Sexueller Missbrauch von Kindern durch Geistliche: Wo bleibt das kirchliche Strafrecht?

Norbert Diel

20.04.2010

Immer mehr Opfer von Missbrauch in katholischen Einrichtungen melden sich zu Wort. Norbert Diel zeigt, dass es keine einfachgesetzliche Pflicht der Kirche zur Anzeige solcher Fälle bei der Staatsanwaltschaft gibt. Er fordert die Diözesanbeschöfe auf, dennoch nicht nur mit dem Staat zusammenzuarbeiten, sondern auch vom kirchlichen Strafrecht Gebrauch zu machen.

Die sexuellen Übergriffe von Geistlichen auf Kinder und Jugendliche scheinen so endlos wie das Leid, das den Opfern zugefügt wurde. Seit Monaten tauchen immer wieder neue Fälle auf, die Schlimmes offenbaren und das Vertrauen in die Institution Kirche schwer erschüttern. Niemand kann verstehen, weshalb die Kirche zu den Fällen geschwiegen hat, warum die Täter lediglich in andere Pfarreien versetzt wurden und wieso Opfer mundtot gemacht wurden. Die Öffentlichkeit mag darüber zu Recht aufgebracht sein.

Aber es ist zu befürchten, dass dies ebenso wenig weiter hilft wie die runden Tische oder Telefonhotlines, die in bester Absicht einberufen und eingerichtet werden. Tatsächlich muss die Kirche selbst in ihrem Innersten handeln. Und die Konsequenzen der Taten ihrer Geistlichen sollten sich nicht nur aus dem weltlichen Strafrecht ergeben, auf das die öffentliche Diskussion sich bisher beschränkt.

Das Kirchenrecht kennt umfangreiche, im Codex Iuris Canonici 1983 (CIC) geregelte straf- und strafverfahrensrechtliche Vorschriften. Auch der sexuelle Missbrauch von Kindern durch Geistliche wird dort mit teils drakonischen Strafen geahndet. Natürlich verfügt die Kirche nicht über Gefängnisse. Aber sie hat eigene Gerichte, eigene Richter und "Staatsanwälte", und sie kann Straftäter sogar exkommunizieren.

Leider scheint sie auf der Ortsebene, also der Ebene der Diözesanbischöfe, ihr eigenes Recht vielfach nachlässig anzuwenden, wenn die Täter bloß versetzt werden (was als Strafe gemäß CIC aber zulässig ist).

Keine Verpflichtung zur Anzeige bei der Staatsanwaltschaft

Entgegen weit verbreiteter Ansicht ist der zuständige Bischof, wenn ihm ein Missbrauchsfall bekannt wird, auf einfachgesetzlicher Ebene des weltlichen Rechts nicht verpflichtet, den Missbrauchsfall auch an die Staatsanwaltschaft zu melden. Denn die Pflicht, einen Rechtsbruch an die Staatsanwaltschaft zu melden, besteht nur bei Mord und Völkermord. Sexueller Missbrauch gehört nicht in diese Kategorie. Das ist sicherlich eine starke Einschränkung, aber der Gesetzgeber wollte dadurch einen "Denunzianten-Staat" verhindern.

Auch im Kirchenrecht gibt es keine Verpflichtung für den Bischof, solche Fälle an die Staatsanwaltschaft zu melden. Das resultiert aus dem Umstand, dass der CIC weltweit gilt und nicht jeder Staat ein Rechtsstaat ist, bei dem die Kirche sicher sein kann, dass Geistliche, die sich nach weltlichem Recht strafbar gemacht haben, in einem fairen rechtsstaatlichen Verfahren abgeurteilt werden.

Gleichwohl heißt das aber nicht, dass die Kirche damit einer Meldung an die Staatsanwaltschaft entgehen kann. Denn für das deutsche Recht und im Hinblick auf die Zusammenarbeit zwischen Kirche und Staatsanwaltschaft muss hier anderes gelten. Deutschland ist ein Rechtsstaat, und das Staatskirchenrecht stellt geeignete rechtliche Instrumente einer geordneten Zusammenarbeit bereit.

