Geschichte des BVerfG als Buch: "Ich gehe bis nach Karlsruhe"

Interview mit Dr. Rolf Lamprecht

05.09.2011

In seinem neuen Buch erzählt Dr. Rolf Lamprecht, der über 30 Jahre für den SPIEGEL aus Karlsruhe berichtete, eine spannungsreiche Geschichte des BVerfG. 1951 nahmen die anfangs noch nicht "roten Roben" ihre Arbeit auf. Lamprecht, Jahrgang 1930, hat die Entwicklung über den gesamten Zeitraum beobachtet und spricht im LTO-Interview auch über Gegenwart und Zukunft des Gerichts.

LTO: Herr Dr. Lamprecht, Sie beobachten die Arbeit des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) bereits seit 60 Jahren. 60 Jahre, das ist die Hälfte des sprichwörtlichen "biblischen Alters" von 120 Jahren. Wenn Sie spekulieren müssten: Wie könnte die Entwicklung des Gerichts in den kommenden Jahrzehnten aussehen?

Lamprecht: Bleiben wir einmal bei den nächsten zehn Jahren. Weiter zu denken, würde die Phantasie überfordern. Für die nächsten zehn Jahre sehe ich, dass das BVerfG auf der einen Seite, die beiden europäischen Gerichtshöfe in Straßburg und Luxemburg auf der anderen Seite, an einer Balance arbeiten werden. Das wird größte Anspannung erfordern. Der amtierende Präsident des Verfassungsgerichts, Professor Voßkuhle, spricht von einem Dreierverbund: Die drei Gerichtshöfe sollen aufeinander hören. Und sie müssen es.

Das BVerfG wird sich, gestützt auf das Grundgesetz (GG), nicht auf irgendwelche Über- oder Unterordnungsverhältnisse einlassen. Es bleibt bei einem Nebeneinander, in dem das bessere Argument zählt.

LTO: Die neue deutsche Richterin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Professor Angelika Nußberger, sagte im LTO-Interview, Probleme würden sich eher zwischen Karlsruhe und Straßburg abzeichnen als zwischen Karlsruhe und Luxemburg. Wie sehen Sie das?

Lamprecht: Im Augenblick würde ich ihr da zustimmen. Gegenwärtig wird das Spannungsverhältnis zwischen Karlsruhe und Straßburg immer wieder sichtbar. Das hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass "Menschenrechtsthemen" mehr öffentliches Interesse wecken und auch mehr Schlagzeilen produzieren – und das nicht nur in Boulevardmedien – als irgendeine abstrakte Rechtsfrage, die zwischen Karlsruhe und Luxemburg hin- und hergeschoben wird.

Nehmen Sie das Thema Presse- und Medienfreiheit. Das BVerfG hatte hier einen sehr weiten Rahmen gesetzt. Dann hat der EGMR zugunsten einer "Vielklägerin", der Fürstin von Monaco, engere Grenzen gezogen – das Persönlichkeitsrecht müsse viel stärker greifen, als es das BVerfG ausgestaltet hatte. Das ist sicher nicht völlig ausgestanden. Aber ich vermute, die Gerichte werden sich irgendwann arrangieren.

Ich sehe es dabei kritisch, dass der Straßburger Gerichtshof mit einem sehr hohen Anspruch antritt, der nicht immer hält, was er verspricht - sondern Staunen hervorruft. Ich erlebe einen Gerichtshof, der – wenn russische Strafrichter Putins Gegner Chodorkowski nach Sibirien verbannen – kein politisch gelenktes Verfahren entdecken kann.

"BVerfG war oft fortschrittlicher als die fortschrittlichsten Kräfte der Gesellschaft"

LTO: Kommen wir zum Gegenstand Ihres neuen Buches, der Geschichte des BVerfG – vielleicht mit einer Anekdote, die Sie nicht aufgreifen. Es heißt, die roten Roben der Verfassungsrichter wurden vom Kostümschneider eines Theaters entworfen.

Lamprecht: Nach meiner Erinnerung hat bei den Entwürfen der Roben ein Kostümbildner des Badischen Staatstheaters mit Hand angelegt, was in Karlsruhe zeitweilig als offenes Geheimnis gehandelt wurde. Einzelne Verfassungsrichter wollten nicht, dass diese Geschichte publik wird und drohten damit, die Freundschaft aufzukündigen. Das versteht man heute gar nicht mehr – und das hat man damals schon nicht wirklich verstanden.

