Terrorismus: Ver­fas­sungs­fragen um exp­lo­sive Fracht

Dr. Ulrich Vosgerau

09.11.2010

Trotz massiver Kritik will sich der niedersächsische Innenminister Schünemann weiterhin dafür einsetzen, dass die Bundeswehr zur "Landesverteidigung" Flugzeuge mit Bomben an Bord abschießen darf. Das Bundesverfassungsgericht hat sich über die Frage des Einsatzes militärischer Mittel im Innern zerstritten. Steht nun eine Neuauflage des umstrittenen Luftsicherheitsgesetzes bevor?

"Die Würde des Menschen ist unantastbar" dekretiert das Grundgesetz (GG) in Art. 1. Aufgrund der absoluten Menschenwürdegarantie hatte das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) im Jahre 2006 eine Vorschrift des Luftsicherheitsgesetzes, die – als letztes Mittel – den Abschuss einer entführten Verkehrsmaschine ohne Rücksicht auf die Passagiere und die Crew zuließ, für verfassungswidrig erklärt. Dies würde ebenso für die Besatzung einer reinen Frachtmaschine, die eine Bombe an Bord hat, gelten; auch sie darf nicht zum reinen Objekt staatlicher Sicherheitspolitik werden.

Aber gilt die Unantastbarkeit der Menschenwürde wirklich immer und überall? Eine Ausnahme gibt es wohl: Im "Verteidigungsfall" wird das staatliche Handeln nicht unmittelbar am GG gemessen, sondern am humanitären Völkerrecht. Auch dort gibt es eine Menschenwürde. Aber sie wird anders verstanden als die Menschenwürde des Grundgesetzes.

Denn wer Krieg führt (zur Selbstverteidigung ist dies erlaubt), kann "Kollateralschäden" an der eigenen oder fremden Zivilbevölkerung nicht immer vermeiden. Im Krieg ist es nicht absolut verboten, Zivilisten zu töten. Es muss nur nach Möglichkeit vermieden werden, und die Schädigung der Zivilbevölkerung darf nicht außer Verhältnis zur militärischen Bedeutung der jeweiligen Aktion stehen.

Flugzeugentführung als "Verteidigungsfall"?

Kann man also den umstrittenen Paragraphen einfach wieder in Kraft setzen, wenn man im Falle einer Flugzeugentführung – oder gar schon, wenn Tatsachen den Verdacht begründen, daß ein Flugzeug eine Bombe an Bord hat -  den Verteidigungsfall ausruft? Wohl kaum. Normalerweise muss der Verteidigungsfall von Bundestag und Bundesrat jeweils mit Zwei-Drittel-Mehrheit festgestellt werden. Dies dürfte im Falle einer Flugzeugentführung schon aus zeitlichen Gründen ausgeschlossen sein. Zwar sieht das GG die Möglichkeit vor, diese Feststellung zu fingieren, wenn die zuständigen Staatsorgane nicht schnell genug handlungsfähig sind (Art. 115 a Abs. 4 GG).

Voraussetzung dafür ist aber, dass der Verteidigungsfall wirklich vorliegt, also "das Bundesgebiet mit Waffengewalt angegriffen wird". Dass dies bei einer terroristischen Flugzeugentführung nicht der Fall ist, hat das BVerfG in seiner Entscheidung zum Luftsicherheitsgesetz aus dem Jahr 2006 ausdrücklich klargestellt.

Auch wenn man die Voraussetzungen des "Verteidigungsfalles" durch eine Grundgesetzänderung anders formulieren würde, könnte die Politik sich nicht selbst einen Freibrief von der Menschenwürdegarantie ausstellen. Ob eine Handlung im Krieg oder im Frieden stattfand und ob sie die Menschenwürde verletzte, entscheiden letztlich immer die Gerichte. Dies folgt aus dem Rechtsstaatsgebot und aus der Menschenwürdegarantie des GG – und diese sind auch mit Zwei-Drittel-Mehrheiten nicht abänderbar, sondern durch die so genannte Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG vor jeder Änderung geschützt.

