40 Jahre Lehrbuchfall "Anastasia": Die russische Prinzessin, die keine war

von Martin Rath

12.09.2010

Gleich für mehrere Kino-, Zeichentrick und Fernsehfilme bildete die Geschichte von der Zarentochter Anastasia die Vorlage. Im realen Leben scheiterte eine schon ältere Dame 1970 vor dem Bundesgerichtshof mit dem Anliegen, als letzte Überlebende der 1918 ermordeten Zarenfamilie anerkannt zu werden. Ein Lehrbuchbeispiel zum Beweisrecht und eine traurige Nachgeschichte.

Selbst dem Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH), das immerhin in der amtlichen Entscheidungssammlung abgedruckt wurde, haftet etwas Melodramatisches an, nicht nur, weil es entgegen deutschen Gepflogenheiten ausdrücklich mit "Anastasia" überschrieben wurde (BGHZ 53, 245-264, Aktenzeichen III ZR 139/67 vom 17.02.1970): So dokumentieren die Bundesrichter erstaunlich detailliert die Geschichte vom Zarenmord und dem Nachlass des Reußen-Herrschers.

Außergewöhnlich detailliert erklärt der BGH auch, warum er selbst in diesem außergewöhnlichen Fall nicht bereit war, das Beweisrecht und andere Grundsätze des deutschen Zivilprozesses zu modifizieren – Erläuterungen, die das Urteil sogar für juristische Laien bis heute zur lesbaren Lektüre machen.

Russland 1917/18 – Berlin 1920

Gegen Ende des Ersten Weltkriegs putschten sich die kommunistischen Bolschewiki mit der sogenannten Oktoberrevolution 1917 in Russland an die Macht. Im nun ausbrechenden Bürgerkrieg beschränkte sich ihr Regime auf die Ballungszentren, insbesondere St. Petersburg und Moskau – weite Teile des Landes blieben noch jahrelang hart umkämpft. Derweil war die Zarenfamilie von den Bolschewiki inhaftiert worden, also der vormalige Alleinherrscher Nikolaus II., seine aus hessischem Adel stammende Frau Alexandra Fjodorowna, der Sohn Alexei und die drei Töchter – unter ihnen als Jüngste die 1901 geborene Anastasia.

Die Familie wurde in der Nacht zum 17. Juni 1918 in Jekatarinenburg getötet. Jener Mythos, der fast vier Jahrzehnte lang auch deutsche Gerichte beschäftigen sollte, löste die Frage aus, ob es der Zarentochter Anastasia gelungen war, die Ermordung der engeren Familie sowie weiter Teile des russischen Hochadels zu überleben.

Den Mythos mit Leben erfüllte vor allem eine junge Frau, die nach einem Selbstmordversuch am 17. Februar 1920 aus dem Berliner Landwehrkanal gezogen wurde. Nach einem Psychiatrieaufenthalt kam sie mit damals in Berlin sehr präsenten russischen Exil-Kreisen in Kontakt: Seit 1922 behauptete sie, die Großfürstin Anastasia zu sein, dem Terror mit Hilfe eines polnischen Geliebten erfolgreich entflohen.

In Teilen der russischen Exilgemeinde, insbesondere in Deutschland und den USA, fand die junge Frau damit Gehör: Nachdem sich das bolschewistische Regime wider Erwarten erfolgreich etablieren konnte und alle Rückkehrhoffnungen zerschlagen waren, überwog bei vielen Helfern "Anastasias" der Wunsch nach wenigstens einem Happy End manchen Zweifel an ihrer Identität.

Mythos macht Rechtsgeschichte

Seit 1938 beschäftigten sich deutsche Gerichte mit dem Fall "Anastasia", einen englischen Prozess beendete der Zweite Weltkrieg. In Deutschland strebte die rätselhafte Frau, die von den Behörden nun offiziell "Anna Anderson" genannt wurde, die Einziehung des Erbscheins an, der 1933 an die deutschen Verwandten der Zarenfamilie für den hiesigen Nachlass erteilt worden war. Indirekt mit auf dem Spiel stand dabei stets auch die wahre Identität der "Anna Anderson".

In seiner Gerichtsreportage im SPIEGEL entblätterte Gerhard Mauz 1967 bereits fast das ganze Drama: In ihm treten Psychiater auf, die verdächtige Erinnerungslücken und das eigenartige Verhalten der "Anna Anderson" für oder wider ihre Identität mit der russischen Großfürstin wenden. Mehrmals im Mahlwerk der Instanzen und Prozesse hatte ein gebrechlicher Herr polnischer Herkunft seinen großen Tag vor Gericht, während derer er Indizien für eine alternative Identität der "Anna Anderson" liefert – die 1896 geborene Pächtertochter Francisca Czenstkowska aus Westpreußen soll sie sein. Mauz schildert diesen Zeugen als etwas obskur.

