Stuttgart 21: Zwischen friedlichem Protest und strafbarer Nötigung

Demonstranten in Stuttgart überklettern Bauzäune, rund um Gorleben blockieren sie Zufahrtsstraßen. Die Protestaktionen gegen  umstrittene Projekte wie "Stuttgart 21" und das Atommüll-Zwischenlager machen bundesweit Schlagzeilen. Wie weit dürfen die Teilnehmer gehen, um ihren Protest auszudrücken?

Bei dem Großprojekt "Stuttgart 21" soll der bisherige Stuttgarter Hauptbahnhof teilweise abgerissen und unter die Erde verlegt werden. Oberirdisch soll ein komplett neues Stadtviertel entstehen. Nicht nur die enormen Kosten in Höhe von 4,1 Milliarden Euro machen das Projekt äußerst umstritten, sondern auch die Bedenken von Experten, die wegen ungünstiger Untergrundverhältnisse an der Umsetzbarkeit zweifeln.

Die Ausdrucksformen des Protests sind vielfältig: So wurden bei der Großdemo am vergangenen Freitag Menschenketten gebildet, Protestmärsche durchgeführt und mit Trillerpfeifen oder den von der Fußball-WM noch bestens bekannten Vuvuzelas wurde lautstark der Unmut gegen das Projekt zum Ausdruck gebracht. Teilweise wurden mit Sitzblockaden Lastwagen daran gehindert, Abbruchmaterial abzutransportieren und einige Demonstranten hatten sogar das Dach des Nordflügels besetzt.

An der Bahnstrecke zum Atommüll-Zwischenlager in Gorleben treffen sich tausende Demonstranten zum "schottern" oder blockieren die Zufahrtsstraßen.

Friedliche Meinungskundgabe erlaubt, Blockadeaktionen nicht

Nicht alle der genannten Protestaktionen sind vom Grundrecht der Versammlungsfreiheit gedeckt. Art. 8 Grundgesetz (GG) schützt nur das Recht, sich "friedlich und ohne Waffen" zu versammeln. Näheres regeln die Versammlungsgesetze, die seit der Föderalismusreform 2006 in die Gesetzgebungskompetenz der Länder fallen. Da Baden-Württemberg im Unterschied etwa zu Bayern oder Sachsen kein eigenes Versammlungsgesetz erlassen hat, gilt das Versammlungsgesetz des Bundes (VersG) weiter.

Großdemos wie in Stuttgart und Gorleben führen zwangsläufig dazu, dass öffentlicher Verkehrsraum in Anspruch genommen wird, mit der Konsequenz, dass es zu Verkehrsstörungen kommt. Da den Straßen neben der Möglichkeit der Fortbewegung eine Zusatzfunktion im kommunikativen Gemeingebrauch zukommt, schützt Art. 8 GG eine Versammlung selbst dann, wenn es zu (unvermeidlichen) Behinderungen und Beeinträchtigungen anderer Personen kommt, so das Bundesverfassungsgericht in einer Entscheidung aus dem Jahr 2001 (BVerfGE 104, 92).

Aufgabe der Versammlungsbehörde ist es, die Interessen der Versammlungsteilnehmer mit den Interessen der Verkehrsteilnehmer in einen bestmöglichen Ausgleich zu bringen, etwa indem für Umleitungen gesorgt wird oder Straßensperrungen zeitlich auf das notwendige Minimum beschränkt werden.

Grundsätzlich zulässig ist es auch, mit Trillerpfeifen oder anderen Lärminstrumenten auf sich aufmerksam zu machen. Ausnahmen sind aber denkbar, wenn unzumutbar in die Rechte anderer eingegriffen wird, so wenn zum Beispiel in unmittelbarer Nähe einer Kirche während eines Gottesdienstes demonstriert werden soll.

Gezielte Aktionen gegen Bauarbeiten nicht vom Versammlungsrecht gedeckt

Das Friedlichkeitsgebot ist verletzt, wenn Sitzblockaden den Straftatbestand der Nötigung erfüllen. Verhinderungsblockaden, die nur den Zweck verfolgen, andere Rechtsträger in ihrer Rechtsposition zu beeinträchtigen, genießen nicht den Schutz der Versammlungsfreiheit. Bei ihnen geht es nicht mehr um öffentliche Kundgabe einer gemeinsamen Aussage oder den Einsatz hinnehmbarer Mittel zur Verstärkung dieser Kundgabe, sondern primär um "Selbstvollzug" gewünschter Maßnahmen oder um bloße Schädigung Dritter. Wenn daher in Stuttgart Lastwagen an der Zu- oder Abfahrt gehindert werden, so ist dies rechtswidrig.

Die Versammlungsfreiheit umfasst außerdem nicht das Recht, fremdes Eigentum nach Belieben in Anspruch zu nehmen, so das Bundesverwaltungsgericht in einem Urteil von 1992 (BVerwGE 91, 135). Auch das Übersteigen von Bauzäunen, Besetzen des abzubrechenden Bahnhofsgebäudes oder Besetzen von Baumaschinen ist daher rechtswidrig. Hier kann der Straftatbestand des Hausfriedensbruchs, § 123 Strafgesetzbuch (StGB), der Nötigung, § 240 StGB und unter Umständen sogar des Landfriedensbruchs (§ 125 StGB) vorliegen. Freiheitsstrafen bis zu drei Jahren oder Geldstrafen können die Folge sein.

Wenn durch Widerstandsaktionen zu Verkehrsbehinderungen oder ähnlichen Beeinträchtigungen kommt, so ist dies hinzunehmen, da dem Grundrecht der Versammlungsfreiheit in einer Demokratie eine ganz herausragende Bedeutung zukommt. Nicht hinnehmbar, da von Art. 8 GG nicht mehr gedeckt, sind aber gezielte Blockadeaktionen, mit denen zum Beispiel Bauarbeiten verhindert werden sollen.

Der Autor Dr. Alfred Scheidler ist Oberregierungsrat in Neustadt an der Waldnaab und Autor zahlreicher Publikationen zum öffentlichen Recht.

Zitiervorschlag

Alfred Scheidler, Stuttgart 21: Zwischen friedlichem Protest und strafbarer Nötigung . In: Legal Tribune Online, 01.09.2010 , https://www.lto.de/persistent/a_id/1334/ (abgerufen am: 24.04.2024 )

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