70 Jahre GG – die Menschenwürde aus Art. 1 Abs. 1 GG: Eine Frage des Geldes

von Marcel Schneider

23.05.2019

Todesstrafe, Sklaverei und Folter hat Deutschland überwunden. Soziale Not und Armut beschäftigen die Gerichte aber nach wie vor sehr. Was kostet die Menschenwürde?

Das Grundgesetz (GG) wird 70 Jahre alt. Das gibt Anlass, um einen Blick auf die wichtigsten Werte der deutschen Gesellschaft zu werfen. Bis zum 23. Mai stellt LTO die wichtigsten Grundrechte vor, ihre Entwicklung und ihre Bedeutung gestern und heute.

Das "Recht auf Rechte", gar ein "Urrecht des Menschen" – die einleitenden Worte in Kommentaren, Fachaufsätzen und Festschriften zum Grundrecht der Menschenwürde sind nicht nur zahlreicher als die zu den übrigen Grundrechten, sondern auch feierlicher. Ganz egal, wo man blättert - der Leser merkt sofort, dass er es hier mit etwas Besonderem zu tun hat.

Natürlich nicht zu Unrecht: Die deutsche Verfassung ordnet die Menschenwürde nicht bloß in einen Katalog mit anderen wichtigen Regelungen ein, sondern stellt sie gerade als erstes und wichtigstes Grundrecht voran, das die gesamte Konstruktion namens Grundgesetz tragen soll. Einen "Rollenwechsel des Staates vom Grundrechtsfeind zum Grundrechtsfreund", nennt die Literatur das.

Wie feindlich beziehungsweise freundlich der Staat der Menschenwürde aber wirklich gesinnt ist, muss das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) allerdings gerade wieder einmal überprüfen. Es geht ums Geld.

Kann man ein Existenzminimum kürzen?

Die Karlsruher Richter müssen prüfen, ob es verfassungsgemäß ist, Hartz-IV-Empfängern als Sanktion für Fehlverhalten den Regelsatz zu kürzen. Das dürfen die Jobcenter, wenn die Leistungsbezieher sich nicht kooperativ zeigen.

Die Menschenwürde spielt dabei die tragende Rolle, weil das BVerfG in einem wegweisenden Urteil aus Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip aus Art. 20 Abs. 1 GG das "unverfügbare" Recht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums abgeleitet hat (Urt. v. 09.02.2010, Az. 1 BvL 1/09).

Wie sich der Geldbetrag für den Regelsatz zusammensetzt, was der Gesetzgeber dabei beachten muss und ob Deutschland auch EU-Bürgern oder Drittstaatsangehörigen das Existenzminimum gewähren muss, haben die Karlsruher Richter dabei in vielen zähen Verfahren geklärt. In diesem Jahr geht es aber nicht "nur" um Modalitäten, sondern darum, ob der Staat zu Sanktionszwecken weniger als das Existenzminimum gewähren darf.

Rechtliche Antwort auf hochpolitische Frage gesucht

Rund 36 Milliarden Euro jährlich sieht der Bundeshaushalt für Arbeitslosengeld-II-Leistungen im Zeitraum 2017 bis 2019 vor - eine beträchtliche Summe, die die Bundesrepublik einplant. Deshalb solle der Sozialstaat auch ein Mittel haben, die "zumutbare Mitwirkung" der Leistungsbezieher "auch verbindlich einzufordern", verteidigte der Bundesminister für Arbeit und Soziales, Hubertus Heil (SPD), die Hartz-IV-Kürzungen als valide Sanktion im Anschluss an die mündliche Verhandlung vor dem BVerfG im Januar dieses Jahres.

Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder, der die Einführung des Arbeitslosengeldes II im Rahmen der Agenda 2010 voranbrachte, sprach seinerzeit davon , es dürfe kein "Recht auf Faulheit" geben. Befürworter der Sanktionen befürchten weiterhin, dass das Existenzminimum in eine Art bedingungsloses Grundeinkommen münden könnte, sollten die Karlsruher Richter die Kürzungen nicht billigen.

