EuGH hebt Urteil des EuG auf: Städte dürfen über Diesel-Fahr­ver­bote selb­ständig bestimmen

13.01.2022

Die Kommission hatte Schadstoff-Grenzwerte für Diesel-PKW faktisch gelockert. Etwa die Stadt Paris klagte daher, weil sie glaubte, nun keine Fahrverbote mehr verhängen zu dürfen. Irrtum meint der EuGH. Die Städte können selbst entscheiden.

Im Streit um die Abmilderung von Grenzwerten bei neuen Abgastests hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) Klagen von Paris, Brüssel und Madrid als unzulässig abgewiesen (Urt. v. 13.01.2022, verbundene Rechtssachen C-177/19, C-178/19, C-179/19). Die Klagen richteten sich auf Nichtigerklärung einer Verordnung der EU-Kommission, mit der sie die Stickoxid-Grenzwerte für Autos der Euro-6-Norm faktisch neu festgelegt hatte.

Die Städte hatten sich zunächst an das Gericht der Europäischen Union (EuG) gewendet und dort in Teilen Recht bekommen. Gegen das Urteil hatten Deutschland, Ungarn und die EU-Kommission Rechtsmittel eingelegt. Der EuGH hob nunmehr die Entscheidung des Gerichts auf. 

Faktische Erhöhung der Stickoxid-Grenzwerte durch EU-Kommission

Im Kontext des "Dieselgate"-Skandals hatte die Europäische Kommission ein strengeres Prüfverfahren zur Messung von Emissionen in der Betriebspraxis (RDE) eingeführt. Dieses sollte ein realistischeres Bild von den tatsächlichen Emissionen im realen Fahrbetrieb auf der Straße vermitteln. Doch weil mit dem strengeren Prüfverfahren die Fahrzeuge die Grenzwerte nicht einhalten konnten, bestimmte die EU-Kommission in der Verordnung 2016/646 einen Konformitätsfaktor. Ein Grenzwert durfte zum Beispiel um das 2,1-fache überschritten werden. Die Brüsseler Behörde wollte damit Automobilherstellern entgegenkommen. 

Paris, Brüssel und Madrid sahen im Konformitätsfaktor eine faktische Aufweichung des Grenzwertes. Sie erhoben Klage auf Nichtigerklärung der Verordnung, da diese sie angeblich daran hindere, Fahrverbote für Fahrzeuge zu verhängen, die dem faktisch neu bestimmten Grenzwert entsprechen. Die Kommission erhob gegen die vorgenannten Klagen Einreden der Unzulässigkeit. Sie machte geltend, diese Städte seien von der streitigen Verordnung nicht unmittelbar betroffen.

Der EuG gab den Klagen teilweise statt. Seiner Ansicht nach seien die klagenden Städte unmittelbar betroffen (Urt. v. 13.12.2018, Rs. T-339/16, T-352/16, T- 391/16). Auch habe die EU-Kommission die Grenzwerte bei der Einführung von Messungen im praktischen Fahrbetrieb (RDE) zu Unrecht faktisch erhöht. Dem schloss sich auch der Generalanwalt des EuGH Michal Bobek im Ergebnis an. 

EuGH: Städte sind nicht unmittelbar betroffen

Der EuGH ließ die Klagen heute an der Zulässigkeit scheitern. Er präzisierte den Begriff der "unmittelbar betroffenen Person“ als Voraussetzung für die Zulässigkeit der Nichtigkeitsklage. Zwei Kriterien müssen hierfür nach Ansicht des EuGH kumulativ erfüllt sein: Zum einen muss sich die beanstandete Maßnahme auf die Rechtsstellung dieser Einheiten auswirken. Zum anderen darf sie den Adressaten, die mit ihrer Durchführung betraut sind, keinerlei Ermessensspielraum lassen. 

Nach diesem Maßstab verneint der EuGH eine unmittelbare Betroffenheit der klagenden Städte. Nach Art. 4 Abs. 3 Unterabs. 2 der Richtlinie 2007/46 dürfen "[d]ie Mitgliedstaaten … die Zulassung, den Verkauf, die Inbetriebnahme oder die Teilnahme am Straßenverkehr von Fahrzeugen … nicht … untersagen, beschränken oder behindern, wenn diese den Anforderungen dieser Richtlinie entsprechen“. Diese Regelung hindere Städte nur daran, den Verkauf von Fahrzeugen zu untersagen, die der Verordnung entsprechen. Die spätere Teilnahme am Verkehr dürfe aber sehr wohl verboten werden. 

Da demnach den Städten unbenommen sei, Fahrverbote gegen Dieselautos aus Umweltschutzgründen zu verhängen, wirke sich die Verordnung nicht auf die Städte aus. Entsprechend seien diese von der Verordnung nicht unmittelbar betroffen, die Klage daher unzulässig. Mit dieser Argumentation begegnete der Gerichtshof den Befürchtungen der Städte, gegen den jeweiligen Mitgliedstaat zu dem sie gehören, könne Vertragsverletzungsklage wegen Verstoßes gegen die Verordnung erhoben werden.

DUH-Anwalt Klinger begrüßt das Urteil

Eine Niederlage für die Städte auf dem Papier. Doch der Sache nach hat der EuGH ihre Autonomie im Umweltschutz gestärkt. Rechtsanwalt Remo Klinger, der für die Deutsche Umwelthilfe (DUH) in den letzten Jahren zahlreiche Dieselfahrverbots-Urteile gegen Städte durchgesetzt hat, begrüßte das Urteil gegenüber LTO: "Wir haben immer vertreten, dass Kommunen selbständig über Fahrverbote entscheiden können und schmutzige Diesel-PKW aus den Innenstädten verbannen dürfen. Genau das hat jetzt der EuGH bestätigt."

Zur Rechtsfrage, ob die Kommission durch den Konformitätsfaktor die Grenzwerte faktisch und in unzulässigerweise erhöht hat, musste der EUGH mangels Zulässigkeit der Klage keine Stellung nehmen. Sowohl das EuG als auch der Generalanwalt vertraten die Auffassung, dass Grenzwerte nicht nur für den Prüfstand, sondern auch im Realbetrieb Geltung beanspruchen und die Kommission daher nicht befugt gewesen sei, durch den Konformitätsfaktor die Grenzwerte faktisch aufzuweichen.  

fz/LTO-Redaktion

 

Zitiervorschlag

EuGH hebt Urteil des EuG auf: Städte dürfen über Diesel-Fahrverbote selbständig bestimmen . In: Legal Tribune Online, 13.01.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/47201/ (abgerufen am: 19.04.2024 )

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