Gegen Ende ihres Prozesses vor Landgericht und Oberlandesgericht in Hamburg hält der berühmte SPIEGEL-Journalist Mauz – selbst übrigens studierter Psychologe und Sohn eines Psychiaters – zur zentralen Frage dieses Falles sinngemäß fest: Dass "Anna Anderson" sich mit den Mitteln des Rechts einen Wahrheitsanspruch ihrer Identität verschaffen könnte, diese Idee stamme aus einer optimistischeren, älteren Epoche der Justizgeschichte.

BGH beendet den Prozess

Bis dahin unterlegen, begründeten die Anwälte "Anastasias" ihre Revision beim BGH unter anderem mit einem Argument, das direkt die heikle Frage nach der Person ihrer Mandantin thematisierte: Weil die Gerichte der "Anna Anderson", nunmehr verheiratete "Anna Manahan", wie im Zivilprozess üblich, die Beweislast für ihre Identität mit der Großfürstin Anastasia aufgebürdet hätten, sei die Menschenwürde ihrer Mandantin verletzt. Denn wo die Identität auf dem Spiel stünde, sei eine Beweiserhebung von Amts wegen nötig.

Dieses Argument verwirft der BGH: "Anna Anderson" habe sich in vorangegangenen Verfahren nach dem Personenstandsgesetz, in dem der Amtsermittlungsgrundsatz gelte, nicht hinreichend um die Feststellung ihrer etwaigen großfürstlichen Herkunft bemüht. Darum war das Gericht keinesfalls bereit, gleich eine ganze Reihe von Verfahrensgrundsätzen über den Haufen zu werfen, um "Anna Anderson" contra legem zu einer Beweiserhebung von Amts wegen zu verhelfen.

So knapp begründet das Gericht aber nicht, es entwickelt sein Argument derart umfangreich, als hätten die Medienpräsenz und das Melodramatische des "Jahrhundertfalls" (G. Mauz) noch in die Beratungszimmer von Karlsruhe hineingeweht. Selbst für die Begründung, warum die Vorinstanzen Sachverständige auf Seiten "Anna Andersons" hätten ablehnen dürfen, bemüht das Gericht noch die 1.000-jährige Evidenzformel juristischer Rhetorik:

"Der Richter darf und muss sich aber in tatsächlich zweifelhaften Fällen mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad an Gewissheit begnügen, der den Zweifeln Schweigen gebietet, ohne sie völlig auszuschließen."

Keine Zarentochter, Katzen-Queen

"Gewissheit", die "den Zweifeln Schweigen gebietet" hat erst der Zusammenbruch der Sowjetunion gebracht. Die sterblichen Überreste der Zarenfamilie konnten nun exhumiert werden. Zugleich erlaubte die rasante Entwicklung der Genomanalyse in den 1980er-Jahren glaubwürdige erbbiologische Untersuchungen. Spätestens seit 2007 darf einigermaßen eindeutig davon ausgegangen werden, dass alle Angehörigen der näheren Zarenfamilie in jener Sommernacht des Jahres 1918 einem schaurigen Gemetzel durch die kommunistische Geheimpolizei zum Opfer fielen.

"Anna Anderson", die ihre Identität mit der Großfürstin Anastasia bis zum Schluss behauptet hatte, erlebte das nicht mehr, sie verstarb 1984 in den USA – seit 1968 verheiratet mit dem exzentrischen Professor John Eacot Manahan. Die erbbiologische Klärung ihrer Identität sollte noch ein juristisches Vorspiel haben, weigerten sich doch ihre Rechtsnachfolger, Vergleichsmaterial für die Genomanalyse freizugeben. Material, das ihre Identität mit der Landarbeitertochter Francisca Czenstkowska aus Westpreußen belegt, fand sich aber schließlich doch.

In ihrem letzten Prozess zu Lebzeiten ging es nicht mehr um die Identität der "Anna Anderson", verheiratete Manahan. Allenfalls um eine zerstörte Identität: Ein Gericht in Charlottesville, USA, verurteilte die Manahans 1978 zu einer Geldbuße wegen ihres verwilderten Anwesens voller Ratten. Die alte Dame war inzwischen stark verwirrt, sammelte in der Handtasche Essenreste für ihre geliebte Katzenmeute – mit den entsprechenden Folgen.

Martin Rath, Journalist und Lektor in Köln.

Zitiervorschlag

Martin Rath, 40 Jahre Lehrbuchfall "Anastasia": Die russische Prinzessin, die keine war . In: Legal Tribune Online, 12.09.2010 , https://www.lto.de/persistent/a_id/1419/ (abgerufen am: 18.04.2024 )

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