Angehörigenschmerzensgeld: Mehr Gerech­tig­keit für Witwen und Waisen

Nach deutschem Schadensersatzrecht stehen nahen Angehörigen von bei Unfällen getöteten Menschen keine eigenen Schadensersatzansprüche zu. Zahlreiche Juristen sprechen sich deshalb inzwischen für ein Angehörigenschmerzensgeld aus, wie es in europäischen Nachbarstaaten bereits existiert. Auch Dieter Müller fordert ein klares Signal des Gesetzgebers für den Opferschutz.

Unfallopfer sind nach geltendem Recht nur die direkt an einem Unfall beteiligten und dadurch verletzten Personen. Keine Opfer sind demnach nahe Angehörige wie Eltern, Ehepartner und Kinder. Dennoch leiden sie psychisch und physisch direkt und unmittelbar an den Unfallfolgen – manchmal noch mehr als die körperlich verletzten Personen selbst. Sie sind Geschädigte ohne zivilrechtliche Ansprüche auf Schadensersatz.

Auch deutsche Juristen z. B. der beiden Automobilclubs ADAC und ACE sehen deshalb inzwischen einen dringenden Reformbedarf und diskutieren die Thematik des Angehörigen-Schmerzensgeldes auf dem kommenden 50. Deutschen Verkehrsgerichtstag in Goslar. Dabei werden sich Rechtsanwälte, Opferverbände und die Versicherungswirtschaft gegenüber stehen und dem Bundesministerium der Justiz und dem Gesetzgeber ihre Auffassungen darlegen. Versicherer haben aber naturgemäß kein gesteigertes Interesse an einer veränderten Rechtslage. Sie befürchten höhere Kosten.

Eine in Deutschland typische Gerichtsentscheidung zeigt die Problematik: Im Jahr 2009 entschied das Oberlandesgericht(OLG) Frankfurt am Main einen Fall, in dem es um Schadensersatz nach einem tödlichen Verkehrsunfall ging (Oberlandesgericht Frankfurt, Urteil vom 14.9.2009, Az. 1 U 309/08). Ein Motorradfahrer war auf einer glatten Straße gestürzt, weil das Land Hessen seine Verkehrssicherungspflichten vernachlässigt hatte. Der Mann hinterließ eine Ehefrau und ein eineinhalb Jahre altes Kind.

Die Richter urteilten in einem Leitsatz, dass eine Ersatzpflicht hinsichtlich des Angehörigen eines Unfallopfers nicht besteht, "wenn  der Angehörige nicht atypische Folgewirkungen mit eigenständigem Krankheitswert behauptet. Ein Angehörigen-Schmerzensgeld kennt das deutsche Recht nicht."

Kleinkinder gehen meist leer aus

Eine Ausnahme macht das deutsche Recht nur für die Fälle der so genannten Schockschäden. Nur wenn Folge des Unfalltods eines Angehörigen eine medizinisch erfassbare und seelisch vermittelte Gesundheitsschädigung ist, die bewiesen werden kann, haben Angehörige einen Schmerzensgeldanspruch aus eigenem Recht. Darunter sind psychische Belastungen zu verstehen, die über den Schmerz des Verlustes einer nahe stehenden Person deutlich hinausgehen.

Da diese Belastungen bei Kleinkindern, die durch einen Unfall ein Elternteil verlieren, für die Zukunft nicht nachgewiesen werden können, gehen sie derzeit leer aus. Schmerzensgeldansprüche stehen diesen nicht sichtbar leidenden Kindern nicht zu, und ihre Klagen werden abgewiesen.

Dass es auch anders geht zeigt das europäische Ausland: Viele Rechtsordnungen enthalten bereits direkte Ansprüche auf Schadensersatz für nahe Angehörige. In Österreich, Italien, Spanien und England können Ansprüche auf "Trauergeld" gerichtlich erstritten werden. Je nach bereits entschiedenen Präzedenzfällen oder in Form von vordefinierten Tabellen für genormte Verluste, können sie in ihrer Höhe differieren. Nach Angaben des ADAC haben in Italien die Eltern eines bei einem Unfall getöteten Kindes Schadensersatzansprüche gegenüber dem Schädiger zwischen 30 000 und 80 000 Euro, in Spanien sogar bis zu 160 000 Euro, während in England und Belgien je nach Art des erlittenen Schadens Pauschalsummen von mehreren tausend Euro eingefordert und eingeklagt werden können.

Mehr Gerechtigkeit und Opferschutz

Psychisches Leid erscheint auf den ersten Blick nicht messbar. Dadurch geraten Ansprüche naher Angehöriger nach dem Verlust eines Menschen leicht in den schlechten Ruf des Abkassierens. Es geht hier jedoch nicht – wie von manchen Gegnern abfällig geäußert wird – um einen Ersatz für "kaputte Lebensqualität", sondern um die nachhaltige Zerstörung von Lebensentwürfen und den dauerhaften und durch nichts zu kompensierenden Verlust von Lebensglück.

Zeit heilt weder im Leben noch juristisch alle Wunden, die Leib und Seele durch verschuldete Unfälle erlitten haben. Dabei geht es im Übrigen nicht nur um Verkehrsunfälle, sondern zum Beispiel auch um ärztliche Kunstfehler, nach denen neu geborene Kinder ohne Mutter von einem traumatisierten Vater großgezogen werden müssen.

Hier ist die Rechtspolitik gefragt, einen eigenständigen Anspruch auf Schadensersatz zu konstruieren, der es den nahen Angehörigen ermöglicht, erlittene Schäden wenigstens teilweise durch materielle Ansprüche zu kompensieren. Dadurch könnte zum Beispiel eine professionelle Behandlung finanziert werden, die wenigstens zu einer partiellen Linderung des Unglücks führt. Oder Kindern, die als Halbwaisen oder Waisen zurückbleiben, eine finanziell sorgenfreiere Zukunft ermöglicht werden. Damit wäre wenigstens ein Anfang gemacht, und es würde ein deutliches Signal für mehr Gerechtigkeit und Opferschutz gesetzt.

Der Autor Prof. Dr. Dieter Müller ist wissenschaftlicher Leiter des Instituts für Verkehrsrecht und Verkehrsverhalten Bautzen und Autor zahlreicher Publikationen zum Verkehrsrecht.

 

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Zitiervorschlag

Dieter Müller, Angehörigenschmerzensgeld: Mehr Gerechtigkeit für Witwen und Waisen . In: Legal Tribune Online, 22.12.2011 , https://www.lto.de/persistent/a_id/5158/ (abgerufen am: 22.04.2024 )

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