Lügendetektor im Strafprozess: Weit entfernt vom "Einblick in die Seele"

Dr. Stefan Seiterle

08.11.2010

Im Prozess gegen Jörg Kachelmann wegen angeblicher Vergewaltigung könnte es zu einer Gutachterschlacht kommen, sollten auch nach den Aussagen weiterer Ex-Freundinnen Zweifel an den Vorwürfen von Sabine W. bestehen. Wäre es nicht leichter, man unterzöge sie und den Moderator einem Lügendetektortest? Dr. Stefan Seiterle über eine in Deutschland hoch umstrittene Methode.

 

Schon lange gibt es Versuche, auch in Deutschland den Lügendetektor im Strafprozess einzusetzen. 1954 verbot der Bundesgerichtshof (BGH) dies jedoch selbst für den Fall, dass der Angeklagte dem Test zustimmt. Begründung: Der Test verletze die Menschenwürde des Angeklagten, weil man mit ihm "Einblick in seine Seele" nehmen könne (Urteil vom 16.02.1954, Az: 1 StR 578/53).

Die Entscheidung war ersichtlich von dem technikskeptischen Klima der Nachkriegszeit und womöglich auch von religiösen Vorstellungen geprägt. Auch geht aus der Begründung nicht hervor, warum die Einwilligung keine Rolle spielen soll.

Gleichwohl war die Strafrechtswissenschaft fast geschlossen jahrzehntelang einer Meinung mit dem BGH. Anders als in weltweit mindestens 50 Staaten hieß das: Kein Lügendetektor in deutschen Gerichtssälen, nirgends – selbst wenn der Beschuldigte den Test zur Entlastung wünscht!

Stein des Anstoßes ist ein Verfahren, bei dem herkömmlich ein Gerät mit dem Namen "Polygraph" zum Einsatz kommt. Mit ihm lassen sich verschiedene Körperreaktionen messen wie zum Beispiel Puls, Schweißbildung oder Atemfrequenz. Dazu schließt man den Betreffenden an das Gerät an und stellt ihm verschiedene Fragen, die er alle gleich beantworten soll, etwa mit "ja". Anschließend versucht man, durch Analyse der Körperreaktionen herauszufinden, ob der Getestete auf einzelne Fragen (bewusst) gelogen oder die Wahrheit gesagt hat.

Es gibt keine eindeutigen Lügensignale des Körpers

Wichtig ist: Mit dem Lügendetektor lassen sich Lügen jedenfalls nicht direkt messen. Denn es gibt keine eindeutige Lügensignale des Körpers. Auf den Polygraphentest bezogen heißt das: Ein erhöhter Puls oder eine vermehrte Schweißbildung alleine sagen noch gar nichts über die Glaubhaftigkeit aus, denn diese Reaktionen können alle möglichen Ursachen haben. Man braucht also immer eine Vergleichsgröße.

Bei der oft eingesetzten Fragetechnik des Kontrollfragentests stellt man daher dem Betroffenen neben den auf die Tat bezogenen Fragen (zum Beispiel: "Haben Sie die Tat X begangen?)" solche, die ähnlich belastende Normverstöße des Beschuldigten aus der Vergangenheit betreffen (etwa: "Haben Sie in Ihrem Leben jemals eine Sache gestohlen?"). Diese so genannten Kontroll- oder Vergleichsfragen entwickelt der Untersucher in einem ausführlichen Vortest-Interview mit dem Beschuldigten.

Die Anhänger dieser Fragetechnik glauben, dass ein Unschuldiger bei den Kontrollfragen stärker reagiert als bei den Fragen zu der Tat, die er ja nicht begangen hat. Eine stärkere Reaktion auf die Kontrollfragen soll also ein Hinweis auf die Unschuld des Getesteten sein – und umgekehrt. Das gleiche Prinzip lässt sich anwenden, wenn man überprüfen möchte, ob ein Zeuge (aus seiner Sicht) die Wahrheit gesagt hat.

Polygraphentest: Erst rechtlich unzulässig – dann zu unzuverlässig

Über 40 Jahre nach dem ersten Urteil war der BGH erneut mit der Zulässigkeit des Kontrollfragentests befasst. Das Gericht teilte die rechtlichen Bedenken von 1954 nicht mehr, sondern stellte ganz zu Recht auf die Einwilligung des Beschuldigten ab: Die Menschenwürde solle nicht der Einschränkung des Menschen dienen, sondern schütze vielmehr seine "Freiheit ... über sich selbst zu verfügen und sein Schicksal eigenverantwortlich gestalten zu können" (BGH, Urt. v. 17.12.1998, Az. 1 StR 156/98).

Die Strafjuristen schlossen sich auch hier der Argumentation des BGH an. Rainer Hamm räumte sogar in einer Fachzeitschrift ein, dass "wir ... uns in Sachen Menschenwürde gegen 'Lügendetektor' fast ein halbes Jahrhundert lang selbst belogen haben".

