eine Wissenschaft für sich war: Der Blick ins Reichsgesetzblatt zeigt zwar sehr schön gedruckte Gesetze (das Bundesgesetzblatt hält hier ästhetisch nicht mit), unübersichtlich ging es aber schon zu – ausweislich auch des zitierten Urteils (Reichsgericht in Strafsachen, Az. I 124/14, RGSt 48, 351-359).
Weltführer in Farben, auch in Konservendosen?
Das Landgericht (LG) Darmstadt hatte den Angeklagten vom Vorwurf freigesprochen, mit dem Verkauf der mit Kupfer- und Teerfarbstoffen versetzten Gemüse- und Obstkonserven gegen § 10 des Gesetzes "betreffend den Verkehr mit Nahrungsmitteln, Genußmitteln und Gebrauchsgegenständen" vom 14. Mai 1879 verstoßen zu haben, der mit "Gefängniß bis zu sechs Monaten und mit Geldstrafe bis zu eintausendfünfhundert Mark" bedrohte, wer "Nahrungsmittel, welche verdorben, nachgemacht oder verfälscht sind" in einer Weise in den Verkehr brachte, die zur Täuschung des Publikums geeignet war (Reichsgesetzblatt, RGBl. 1879, S. 145).
Die Chemieindustrie des Kaiserreichs war gegen Ende des 19. Jahrhunderts in der Produktion von Farbstoffen Weltmarktführer, rund 80 Prozent stammten aus deutscher Fertigung. Der Einsatz von Farben war ebenfalls geregelt, im "Gesetz, betreffend die Verwendung von gesundheitsschädlichen Farben bei der Herstellung von Nahrungsmitteln, Genußmitteln und Gebrauchsgegenständen" (v. 5.7.1887, RGBl. S. 277). Die Darmstädter Landgerichtsjuristen wurden vom Reichsgericht ausführlich dafür getadelt, dass sie das Verbot von kupferhaltigen Farbzubereitungen in Lebensmitteln bei ihrem Freispruch missachtet hatten. Dabei wanden sich auch die Reichsgerichtsräte zwischen den Zeilen sichtlich, weil ihnen – als naturwissenschaftlich interessierten Juristen – das absolute Verbot von Kupferverbindungen in Lebensmittelfarben nicht dem Stand der Wissenschaft entsprechend erschien.
Konzentrische Farb-Kreise um den Bauch
Gleichwohl hoben sie als gute Positivisten entsprechend dem Revisionsantrag der Staatsanwaltschaft in Sachen "Kupfersulfat" das Urteil des Landgerichts auf, nicht ohne sich ausführlich über die Möglichkeit und Notwendigkeit von gefärbten Lebensmitteln zu erklären: Das absolute Verbot eines Farbstoffs lege zwar die Täuschung des Publikums durch den künstlich grünen Konserveninhalt nahe, zugleich betonen die höchsten Strafrichter des Kaiserreichs, dass es von Wert sei, wenn die gefärbten Nahrungsmittel eine appetitanregende Wirkung entfalteten: Guter Appetit, ein Indiz für gute Ware.
Es scheint im Leipziger Urteil vom 18. Mai 1914 das Unbehagen durch, den hessischen Konserven-Fabrikanten der weiteren Strafverfolgung auszusetzen, obwohl ihm doch an der Herstellung appetitanregender Nahrungsmittel gelegen war. Hier begegnet man dem historisch Fremden: Heute wird die öffentliche Meinung über Nahrungsmittel und ihre Produktion von asketischen und konsumfeindlichen Bildern geprägt: Belehrender Veganismus und Schlankheitswahn, Kontrollwünsche und Vergiftungsideen sind gängige Meme. Im Strafrecht des Jahres 1914 finden wir dagegen, dass es an sich eine gute Sache sei, dem Publikum das Essen optisch schmackhaft zu machen.
Dazu passt auch die putzige Konstruktion des einschlägigen Gesetzes über Farben in Nahrung und Konsumgütern von 1887: Sein § 1 verbietet neben Chrom- und Kupferverbindungen beispielsweise auch solche Farben, die Arsen, Blei, Quecksilber oder Uran enthalten. Letzteres war damals als Farbe in künstlerisch gestalteten Glasgegenständen sehr beliebt und als Lebensmittelfarbe nicht etwa wegen seiner radioaktiven Eigenschaften verboten, sondern weil Uranverbindungen als Auslöser von Diabetes galten.
