BVerfG zur Waffengleichheit im Eilrechtsschutz: Im Zweifel für die Anhörung – jetzt auch im Wett­be­werbs­recht

von Pia Lorenz

30.07.2020

Gerichte dürfen keine einstweilige Verfügung erlassen, wenn deren Adressat nicht genau dieselben Informationen hat wie der Antragsteller. Das gilt, wie das BVerfG jetzt entschied, auch im Wettbewerbsrecht – grundsätzlich.

Die Maßstäbe zur prozessualen Waffengleichheit und des rechtlichen Gehörs im zivilrechtlichen Eilrechtsschutz gelten grundsätzlich auch im Wettbewerbsrecht. Weicht der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung (e.V.) von den in der Abmahnung geltend gemachten Unterlassungsansprüchen ab, muss das Gericht den Gegner zwingend anhören. Erteilt es dem Antragsteller Hinweise, müssen diese vor Erlass der Entscheidung auch dem Gegner mitgeteilt werden. Das entschied das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) am Dienstag, der noch nicht veröffentlichte Beschluss (v. 27.07.2020. Az. 1 BvR 1379/20) liegt LTO vor.

Mit der Entscheidung nahm die 2. Kammer des Ersten Senats eine Verfassungsbeschwerde gegen eine einstweilige Verfügung des Landgerichts München I nicht zur Entscheidung an. Die Karlsruher Richter betonen dabei, dass nicht gegen jede einstweilige Verfügung, die unter Verletzung des rechtlichen Gehörs zustande gekommen ist, eine Verfassungsbeschwerde statthaft ist.

Es ist bereits die dritte Entscheidung zum Themenkomplex der prozessualen Waffengleichheit binnen weniger Wochen. Das BVerfG weitet seine Rechtsprechung zur Verletzung des rechtlichen Gehörs im zivilrechtlichen Eilverfahren vom Presse- und Äußerungsrecht auf das Wettbewerbsrecht aus.

Hinweis des Gerichts, Antrag geändert - alles ohne den Gegner

Im Ausgangsverfahren vor dem LG München I ging es um einen wettbewerbsrechtlichen Streit über Produktkennzeichnungen im medizinischen Bereich. Das abgemahnte Unternehmen stellte sich, vertreten von der Kölner Medienrechtskanzlei Höcker Rechtsanwälte, auf den Standpunkt, seine Produkte hinreichend zu kennzeichnen, und gab keine Unterlassungs- und Verpflichtungserklärung ab.

Auf die sodann von dem abmahnenden Betrieb beantragte Unterlassungsverfügung hin wies das LG München I den abmahnenden Betrieb darauf hin, dass es Bedenken hinsichtlich des gestellten Antrags und der Glaubhaftmachung habe. Die Antragstellerin ergänzte ihren Antrag, das LG München I erließ die einstweilige Verfügung entsprechend dem geänderten Antrag, ohne das abgemahnte Unternehmen an dem gerichtlichen Verfahren zu beteiligen. Dessen Antrag auf Einstellung der Zwangsvollstreckung wurde zurückgewiesen, ein Termin zur mündlichen Verhandlung anberaumt für sieben Wochen später.

Für eine erfolgreiche Verfassungsbeschwerde reicht das nicht, stellte das BVerfG fest. Zwar verstoße die einstweilige Verfügung gegen die prozessuale Waffengleichheit und das Recht auf rechtliches Gehör, weil der Verfügungsantrag nicht identisch mit dem Unterlassungsbegehren aus der Abmahnung war und das Gericht den Gegner nicht vor Erlass der e.V. über seinen Hinweis auf die Anträge informiert hatte. Allerdings fehle es sowohl an einer grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Bedeutung als auch an einem hinreichenden Feststellungsinteresse.

Das grundrechtsgleiche Recht auf prozessuale Waffengleichheit

Die Rechtsfragen seien nämlich schon geklärt, so das BVerfG. Die Maßstäbe, die das BVerfG zum rechtlichen Gehör und zur prozessualen Waffengleichheit im zivilrechtlichen Eilrechtschutz für das Presse- und Äußerungsrecht entwickelt habe, gölten im Grundsatz auch für einstweilige Verfügungsverfahren im Lauterkeitsrecht.

Im Oktober 2018 hatte das BVerfG klargestellt, dass sowohl der Spiegel-Verlag als auch das Recherchenetzwerk Correctiv hätten angehört werden müssen, bevor die Gerichte einstweilige Verfügungen zugunsten von Personen und Unternehmen erließen, die sich durch geplante Berichterstattungen der beiden Medien in ihren Persönlichkeitsrechten verletzt fühlten.

Das grundrechtsgleiche Recht auf prozessuale Waffengleichheit schreibe vor, so die Kammer damals, "dass ein Gericht im Presse- und Äußerungsrecht der Gegenseite vor einer stattgebenden Entscheidung über den Antrag einer Partei [...] Recht auf Gehör gewähren muss". So könne zwar ohne mündliche Verhandlung entschieden werden, wenn die besondere Dringlichkeit der Sache dies gebiete, erinnerten die Richter. Eine Partei aber komplett vom Verfahren auszuschließen und ihr jegliche Erwiderung vor Ergehen der Entscheidung zu verwehren, sei nicht mit dem Grundgesetz zu vereinbaren.

