Prüferseufzer VI – Lerntipps zur Examensvorbereitung

Dein Sach­ver­halt, das unbe­kannte Wesen

von Denis BasakLesedauer: 7 Minuten

Im Examen haben Prüflinge nur das Gesetz und den Sachverhalt zur Hand. Denis Basak plädiert dafür, nicht Fälle, sondern den Umgang mit Fällen zu lernen. Das geht weit über Schwerpunktsetzung und genaues Lesen hinaus.

Studierende lernen für das Examen Unmengen an dogmatischen Einzelheiten. Korrigiert man aber Examensklausuren, zeigt sich, dass es nicht nur auf das Wissen ankommt, sondern auf dessen Anwendung auf den konkreten Fall. Selbst erkennbar belesene Kandidaten haben immer wieder große Probleme mit dem Kern der Aufgabenstellung: dem Sachverhalt.

Zumindest der didaktisch angehauchte Korrektor versucht zu bilanzieren, welche Arten von Fehlern typisch sind. Dabei entsteht die Vermutung, in der Examensvorbereitung laufe grundlegend etwas schief, sowohl in der Lehre als auch bei den Lernenden selbst. So mag man den Eindruck gewinnen, dass einer dieser grundlegenden Fehlertypen darauf beruht, dass in der Fallbearbeitungsklausur ausgerechnet dem Kern der Aufgabenstellung – nämlich dem Sachverhalt – zu wenig Beachtung geschenkt wird.

Es ist eine alte Mahnung, mit der meist schon der AG-Leiter im ersten Semester seine Zuhörerschaft nervt: Den Sachverhalt muss man so nehmen, wie er ist, man darf weder etwas weglassen, noch etwas hinzudichten. In der Korrekturpraxis fällt aber auf, wie schwer das zu sein scheint, wenn die Kandidaten noch einen Tatbestand unterbringen wollen, zu dem Sachverhalt aber nicht ganz passt.

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Woher kommt die "Sachverhaltsquetsche"?

Ein konkretes Beispiel: Im Sachverhalt steht, dass A vor einem Treffen mit B dessen Allergienotfallpack "verschwinden lässt". Nachdem er B durch die Verwendung von Erdnussöl in einem Salat in einen lebensbedrohenden Schock versetzt hat, verstirbt dieser, obwohl er durch die in dem Pack enthaltenen Medikamente hätte gerettet werden können. Nicht wenige Bearbeiter wollen hier neben dem Tötungsdelikt durch aktives Tun (Erdnussölgabe) auch ein unechtes Unterlassen prüfen, weil A den B nicht gerettet hat, nachdem er in den Schockzustand geriet.

Viele Klausurschreiber machen dabei aus der Formulierung "verschwinden lassen" ein "verstecken", mit der Folge, dass A auch nach Auftreten des Schocks das Notfallpack noch hätte verwenden können. Aber damit wird der Sachverhalt umgeschrieben. Wenn man etwas "verschwinden lässt", dann ist es verschwunden, also nicht mehr da, nicht mehr greifbar. A hatte nach Auftreten des Schocks also keinen Zugriff mehr auf die Notfallmedikation, ein unechtes Unterlassen scheidet mangels Möglichkeit zur Erfolgsabwendung aus.

Hier ließen sich viele weitere Beispiele für das gleiche Phänomen aufführen: Man darf nicht den Sachverhalt den Problemen anpassen, die man prüfen will, sondern soll umgekehrt nur die Fragen prüfen, die der Fall auch tatsächlich aufwirft. Das verlangt Selbstdisziplin – und Übung, spezifisch mit Blick auf diesen Unterschied.

Warum trotz früher Thematisierung des Verbots der "Sachverhaltsquetsche" diese Art von Fehlern immer wieder auftritt, ist nur schwer nachzuvollziehen. Ein Teil mag auf die unvermeidliche Anspannung im Examen zurückzuführen sein. Ein anderer Teil mag aber auch damit zu tun haben, dass sich das Lernen zu sehr auf bestimmte standardisierte Problemkonstellationen konzentriert und zu wenig darauf, unbekannte und neben den Standardfällen liegende Sachverhalte zu erwarten, obwohl diese im Examen häufiger vorkommen. Dies fördert die Neigung, in Klausuren die Standardprobleme zu suchen – und schlimmstenfalls den Fall dem Problem anzupassen.