Das Staatskirchenrecht ist die Grundlage der seit Jahrzehnten guten, vertrauensvollen und von gegenseitigem Respekt geprägten Zusammenarbeit die beiden "Systeme" Staat und Kirche. Daran sollte festgehalten werden. Auch wenn es auf einfachgesetzlicher Ebene keine Rechtsverpflichtung zur Meldung von Missbrauchsfällen gibt, so gibt es doch die staatskirchenrechtliche Obliegenheit der Kirche, solche Fälle zu melden und zu jeder Zeit vertrauensvoll mit der Staatsanwaltschaft zusammenzuarbeiten.

Erst der Staat, dann die Kirche – Doppelbestrafung nicht ausgeschlossen

Wird dem zuständigen Bischof innerhalb seiner Diözese ein Missbrauchsfall bekannt, muss er dem nachgehen und eigene innerkirchliche Ermittlungen aufnehmen. Er wird in der Regel ein förmliches Untersuchungsverfahren nach CIC einleiten.

Daneben sollte er sich nach dem Vorgesagten staatlicher "Amtshilfe" bedienen. Er sollte also regelmäßig die Staatsanwaltschaften einschalten und deren Ermittlungsergebnisse abwarten, ehe er Täter und  Tat danach noch nach kirchlichem Strafrecht abhandelt.

Der Geistliche kann unter bestimmten Umständen sogar nach beiden Rechtsordnungen und damit doppelt bestraft werden, weil das Kirchenrecht den Grundsatz "ne bis in idem" bei der Strafzumessung nicht kennt. Wichtig ist aber in diesen Fällen, dass der Geistliche zunächst nach weltlichem Recht abgeurteilt wird. Eine solche Zusammenarbeit zwischen Bischof und Staatsanwaltschaft entspräche nicht nur wie dargelegt der Verfassungswirklichkeit des Staatskirchenrechts, sondern ist übrigens in der kirchenrechtlichen Literatur bereits vor vielen Jahren einmal diskutiert und angeregt worden.

Diözesanbischöfe müssen konsequenter handeln

Es muss gehandelt werden. Und zwar in zwei Richtungen: seelsorgerisch gegenüber den Opfern und juristisch gegenüber den Tätern.  Dabei kann die rechtliche Lösung nicht nur in der Ausweitung der Verjährungsvorschriften des StGB liegen.

Vielmehr muss die Kirche einsehen, dass die Möglichkeiten pastoraler Begleitung ihrer straffällig gewordenen Geistlichen in den Fällen des sexuellen Missbrauchs versagen. Ein Geistlicher, der Kinder und Jugendliche missbraucht, bedarf keiner seelsorgerischen Betreuung durch seinen Bischof, sondern muss konsequent und ohne Zögern neben dem weltlichen Strafrecht auch und gerade dem kirchlichen Strafrecht in all seiner Härte unterworfen werden.

Dabei besteht weniger ein Problem Roms oder gar des Papstes als vielmehr der einzelnen Diözesanbischöfe. Sie müssen konsequenter handeln. Der Papst kann seinerseits den Staat und allem voran die Opfer dadurch unterstützen, dass er das Verhalten seiner Bischöfe genauer überwacht und gegebenenfalls lenkend eingreift. Und das tut er. Da, wo Rom Defizite in der Rechtsanwendung erkennt, wird entschlossen durchgegriffen, wie die an Klarheit und Radikalität nicht zu überbietenden Reaktionen des Vatikans auf die Vertuschungsaktionen des irischen Klerus zeigen.

Dennoch bleibt der Kirche zu wünschen, dass sie die interne Diskussion um die Anwendung des Kirchenstrafrechts neu anstößt und die verfassungsgemäße Zusammenarbeit mit dem Staat aktiv voran bringt. Nicht nur die Opfer würden es ihr danken.

Der Autor Norbert Diel ist Rechtsanwalt in Köln. Zuvor war er viele Jahre lang Assistent und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kirchenrecht der Universität zu Köln.

Zitiervorschlag

Norbert Diel, Sexueller Missbrauch von Kindern durch Geistliche: Wo bleibt das kirchliche Strafrecht? . In: Legal Tribune Online, 20.04.2010 , https://www.lto.de/persistent/a_id/374/ (abgerufen am: 16.04.2024 )

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