Gilt jetzt auch im Wettbewerbsrecht – grundsätzlich

Bisher war unklar, ob diese Rechtsprechung zur Waffengleichheit im zivilrechtlichen Eilverfahren auch für den Bereich des Gewerblichen Rechtsschutzes gilt. Etwas pauschaler formulierte das BVerfG bereits in zwei Entscheidungen aus den vergangenen Wochen, doch auch dort ging es um Presserecht. Die aktuelle Entscheidung aus Karlsruhe hat Dr. Johannes Gräbig von der Kanzlei Höcker erwirkt. "Nun steht fest, dass die verfassungsrechtliche Garantie des rechtlichen Gehörs auch im Wettbewerbsrecht umzusetzen ist: Weicht der Verfügungsantrag von den in der Abmahnung geltend gemachten Unterlassungsansprüchen ab, muss das Gericht den Gegner zwingend anhören. Erteilt es dem Antragsteller Hinweise, müssen diese vor Erlass der Entscheidung auch dem Gegner mitgeteilt werden", erklärt der Fachanwalt für Gewerblichen Rechtsschutz gegenüber LTO.

Offen lassen die Karlsruher Richter allerdings weiterhin, ob diese Anforderungen uneingeschränkt auch auf den gesamten Bereich des geistigen Eigentums ausgerollt werden. Dieser sog. grüne Bereich ist geregelt durch die EU-Richtlinie zum Schutz der Rechte an geistigem Eigentum (RiLi 2004/48/EG). Art. 9 Abs. 4 der Richtlinie sieht ausdrücklich vor, dass einstweilige Maßnahmen zum Schutz von geistigen Eigentumsrechten auch ohne Anhörung der anderen Partei angeordnet werden können, "insbesondere dann, wenn durch eine Verzögerung dem Rechtsinhaber ein nicht wieder gutzumachender Schaden entstehen würde". Die Parteien können dann auch erst nach Vollziehung der Maßnahmen informiert werden.

Allerdings sei, so das BVerfG, die Richtlinie jedenfalls auf den Rechtsbruchtatbestand des § 3a des Gesetzes gegen den Unlauteren Wettbewerb (UWG) nicht anwendbar. Nicht geklärt ist also, ob die jetzt weiter präzisierten Anforderungen an die Verwirklichung rechtlichen Gehörs auch für gewerbliche Schutzrechte und im Urheberrecht gelten. Auch andere wettbewerbsrechtliche Tatbestände, auf welche die Richtlinie anwendbar ist, könnten eine Ausnahme vom jetzt postulierten Grundsatz sein.

Eine e.V. macht noch kein Feststellungsinteresse

Auch in anderer Hinsicht scheint das BVerfG seine Rechtsprechung weiter präzisiert zu haben. Die Verfassungsbeschwerde hatte nämlich auch deshalb keinen Erfolg, weil die Karlsruher Richter kein hinreichend gewichtiges Feststellungsinteresse sehen. Nicht jede Verletzung des rechtlichen Gehörs, auch nicht ein Verfahrensirrtum wie der dem LG München I unterlaufene, könne per Verfassungsbeschwerde geltend gemacht werden, heißt es in dem Beschluss. Das entspricht zwar der ständigen Rechtsprechung seit einigen Jahren, viele Juristen hatten aus einer anderen kürzlich ergangenen Entscheidung aus Karlsruhe, die ebenfalls Höcker Rechtsanwälte erwirkten, aber eine Lockerung der Voraussetzungen gelesen.

Für Gräbig bietet die Entscheidung aus Karlsruhe daher auch Anlass zu Kritik: "Zu dem jetzt geforderten Feststellungsinteresse hatte das BVerfG Anfang Juni noch darauf abgestellt, dass die Rechtsbeeinträchtigung durch die einstweilige Verfügung in Gestalt eines weiterhin vollstreckbaren Unterlassungstitels noch fortdauert - und vom dortigen Beschwerdeführer kein besonderes gewichtiges Feststellungsinteresse verlangt. Vielmehr genügt es dem Gericht, dass er weiterhin durch die angegriffene Verfügung beschwert ist." Aus Gräbigs Sicht war die Situation mit der in dem jetzt entschiedenen wettbewerbsrechtlichen Verfahren vergleichbar.

Der Anwalt wies gegenüber LTO noch auf einen weiteren Unterschied hin: "Während das BVerfG in der Entscheidung zum Presserecht noch eine Terminierung zur mündlichen Verhandlung von circa zwei Monaten nach Widerspruchseinlegung als zu lang bezeichnete, sah es in dem wettbewerbsrechtlichen Verfahren eine Terminierung sieben Wochen nach Widerspruchseinlegung noch als ausreichend an."

Unabhängig davon ist die Entscheidung aus Gräbigs Sicht "ein Meilenstein, weil nun klargestellt ist, dass die Grundsätze zu Eilverfahren auch im Wettbewerbsrecht gelten."

Zitiervorschlag

BVerfG zur Waffengleichheit im Eilrechtsschutz: Im Zweifel für die Anhörung – jetzt auch im Wettbewerbsrecht . In: Legal Tribune Online, 30.07.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/42354/ (abgerufen am: 24.04.2024 )

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