Bedeutete dies, dass fortan Kontrollfragentests in der Hauptverhandlung erlaubt waren, wenn der Angeklagte oder der Zeuge eingewilligt hatte? Keineswegs. Denn der BGH kam nach Anhörung einiger Experten zu dem Ergebnis: Der Kontrollfragentest sei komplett unzuverlässig, mit ihm könne nicht einmal das geringste Indiz über die Glaubhaftigkeit einer Aussage gewonnen werden.

Verbot des Lügendetektors im Strafverfahren ist zweifelhaft

Die Entscheidung des BGH ist kritisch zu sehen: Zum einen ist der Schwenk hin zur plötzlichen rechtlichen Zulässigkeit zu radikal. Völlig unbeachtet ließen die Richter nämlich zum Beispiel folgendes Problem, das einige Strafrechtswissenschaftler zuvor noch als "kaum überschaubar" bezeichnet hatten: Was ist, wenn sich ein Angeklagter nicht testen lassen will? Ist das nicht ein Hinweis auf seine Schuld, gar ein Eingeständnis? Der BGH hatte das Problem mit dem lapidaren Hinweis auf ein entsprechendes Verwertungsverbot sehr verkürzt.

Auch bei der Beurteilung der Tauglichkeit des Tests ist dem BGH nicht zuzustimmen. Zwar gibt es in der Tat viel Kritik aus der Forschung: Das Konzept des Kontrollfragentests sei unausgereift und nicht standardisierbar, die Tests möglicherweise manipulierbar, die Ergebnisse im Labor ließen sich nicht auf die Wirklichkeit übertragen. Alles mehr oder weniger bedenkenswerte Aspekte, nur wird dabei spezifisches Prozessrecht außer Acht gelassen: Nach § 244 Abs. 3 Satz 2 Var. 4 der Strafprozessordnung muss ein Beweismittel nämlich "völlig ungeeignet" sein, damit das Gericht den entsprechenden Beweisantrag ablehnen darf.

Nach richtigem Verständnis heißt das, es muss quasi ausgeschlossen sein, dass ein Beweismittel etwas aussagen kann. Dies ist aber angesichts der zahlreichen Studien, welche die Zuverlässigkeit des Kontrollfragentests nahe legen, gerade nicht der Fall.

Wie hoch der Beweiswert eines Lügendetektortests im Einzelfall wäre, ist allerdings wieder eine andere Frage, die das jeweilige Tatgericht zu bewerten hätte. Vor dem Hintergrund der offenkundigen Schwächen des Kontrollfragentests könnte es durchaus Indizien und Beweisen den Vorzug geben, die dem Ergebnis des Tests zuwiderlaufen.

Gegen zuverlässige Lügendetektion hätte der BGH nichts einzuwenden

Selbst wenn der BGH aber recht hätte: Das Urteil öffnet die Tür für andere geeignete Verfahren der "Lügendetektion" - zumindest, solange man auch dort keine "spezifische Lügenreaktion" findet, weil die Richter für diesen Fall womöglich wieder eine Ausnahme machen könnten. Manche halten auch den Kontrollfragentest mittlerweile für so verbessert, dass die Rechtsprechung ihn heute wohl nicht mehr ablehnen würde.

Andere treten für den so genannten Tatwissentest ein, mit dem man nicht "Lügen" misst, sondern, wie der Name schon sagt, Tatwissen des Beschuldigten aufspüren will. Dieser – übrigens in Japan oft verwendete Test – ist wissenschaftlich weitaus akzeptierter. Er kann jedoch allenfalls am Anfang des Ermittlungsverfahrens eingesetzt werden, weil die Testlogik verlangt, dass dem Beschuldigten die Einzelheiten des Tatvorwurfs noch nicht bekannt sein dürfen.

Der Lüge auf der Spur durch den Blick ins Gehirn?

Auf eine ganz neue Ebene könnte die Lügendetektion schließlich durch die Neurowissenschaft gelangen: Seit gut zehn Jahren wird an Lügendetektion mittels Hirnscannern geforscht. Ein "Lügenzentrum" hat man zwar auch hier nicht gefunden. Allerdings ist der Blick auf körperliche Vorgänge wesentlich genauer als beim Polygraphen.

Mittlerweile liegen etwa zwei Dutzend Studien mit zum Teil vielversprechenden Resultaten vor. Allerdings räumen selbst Wissenschaftler ein, dass sie sich noch im Stadium der Grundlagenforschung befinden.

Ob also mit dem Blick ins Gehirn einmal Lügendetektion möglich sein wird, die dem Polygraphentest überlegen ist, lässt sich noch nicht abschätzen, auch wenn einiges dafür spricht. Fürchten müsste sich davor aber erst einmal niemand, denn von einem "Einblick in die Seele" kann auch hier keine Rede sein und von perfekten Lügendetektoren sind wir ohnehin noch weit entfernt.

Dr. Stefan Seiterle ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Strafrecht, insbesondere Internationales Strafrecht und Rechtsvergleichung, Rechtsphilosophie an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder).

Zitiervorschlag

Dr. Stefan Seiterle, Lügendetektor im Strafprozess: Weit entfernt vom "Einblick in die Seele" . In: Legal Tribune Online, 08.11.2010 , https://www.lto.de/persistent/a_id/1879/ (abgerufen am: 25.04.2024 )

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