LTO: Man hat früher vom Theater als einer „moralischen Anstalt“ gesprochen. Das BVerfG  galt über Jahrzehnte auch als moralische Instanz. Ist das – etwa nach dem Widerstand gegen das "Kruzifixurteil" in den 1990er-Jahren – noch eine zutreffende Beschreibung?

Lamprecht: Ob man dem Gericht gerecht wird, wenn man es zur "moralischen Instanz" erklärt, ist fraglich. Es ist immer meine These gewesen, dass das BVerfG Pionier von gesellschaftlichen Entwicklungen war, was eigentlich gar nicht seine Aufgabe ist. Tatsächlich war es oft fortschrittlicher als die fortschrittlichsten Kräfte der Gesellschaft - etwa im Familienrecht. Umgekehrt haben die Verfassungsrichter aber auch manche progressive Entwicklung zunächst gestoppt, um das Problem dann später wieder aufzunehmen und ihre Entscheidungen rückgängig zu machen. Wäre man ein Grafiker, könnte man versuchen, das Auf und Ab einmal in Kurven darzustellen.

Wenn Sie aber den bis heute anhaltenden, latenten Widerstand gegen die "Kruzifix"-Entscheidung ansprechen –  eine Entscheidung, die in Bayern ja nur sehr lässig befolgt worden ist.

LTO: Soweit das Verfassungsgericht als "moralische Instanz" gesehen wird – mit der Moral nehmen es Viele nicht so genau, also würde es moralische und verfassungsgerichtliche Urteile miteinander verbinden, wenn ihre Verbindlichkeit ganz von der Akzeptanz der Beteiligten abhinge.

Lamprecht: Roman Herzog hat einmal gesagt, das BVerfG könne auf keinen Gerichtsvollzieher zurückgreifen, der dafür sorgt, dass seine Entscheidungen respektiert werden. Das läuft auf ein Minimum an Höflichkeit hinaus. Herzog vertraute darauf, dass die Verfassungsorgane wechselseitig Respekt voreinander zeigen.

Beim gerade aktuellen Streit geht es um die Reform des Bundestagswahlrechts, das Gericht hatte den Parteien für die Umsetzung eine Frist von drei Jahren gesetzt. Doch es geschah nichts. Die Parteien – vor allem die Regierungsfraktionen – haben das Gericht auf eine unverschämte Art brüskiert. Da ist von wechselseitigem Respekt nicht viel übrig geblieben. Man muss hoffen, dass dies ein Ausreißer bleibt.

"Bei Richterwahl wird Anspruch auf rechtliches Gehör völlig vergessen"

LTO: Um noch ein wenig auf dem Stichwort des moralischen Vorbilds herumzureiten: Sie erzählen in Ihrem Buch davon, dass Gebhard Müller – Gerichtspräsident zwischen 1959 und 1971 – in seinem Amt als Staatspräsident von Württemberg-Hohenzollern die letzte vollstreckte Todesstrafe in Westdeutschland zu verantworten hatte.

Lamprecht: Das Thema ist mir erst bei der Recherche zu diesem Buch begegnet. Wäre es mir zu Lebzeiten Müllers bekannt gewesen, hätte ich ihn vielleicht darauf angesprochen. Er war ein gläubiger, fast dogmatischer Katholik und der damals amtierende Papst – vermutlich ein Vorbild des CDU-Politikers Müller – war ganz sicher kein Gegner der Todesstrafe. Was mich aber in erster Linie störte, war etwas anderes: Da hat sich ein hochrangiger Jurist sich nicht davon irritieren lassen, dass drei Monate nach der Hinrichtung das GG in Kraft treten sollte – und es war kein Geheimnis mehr, dass die Todesstrafe damit abgeschafft wird.

LTO: In der Chronologie öffentlich wahrgenommener Ereignisse rund um das BVerfG fiel mir eine erstaunliche Diskrepanz auf: Die schwer nachvollziehbare Rolle von Gebhard Müller bei der letzten württembergischen Hinrichtung löste 1949 oder 1959 offenbar keine große Empörung aus. Auf der anderen Seite scheiterte mit Horst Dreier jüngst erst ein Kandidat für ein Verfassungsrichteramt, weil die Fußnote in einem seiner Kommentare Anstoß erweckte. Er fiel aus dem Rennen, ohne überhaupt zu Wort zu kommen.