Das Sozialgericht (SG) Gotha, auf dessen Vorlage hin das BVerfG den in Frage gestellten § 31a i. V. m. §§ 31 und 31b SGB II prüfen, sieht das anders. Die Normen, die die Kürzung der Hartz-IV-Leistungen bei Fehlverhalten regeln, verstoßen seiner Auffassung nach gegen Verfassungsrecht. Wenn Deutschland das Existenzminimum gemäß der Rechtsprechung des BVerfG verfassungskonform ausgestaltet und zu gewährleisten habe, dürfe es die nach diesen rechtlichen Vorgaben berechneten und zu gewährenden Leistungen nicht kürzen oder gar komplett streichen, so das SG.

Sozialrichter: "Das BVerfG steckt in einem Dilemma"

Die Karlsruher Richter hielten sich während der Verhandlung Anfang des Jahres bewusst bedeckt.

Für Dr. Martin Kellner, Richter am Sozialgericht Freiburg im Breisgau, steht aber fest: "Das Verfassungsgericht befindet sich in einem Dilemma." Denn im Jahr 2014 hat es entschieden, dass die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II mit dem Grundgesetz "derzeit noch vereinbar" sind (Beschl. v. 23.07.2014 – 1 BvL 10/12). "Dies spricht dafür, dass ein Unterschreiten des Regelbedarfs unzulässig ist", so Kellner gegenüber LTO. "Nach der herkömmlichen Auffassung ist die Menschenwürde absolut, unverfügbar und keiner Abwägung zugänglich. Wenn das Gericht hieran festhält, muss es zu einem Ergebnis kommen, das dem bedingungslosen Grundeinkommen nahekommt."

Lehnten die Karlsruher Richter aber – "entsprechend den aktuellen arbeits- und sozialpolitischen Vorstellungen des Gesetzgebers", wie Kellner betont – solch ein Modell der Grundsicherung ab, müsse es auch Kürzungen bei den Leistungen zulassen, die der Höhe nach ohnehin mit dem Grundgesetz nur "derzeit noch vereinbar" seien. Dann aber, sagt Kellner, stehe "in diesem Fall eine Relativierung der Menschenwürde im Raum."

Der Sozialrichter tippt deshalb darauf, dass die Karlsruher Richter versuchen werden, eine salomonische Lösung zu finden: "Nicht unwahrscheinlich erscheint es, dass das Verfassungsgericht einen Kompromiss zwischen den widerstreitenden Interessen darin findet, dass es hohe Leistungskürzungen bei wiederholtem Fehlverhalten – namentlich solche in Höhe von 60 bis 100 Prozent des Regelsatzes – für verfassungswidrig erklärt und zusätzlich eine stärkere Rücksichtnahme auf die Umstände des Einzelfalls fordert. Die Sanktionsregelungen des SGB II sind nämlich relativ starr und sehen keine behördliche Ermessensausübung vor."

Wie auch immer die Karlsruher Richter tatsächlich entscheiden mögen: Die Hartz-IV-Kürzungen vor dem BVerfG sind ein aktuelles Beispiel dafür, warum die Menschenwürde in der rechtswissenschaftlichen Literatur auch als "schwierigstes Grundrecht" gilt. Der Parlamentarische Rat stellte sie ohne Beispiel in der Verfassungsgeschichte mutig nach ganz vorne, allen anderen Grundrechten voran. Seitdem ist klar: Nur eine Phrase ist die Unantastbarkeit der Menschenwürde jedenfalls nicht.

Zitiervorschlag

70 Jahre GG – die Menschenwürde aus Art. 1 Abs. 1 GG: Eine Frage des Geldes . In: Legal Tribune Online, 23.05.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/35555/ (abgerufen am: 18.04.2024 )

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