Bewusstsein für Regel-Ausnahme-Verhältnisse schaffen

Dabei basteln Klausurersteller Sachverhalte oft mit Absicht so zusammen, dass sie neben den Lehrbuchbeispielen liegen und den Prüflingen abverlangen, einen fundierten Vergleich zwischen dem aufgegebenen Fall und den Standardbeispielen zu ziehen. § 6 Abs. 2 Hessisches Juristenausbildungsgesetz sagt beispielsweise ausdrücklich, die Erste Juristische Prüfung sei eine Verständnisprüfung. Viele Klausurersteller ziehen daraus den Schluss, wichtig sei der Transfer des gelernten Wissens auf unbekannte Fallkonstellationen.

Leider kollidiert dies häufiger mit einer "problemorientierten" Lernweise, bei der angehende Juristen immer an den schwierigen Grenzfällen geschult werden und nicht erst einmal den Normalfall einer Norm oder Rechtsfigur kennen lernen. In der Korrektur bekommt man zu sehen, was passiert, wenn Ausnahmefälle so intensiv gelernt wurden, dass sich das Regel-Ausnahme-Verhältnis umkehrt. Der Chef einer Bande ist nicht der Normalfall der Mittäterschaft, sondern ein akademisches Beispiel für einen sehr umstrittenen Ausnahmefall der Tatherrschaft trotz Abwesenheit bei Tatbegehung, der außerhalb von Hollywoodfilmen keine praktische Relevanz hat. Und genau so sollte man ihn auch im Hinterkopf behalten.

Ein weiteres Beispiel: In der Notwehrprüfung kann es um die Gebotenheit gehen. Hier haben praktisch alle Geprüften vom Kirschbaumfall als Beispiel für ein krasses Missverhältnisses zwischen geschützten und geopferten Rechtsgütern gehört. Vergessen wird dabei, dass die Geschichte vom Rentner im Rollstuhl, der auf ein Kind im Kirschbaum schießt, schon eine Zuspitzung des Sachverhalts eines Urteils des Reichsgerichts (Urt v. 20.9.1920, Az. I 384/20) ist, in dem es um einen Obstbauern und erwachsene Diebe ging – und in dem das Reichsgericht eine Notwehr bejaht hatte. In der Klausur ist der Fall oft noch weniger eindeutig: Dort könnte der Angreifer zwar sterben, aber vielleicht nicht nur Kirschen geklaut haben, sondern gleichzeitig ein körperlich zudringlicher Stalker oder ein Erpresser gewesen sein.

In diesem Beispiel ist wichtig, die Gebotenheit zu problematisieren. Es ist aber zu kurz gedacht, diese mit einem lapidaren Verweis auf den Kirschbaumfall und die überragende Bedeutung des Rechtsguts Leben gleich wieder zu beenden. Es kennzeichnet die Notwehr, dass sie keine Güterabwägung enthält und auch tödliche Gewalt zum Schutz von Eigentum oder Vermögen rechtfertigen kann. Damit muss man im Gutachten eine eigene Argumentation entwickeln, und zwar aus den Sachverhaltsangaben und einem Gespür für Regel und Ausnahme.

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2/2: Dem Gefühl zur Schwerpunktsetzung trauen

Zu einer guten Sachverhaltsbehandlung zählt auch immer, die Bearbeitungsschwerpunkte dahin zu legen, wo die Begutachtung knifflig wird. Dieses Setzen von Schwerpunkten geschieht auf zwei Arten: einerseits durch ausführliche, kleinteilige und gründliche Argumentation an den problematischen Stellen. Andererseits aber auch durch knappes und effektives Abarbeiten der klaren Punkte. Es gibt nirgends eine Regel, die besagt, man müsse in der Examensklausur wenigstens das erste Delikt prüfen wie ein Erstsemester.

Konkret gesagt: Wenn der Sachverhalt lautet, A schlägt B auf die Nase, die zu bluten beginnt, so ist es – selbst wenn dies die erste Prüfung der Klausur bildet – nicht angemessen, über zweieinhalb bis vier Seiten mit bis zu sechs Zwischenüberschriften jeden einzelnen Prüfungspunkt aus dem Erstsemesterlehrbuch zum Allgemeinen Teil auszubreiten, um dann zu der wenig überraschenden Erkenntnis zu kommen, dass der objektive Tatbestand des § 223 Strafgesetzbuch hier erfüllt ist.