Eine andere Frage ist hingegen, ob der Abschuss eines Flugzeuges erlaubt wäre, in dem sich nur angriffsbereite Terroristen und keine zivile Geiseln befinden. Schießt man ausschließlich auf Terroristen, so wird deren Menschenwürde dadurch nicht berührt, sondern der Fall liegt ähnlich wie beim "finalen Rettungsschuss" in den Kopf des Bankräubers, der Geiseln genommen hat. Auch dies hat das BVerfG im Jahre 2006 bereits herausgestellt.

Amtshilfe für die innere Sicherheit

In dieser Konstellation stellt sich jedoch ein anderes Problem. Für die innere Sicherheit ist die Polizei zuständig und nicht die Bundeswehr. Die Polizei hat aber nicht die technischen Möglichkeiten, um Flugzeuge abzuschießen. Nur deshalb wird die Bundeswehr bemüht. Den Vorgang nennt man Amtshilfe; dass die Bundeswehr der Polizei Amtshilfe leisten darf, steht ausdrücklich im GG (Art. 35).

Nun ist es aber ein anerkannter Grundsatz, dass derjenige, der Amtshilfe leistet, dabei nur das tun darf, was der eigentlich zuständige Amtsträger auch tun dürfte. Denn der Amtshelfer handelt ja nur aus technischen Gründen an seiner Stelle. Die Polizei darf aber keine Flugzeuge abschießen und hat auch nicht die Mittel dazu.

Aus rechtsstaatlichen Gründen – man spricht vom "Vorbehalt des Gesetzes" – müssen nicht nur die Aufgaben und Befugnisse der Polizei in einem parlamentarischen Gesetz festgeschrieben sein, sondern auch die Mittel, die sie dazu benutzen darf. Und Kampfflugzeuge und Luft-Raketen sind nun einmal keine gesetzlichen Polizeiwaffen. Logische Konsequenz daraus für den Ersten Senat des BVerfG: Dann darf die Bundeswehr sie eben auch nicht einsetzen, sondern nur Polizeiwaffen.

Die einen können nicht, die anderen dürfen nicht

Bei dieser strengen Betrachtungsweise wird die Amtshilfe seitens der Bundeswehr natürlich sinnlos. Die einen können nicht, die anderen dürfen nicht. Die Ansicht des Ersten Senats mag den herrschenden Lehren über die Amtshilfe sehr wohl entsprechen, macht aber dadurch die bewaffnete Amtshilfe der Bundeswehr für die Polizei unmöglich. Und das entspricht wiederum nicht dem GG, meint die Mehrheit des Zweiten Senats des BVerfG. Denn dieses sieht die Hilfe der Bundeswehr zugunsten der Polizei ausdrücklich vor.

Nun hat der Zweite Senat über diese Frage wegen einer neuen Klage zweier Bundesländer gegen das Luftsicherheitsgesetz erneut zu entscheiden, und er will – entgegen der Rechtsprechung des Ersten Senats – auch die bewaffnete Amtshilfe grundsätzlich für zulässig erklären. Der Erste Senat ist not amused; die Richter haben sich in den vergangenen Monaten über diese Frage regelrecht zerstritten. Hieran vermochten die von Gerichtspräsident Voßkuhle anberaumten Schlichtungsgespräche nichts zu ändern. Nun wird es zu einer Plenumsentscheidung durch alle 16 Richter des Gerichts kommen. Mit dieser ist allerdings erst im nächsten Frühjahr zu rechnen, da das Gericht die Nachbesetzung der vier in der nächsten Zeit vakant werdenden Richterstellen abwarten will.

An dem Verbot des Abschusses eines Flugzeuges, in dem sich auch unbeteiligte Passagiere oder Crewmitglieder als Geiseln befinden, rüttelt beim BVerfG jedoch niemand.

Der Autor Dr. Ulrich Vosgerau ist Akademischer Rat am Seminar für Staatsphilosophie und Rechtspolitik der Universität zu Köln.

Zitiervorschlag

Dr. Ulrich Vosgerau, Terrorismus: Verfassungsfragen um explosive Fracht . In: Legal Tribune Online, 09.11.2010 , https://www.lto.de/persistent/a_id/1894/ (abgerufen am: 18.04.2024 )

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