Lamprecht: Das letztere trifft den Punkt. Denn was mich stört, hat nicht allein mit dem Fall Dreier zu tun, sondern mit den Verfassungsrichterwahlen insgesamt: Es ist ihr Mangel an Transparenz. Ich bin nicht sicher, ob Professor Dreier, wenn ihm im Richterwahlverfahren rechtliches Gehör gewährt worden wäre, eine Zweidrittelmehrheit bekommen hätte. Ich finde es aber besonders empörend, dass bei der Wahl in die höchsten Richterämter der Republik ein Artikel des GG völlig übersehen und vergessen wird: Der Anspruch auf rechtliches Gehör. Das halte ich für schandbar.

Es sind aber zwei Dinge, die hier auseinanderzuhalten sind. Zum einen muss man sich wohl damit abfinden, dass Menschen mit Ecken und Kanten keine Chance haben, eine Zweidrittelmehrheit zu bekommen. Das andere ist die Frage, ob man das Verfahren sauber und transparent abwickelt. Und das ist aus meiner Sicht nicht der Fall gewesen.

"Das Buch zeigt: Rechtsprechung ist ein dialektischer Prozess"

LTO: Ist es nicht etwas merkwürdig, dass Menschen mit Ecken und Kanten nicht "durchkommen"? Im Supreme Court der USA sitzt beispielsweise mit Antonin Scalia ein Richter, der so merkwürdige Positionen vertritt wie jene, die Verfassung im Geist ihrer Entstehungszeit zu interpretieren.

Lamprecht: Das Richterwahlverfahren in den USA wird hierzulande oft als negatives Beispiel herangezogen. Man hat wohl Angst vor diesem amerikanischen Verfahren, bei dem die Kandidaten im öffentlichen Kreuzverhör "gegrillt" werden. Aber das kann im Ernst nicht heißen, dass man nicht versuchen muss, das Verfahren transparenter zu machen.

Um sich von einem Kandidaten wie dem jetzt amtierenden Gerichtspräsidenten Professor Voßkuhle ein Bild machen zu können, musste sich der Interessierte nur zwei Stunden in die Bibliothek setzen. Er hat ein riesiges Oeuvre, aus dem sich zwar nicht ablesen lässt, wie er sich als Richter verhalten wird, aber man hat ein Bild von der Person. Von Kandidaten, die aus dem Dienst als Bundesrichter kommen, weiß man dagegen in der Regel wenig – außer eventueller Nähe zu einer politischen Partei.

Mein Vorschlag ist: Die Kandidaten für ein Amt im höchsten Gericht sollten eingeladen werden, sich mit dem zuständigen Ausschuss für eine halbe Stunde im öffentlichen Diskurs zu unterhalten – eingeleitet durch ein Viertelstundenreferat zu einem Thema ihrer Wahl.

LTO: Der Kollege Maximilian Steinbeis hat unlängst in seinem "Verfassungsblog" die Frage aufgeworfen, ob einige äußerst gewichtige Probleme der öffentlichen Verwaltung überhaupt noch in eine juristische Form gebracht werden, die eine effektive verfassungsgerichtliche Prüfung zuließen. Als Beispiel nannte er die Regulierungsbeschlüsse der Bundesnetzagentur.

Lamprecht: Mir liegt ein Beispiel näher, das wahrscheinlich allgemeinverständlicher ist. Nehmen Sie Stuttgart 21: Großprojekte wie dieses werden in Teilakten genehmigt, die zeitlich weit auseinander liegen. Am Ende schlägt dieses unübersichtliche Quantität in eine neue Qualität um – in eine, die aus Sicht der Bürger von keiner Genehmigung mehr gedeckt ist. Mag sein, dass diesen Gesetzen noch eine formale Legalität zur Seite steht. Aber fehlt ihnen nicht letztlich jede innere Legitimation?