Je weiter die Farben vom Bauch entfernt genutzt werden sollten, so die Gesetzeskonstruktion, desto mehr Substanzklassen gibt das Gesetz frei: Nahrungsverpackungen durften Kupfer enthalten, kosmetische Mittel Chrom, Bilderbücher gut gebundene Bleiverbindungen. Gegen Uranfarben auf den äußeren Etiketten hätte das Gesetz keine Einwände gehabt, vermutlich war das nur zu teuer. Arsenverbindungen galten als allgemein bedenklich und weit von Lebensmitteln fernzuhalten: Eine Tapete mit mehr als zwei Milligramm Arsen je 100 Quadratmeter war in Deutschland schon 1887 verboten. In Europa war das längst nicht selbstverständlich: Die erste Botschafterin der USA in Italien, Clare Boothe Luce, erkrankte dort beispielsweise noch 1955 an einer Arsenvergiftung infolge einer schimmelnden Tapete.
2/2: Korkengeld statt Sektsteuer
Die sogenannte Sektsteuer, die 1902 eingeführt wurde, um mit 10 Pfennig je abgesetzter Obstschaumwein- und mit 50 Pfennig je Weinsekt-Flasche dem Staatshaushalt des – aus heutiger Perspektive – chronisch unterfinanzierten deutschen Kaiserreichs Einnahmen zu verschaffen, zählt zu den zähen deutschen Steuer-Legenden: Obschon sie einst dazu diente, dem Kaiser seine Kriegsflotte zu finanzieren, müsse sie der heutige Champagner-Freund immer noch bezahlen. Das ist steuerhistorisch nicht ganz richtig, vor allem ist die Idee der Sektsteuer aber auch abgedroschen. Wie wäre es, mit Blick auf ein Urteil des Reichsgerichts (v. 14.5.1914) mit einer wirtschaftsstrafrechtshistorischen Ergänzung?
Das Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb in der Fassung des Jahres 1909 verbot erstmals ausdrücklich die Bestechung von Angestellten zur Absatzförderung. Trotzdem zahlte ein französischer Champagner-Exporteur aus Reims jedem Kellner, der eine seiner Flaschen an den deutschen Schaumweinfreund brachte, ein sogenanntes "Korkengeld" von 25 bis 50 Pfennig je Flasche, nach damaliger Kaufkraft beileibe kein Taschengeld.
Während das Landgericht Hamburg die Handelsvertreter des Champagner-Fabrikanten aus Reims freisprach, weil die Kellner diesen wirtschaftlichen Vorteil nicht gegen das Interesse ihres Dienstherren bezogen, betonte das Reichsgericht, dass die Endabnehmer nicht in ihrer Produktwahl manipuliert werden dürften. Eine Art objektiver Schutz der Wettbewerber war damit geschaffen.
Vielleicht taugt die Anekdote von der Angestelltenbestechung aber doch nicht für launige Erzählungen. Noch bevor das Urteil (Az. III 140/14, RGSt 48, 291-297) in den Druck ging, standen im September 1914 deutsche Truppen vor Reims. Die Beschädigung, ja Zerstörung der Kathedrale, die verwunschen propagandistische Rechtfertigung – all das wirkt wie eine boshafte Champagnerlaune unter kulturfeindlichen Militärs.
Steampunks im Reichsgericht?
Kriegerische Untertöne finden sich bei den höchsten deutschen Richtern dagegen erst im Herbst 1914, in einem Urteil über den Schutz von Patentansprüchen französischer Erfinder. Darüber, ob ein eigenartig gedrechselter Flugzeug-Propeller in Deutschland Prioritätsrechte genieße, befand der erste Zivilsenat des Reichsgerichts am 26. Oktober 1914 (Az. I 83/14). Am Argument, dass durch den Kriegszustand die privatrechtlichen Ansprüche eines französischen Flugzeugherstellers keinen Schaden nähmen, solange der deutsche Staat keine repressiven Gesetze erlasse, drechselten die Leipziger Richter übertrieben aufwendig: Im Gegensatz zum Feind, lobte man sich selbst, betreibe Deutschland nicht die wirtschaftliche Schädigung der Privatleute. Zudem habe der französische Anspruchsteller die Priorität seines Propellers in Deutschland schon vor Kriegsbeginn geltend gemacht.
Nach ihren prinzipiell-gedrechselten Antworten auf die Rechtsfragen des Begehrens scheinen sich die Reichsgerichtsräte dann aber tief über die flugzeugtechnischen Fachzeitschriften gebeugt zu haben. Denn sie legten in ihrem Urteil dar, dass der Propeller des Franzosen schon so hinreichend fachpublizistisch beschrieben worden sei, unter anderem von Amerikanern namens "Wright", dass dem Prioritätsanspruch des Klägers aus Paris die sachliche Grundlage fehle.
Das ist vielleicht noch die überraschendste Seite an diesen alten Fraktur-Texten des Reichsgerichts: Nicht der liberale Positivismus seiner juristischen Figuren ist etwas fremd geworden, sondern der Geist von Technik und Fortschritt, der diese Richtergestalten umwehte.
Martin Rath, Rechtsgeschichten 1914: Appetit und Bauchgefühl . In: Legal Tribune Online, 18.05.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/12004/ (abgerufen am: 25.04.2024 )
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