Nach dem Fall Emmely: Frei­brief für Arbeit­nehmer

Neue Linie seit dem Fall "Emmely": In einem aktuellen Urteil erklärt auch das LAG Berlin die Kündigung einer langjährig Beschäftigten für unwirksam, obwohl sie nicht nur einen Bagatellbetrag entwendete. Dr. Marc Spielberger über die Risiken der neuen Rechtsprechung für Arbeitgeber - und wie sie zu minimieren sind.

er bundesweit bekannt gewordene Fall "Emmely" des Bundesarbeitsgerichts (BAG) zieht erste Folgen nach sich. Das BAG hatte kürzlich entschieden, dass eine Kündigung einer 30 Jahre lang beschäftigten Kassiererin unwirksam sei, obwohl diese ihr nicht gehörende Pfandbons im Wert von insgesamt 1,30 Euro zum eigenen Vorteil eingelöst hatte. Der Arbeitgeber hätte sie nur abmahnen dürfen.

In Anwendung der Grundsätze dieses BAG-Urteils entschied jetzt das Landesarbeitsgericht (LAG) Berlin-Brandenburg (Aktenzeichen 2 Sa 209/10), dass die außerordentliche Kündigung einer Zugabfertigerin der Deutschen Bahn (DB) ebenfalls unwirksam war.

Die Mitarbeiterin hatte ihr 40-jähriges Dienstjubiläum im Kollegenkreis gefeiert. Die Bewirtungskosten betrugen 90 EUR. Für Dienstjubiläen erstattete der Arbeitgeber Kosten bis 250 EUR. Um diesen Betrag auszuschöpfen, ließ sich die Mitarbeiterin vom Cateringunternehmen eine fingierte Rechnung über 250 EUR geben und reichte sie bei der DB ein. Der Betrug über die Differenz von 160,00 EUR flog auf, die Mitarbeiterin räumte den Vorgang ein, die DB kündigte fristlos.

Die Betrugshandlung gegenüber dem Arbeitgeber stellte zwar nach Ansicht des LAG Berlin-Brandenburg eine strafrechtlich relevante grobe Pflichtwidrigkeit dar und damit lag grundsätzlich ein verhaltensbedingter Kündigungsgrund vor.

Interessenabwägung zu Gunsten der Arbeitnehmerin

Im Rahmen der Interessenabwägung überwogen aber die zugunsten der Arbeitnehmerin zu berücksichtigenden Umstände. Das LAG bezog sich dabei direkt auf den Fall "Emmely".

Zugunsten der Zugabfertigerin war die 40-jährige beanstandungsfreie Beschäftigungszeit zu berücksichtigen, die zu einem sehr hohen Maß an Vertrauenskapital geführt habe. Die einmalige Verfehlung konnte dieses nicht vollständig zerstören.

Anders als im Fall der Kassiererin "Emmely" hatte die Zugabfertigerin auch im Kernbereich ihrer Tätigkeiten nicht mit Gelddingen zu tun gehabt. Außerdem gab sie den Betrug sofort zu. Unter Berücksichtigung dieser Gesichtspunkte wurde das Interesse der Arbeitnehmerin am Erhalt ihres Arbeitsplatzes höher eingeschätzt als das Interesse der DB. Ob eine ordentliche Kündigung möglich gewesen wäre, war nicht Verfahrensgegenstand.

Wer langjährig im Betrieb ist, hat eine Straftat frei?!

Es zeichnet sich eine neue Rechtsprechung bei Straftaten, insbesondere bei Vermögens- und Eigentumsdelikten, zum Nachteil des Arbeitgebers, ab. Wenn man die Entscheidungen des BAG und des LAG zusammenfasst, könnte man sagen: Nach mindestens 30 Jahren beanstandungsfreien Arbeitsverhältnisses darf ein Arbeitnehmer einmal einen Griff in die Kasse des Arbeitgebers wagen, ohne dass er mit dem Verlust seines Arbeitsverhältnisses rechnen muss.

Dabei ist ist der Pfandbon-Fall des BAG ("Emmely") etwas anders zu sehen als der 160 Euro-Fall des LAG. Aufgrund der medienwirksamen Häufung von Kündigungen in Bagatellfällen, sei es wegen des Verzehrs von Maultaschen, die ohnehin weggeworfen werden sollten oder wegen Ladens eines Mobiltelefons im Betrieb, war die Entscheidung des BAG zum Diebstahl von 1,30 Euro von Pfandbons durchaus grundsätzlicher Natur. Sie sollte missbräuchlichen Kündigungen wegen reiner Lappalien einen Riegel vorschieben.

Im Fall des LAG aber ging es nicht mehr um eine Lappalie: Der Arbeitgeber wurde dreist um 160 Euro hintergangen. Dennoch wurden beide Fälle letztlich gleich behandelt. Auf einen bestimmten Wert kommt es daher nicht an.

Früher abmahnen statt später weiter beschäftigen (müssen)

Dennoch bedeutet die Emmely-Entscheidung des BAG, dass auch außerhalb von Bagatellfällen in Zukunft bei langjährig beschäftigten Arbeitnehmern ein Risiko für den Arbeitgeber besteht, wenn er bei Straftaten sofort zur außerordentlichen Kündigung greift.

Es sollte daher vorher genau abgewogen werden, was für und was gegen den Arbeitnehmer spricht. Hat sich der Arbeitnehmer über Jahrzehnte hinweg nichts zu Schulden kommen lassen, wird bei einem einmaligen Vorfall regelmäßig nur eine Abmahnung in Betracht kommen.

Der Arbeitgeber kann diesem Ergebnis aber zuvorkommen, indem er das Kriterium der "Beanstandungsfreiheit" beeinflusst. Denn jedem muss klar sein, dass der Mitarbeiter sich auf diesen Freibrief nur dann berufen kann, wenn er eine jahrzehntelang saubere Weste vorweisen kann.

Dass ein Arbeitsverhältnis tatsächlich über 30 Jahre lang als beanstandungsfrei gilt, liegt unter Umständen auch daran, dass leichtere Pflichtverletzungen in der Vergangenheit nie abgemahnt wurden, sondern der Arbeitgeber großzügig darüber hinweg sah.

Es empfiehlt sich daher in Zukunft für Arbeitgeber, auch bei leichteren Unregelmäßigkeiten genauer hinzuschauen und gegebenenfalls restriktiver abzumahnen, als dies bisher der Fall war. Für die Interessenabwägung bei einer späteren Kündigung kann das am Ende ausschlaggebend sein.

Der Autor Dr. Marc Spielberger ist Fachanwalt für Arbeitsrecht und Partner der Kanzlei Beiten Burkhardt in München.

Zitiervorschlag

Marc Spielberger, Nach dem Fall Emmely: Freibrief für Arbeitnehmer . In: Legal Tribune Online, 07.10.2010 , https://www.lto.de/persistent/a_id/1661/ (abgerufen am: 19.04.2024 )

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