LTO: Professoren wie der Arbeitsrechtler Bernd Rüthers pflegen den Gedanken, dass es beinahe ein Verhängnis sei, wie kenntnisfrei in Sachen Rechtsgeschichte junge Juristen die Universitäten verließen. Zum Schluss daher vielleicht noch die für einen Autoren etwas provozierende Frage: Wird Ihr Buch über 60 Jahre Geschichte des Bundesverfassungsgerichts daran etwas ändern?

Lamprecht: (nach einer kurzen Denkpause) Ich bin mir im Ernst nicht sicher. Aber um dem Gedanken zu folgen: Der streng dogmatische Rechtshistoriker wird aus meinem Buch keinen Honig saugen können. Doch wer etwas über 60 Jahre Rechtsgeschichte der Bundesrepublik erfahren will, kommt – hoffe ich – auf seine Kosten. Das Buch zeichnet nach, wie jedes einzelne  Grundrecht interpretiert, präzisiert und verbindlich gemacht wurde, wie aus Untertanen mündige Bürger wurden. Das Buch behandelt zugleich alle großen politischen Konflikte, die das Gericht in seiner Eigenschaft als Staatsgerichtshof entschieden hat. Der Rechtshistoriker – nehmen wir einmal an, das Fach würde wieder gepflegt – kann daraus eigentlich nur lernen: Rechtsprechung ist ein dialektischer Prozess, der ständig aus Thesen und Antithesen Synthesen entwickelt – und nach jedem abgeschlossenen Intervall wieder von vorn.

LTO: Herr Dr. Lamprecht, wir danken Ihnen für das Gespräch.

Dr. Rolf Lamprecht verdankt seine frühe Bekanntschaft mit dem Verfassungsrecht seinem akademischen Lehrer Martin Drath, der 1951 zum Richter im ersten Senat des BVerfG gewählt wurde. Drath, Professor an der "Deutschen Hochschule für Politik" in Berlin, brachte seinen Studenten "die Idee vom Grundgesetz als Glücksfall der Geschichte" schon 1949 nahe, wie sich Lamprecht erinnert – lange bevor Dolf Sternbergers Begriff "Verfassungspatriotismus" zum geflügelten Wort wurde.

Als Journalist entdeckte Rolf Lamprecht das öffentliche Recht als sein Thema. Für den SPIEGEL berichtete er zwischen 1968 und 1998 aus Karlsruhe. Zu aktuellen verfassungsrechtlichen Problemen publizierte Lamprecht unter anderem in der "Neuen Juristischen Wochenschrift" (NJW) und der "Zeitschrift für Rechtspolitik" (ZRP). Seine Dissertation schrieb der streitbare SPIEGEL-Autor 1992 über das Sondervotum in verfassungsgerichtlichen Entscheidungen.

Das Gespräch führte Martin Rath, freier Lektor und Journalist in Köln.

Statt einer Kurzzezension: Eine kleine Widerrede zum Schluss:

Während in den USA bedeutenden Juristen Biografien von Gewicht gewidmet werden und auch das Interesse an der historischen Genese der Gerichte und ihrer Rechtsprechung nicht zu erlahmen scheint, würde man hierzulande zum Beispiel unter "Savigny" wohl bald schon eine französische Rotweinsorte vermuten, wüssten nicht wenige Juristen den Namen als rotweinuntypischen "Friedrich Carl von Savigny" zu buchstabieren.

"Ich gehe bis nach Karlsruhe" erzählt die Geschichte des BVerfG nicht zuletzt als die Geschichte großer juristischer Köpfe, die auch in ihren kantigen Formen am höchsten deutschen Gericht in nicht kleiner Zahl präsent waren.

So lebendig wird vom Recht selten erzählt und wer den "living mechanism" des deutschen Verfassungsgerichts aus der Perspektive eines seiner intimsten Beobachter kennenlernen möchte, wird mit Rolf Lamprechts Buch bestens bedient.

Rolf Lamprecht: "Ich gehe bis nach Karlsruhe". Eine Geschichte des Bundesverfassungsgerichts, München (Deutsche Verlags-Anstalt) 2011, 350 Seiten, 19,99 Euro.

 

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Zitiervorschlag

Dr. Rolf Lamprecht, Geschichte des BVerfG als Buch: "Ich gehe bis nach Karlsruhe" . In: Legal Tribune Online, 05.09.2011 , https://www.lto.de/persistent/a_id/4208/ (abgerufen am: 15.04.2024 )

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