Es gibt auch keine Regel, die besagt, dass man ein im Sachverhalt deutlich nicht vollendetes Delikt nicht direkt im Versuch prüfen darf. Wenn der Täter zwar getäuscht hat, es aber noch zu keiner Zahlung gekommen ist, sollte man nicht über mehrere Seiten hinweg einen vollendeten Betrug prüfen, um dann erst den allein einschlägigen Betrugsversuch anzusprechen. Das beste Werkzeug zur schnellen Erledigung bleibt die Konkurrenzlehre, wenn man alle in Gesetzeskonkurrenz zurücktretenden Normen nur mit eben diesem Hinweis kurz erwähnt.

Den Sachverhalt als Ressource nutzen

Zusätzlich kann es sich auch lohnen, erst einmal nahe am Sachverhalt zu argumentieren, bevor man auf bekannte Standardfragen eingeht. Ein Beispiel: Abiturient A quält immer wieder den einige Jahre jüngeren B körperlich wie mental, und erpresst laufend die Herausgabe von Essensgeld und Wertsachen. Er ist bei dessen Bruder T auf eine Party eingeladen, in deren Verlauf er von T, der nicht weiß, wie er seinen Bruder B sonst helfen soll, mit einem Getränk tödlich vergiftet wird. Hier ist sicher Heimtücke als Mordmerkmal zu prüfen. Dabei kennt fast jeder die Debatte, ob dieses Merkmal dadurch eingeschränkt werden soll, dass ein besonders verwerflicher Vertrauensbruch gefordert wird.

Eigentlich wäre aber zuerst zu klären, ob A überhaupt arglos sein kann, weil er selbst immer wieder den kleinen Bruder seines Gastgebers angreift und so diesen in eine nothilfeähnliche Situation bringt. Die Antwort darauf ist offen. Wenn aber hier etwa eng am Sachverhalt argumentiert wird, warum die spezifische Situation einer Partyeinladung, bei der unmittelbar gar kein Kontakt zwischen A und B zu erwarten war, ersteren so in Sicherheit wiegt, dass er nicht mit einem Angriff auf sein Leben rechnet, so bringt dies oft mehr Punkte als die mehr oder weniger saubere Beschäftigung mit der Folgefrage nach zusätzlichen Einschränkungen der Heimtücke.

Ähnliches gilt sehr oft auch für Irrtumsfragen, wo die aus dem Sachverhalt zu begründende Vorfrage, ob die Voraussetzungen einer aberratio ictus oder eines Erlaubnistatbestandsirrtums überhaupt vorliegen, oft mindestens genauso punkteträchtig sind wie die folgenden Debatten um die Rechtsfolgen dieser Figuren.

Nicht Fälle lernen, sondern den Umgang mit Fällen

Will man daraus einige Ratschläge an die nächsten Examenskandidaten destillieren, gehört zu diesen sicher, nicht Fälle als solche auswendig zu lernen, sondern sich mit einer zwar wissensbasierten, aber vor allem vom Können geleiteten Bearbeitung unbekannter Sachverhaltskonstellationen zu beschäftigen.

Das Ziel sollte nicht sein, alle Fälle zu kennen (das klappt sowieso nicht), sondern in der Lage zu sein, auch jeden unbekannten Sachverhalt halbwegs sinnvoll zu bearbeiten. Dazu muss man achtsam mit ihm umgehen, dann kann man ihm aber auch sehr viel Hilfreiches entnehmen. Um das zu lernen, muss man üben. Nicht unbedingt mehr, als es die allermeisten Examenskandidaten ohnehin tun - aber eben bewusst mit einem anderen Fokus.

Der Autor Dr. Denis Basak forscht und lehrt an der Goethe-Universität Frankfurt am Main in den Bereichen Rechtsdidaktik und deutsches und internationales Straf- und Strafprozessrecht. Zudem ist er seit einigen Jahren als Prüfer im Pflichtfachteil wie im Schwerpunktbereich der Ersten Juristischen Prüfung tätig.

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