Freischuss

Leid und Glück der frühen Vögel

von Janina SeyfertLesedauer: 5 Minuten
Wer schnell ist, hat einen Versuch frei, besagen die Prüfungsordnungen der Länder. Wer also seine Leistung in der 1. juristischen Prüfung notfalls verbessern möchte, muss nach dem 8. Fachsemester fertig sein. Hat es Sinn, hier Zeit zu sparen? Schließlich geht es um eine äußerst umfangreiche und komplexe Ausbildung, an deren Ende kräftezehrende Prüfungen stehen.

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Im Jahr 2009 waren es in Deutschland 4.179 Jurastudenten, die sich nach dem achten Fachsemester an die gefürchtete Prüfung wagten. Sie machten damit unter den Kandidaten des Jahrgangs einen Anteil von knapp 37 Prozent aus – die "Freischützen". Ob sie wirklich bereit waren, können sie mit Gewissheit erst mehrere Monate später sagen. Dann werden die berüchtigten Listen mit den Prüfungsnummern der "Durchfaller" veröffentlicht. Dass sie meistens nicht bereit sind, beobachtet Achim Wüst vom Juristischen Fachverlag  Hemmer/Wüst. Der erfahrene Repetitor rät seinen Kursteilnehmern deshalb jedes Jahr das Gleiche: "Vergesst den Freischuss!" Laut Wüst hat der Durchschnittsstudent aus der Zeit an der Uni nicht viel mitgenommen. Zu ihm kommen junge Leute, vor denen eine Aufgabe liegt, auf die sie seiner Ansicht nach noch nicht vorbereitet sind. Sie mussten über die Semester zwar eine Vielzahl von Scheinen machen – diese Art des Studierens gibt allerdings nicht annähernd einen Vorgeschmack auf den Umfang einer Examensklausur. Während des Studiums gilt es, isoliert einen kleinen Teil des Stoffes in den Semesterabschlussklausuren abzurufen. Dass sich auf diese Weise am Ende ein Bogen ergibt und die Studenten in der Lage sind, über fünf Stunden einen umfangreichen Sachverhalt quer durch alle Rechtsgebiete lösen können, scheint fast illusorisch.

Freischützen sind manchmal entspannter

Aus diesem Grunde bedürfe es Zeit, um den Kreis, der sich eben nicht automatisch schließt, dann doch noch in Form zu bringen. In acht Semestern sei das kaum möglich, sagt Wüst. Acht Semester reichen, um an den juristischen Fakultäten Grund- und Hauptstudium sowie den Schwerpunkt zu bewältigen. Danach allerdings bleiben den meisten nur wenige Monate, um zu wiederholen, zu vertiefen oder Lücken zu schließen. Das sei zu wenig. Trotz des Zeitdrucks scheint es aber nachvollziehbar, dass viele Studenten den Freiversuch "mitnehmen" wollen. In keiner anderen Berufsgruppe entscheiden die Abschlussnoten derart unumstößlich über die Karriere wie bei den Juristen. Wie in Stein gemeißelt prangen die Ergebnisse der Examina in den Lebensläufen. Es liegt nahe, dass sich viele Kandidaten aus diesem Grund einen unverbindlichen Versuch wünschen. Die angehenden Juristen erhoffen sich, dass sie vielleicht ein Stück weit gelassener in die Prüfung gehen als die Kommilitonen, bei denen es um "alles oder nichts" geht. Doch nicht nur das Stückchen Gelassenheit wird als Argument für das schnelle Examen ins Feld geführt. Die Motivationswirkung, die auch Peter Gseller, Koordinator des Examinatoriums der Uni Augsburg bestätigt, ist enorm. Schon während des Studiums haben die späteren Prüflinge die Deadline im Hinterkopf. Dementsprechend hoch ist der Aufwand, den viele bereits für die Semesterabschlussklausuren betreiben, um nicht durchzufallen oder Zeit zu verlieren.

Kampf gegen das Vergessen: "Jura ist nicht wie Fahrradfahren"

Oft wird in der Diskussion um den Freischuss aber vernachlässigt, dass der Kandidat im Fall der Fälle erneut im Examen steckt. "Ich würde keinem raten, das Examen zweimal zu schreiben", warnt Gseller. Die Erfahrung habe gezeigt, dass die meisten nach dem ersten Versuch auf dem Zahnfleisch kriechen. Viele fahren erst einmal in den Urlaub und schauen monatelang nicht in die Bücher. "Leider ist es bei Jura nicht wie mit dem Fahrradfahren. Der Stoff ist dann ganz schnell weg", fasst Gseller zusammen. Die Gefahr, in ein Motivationsloch zu stürzen, ist für den gescheiterten Freischützen sehr hoch. Daher rät auch Gseller, sich nicht zur Prüfung zu melden, wenn der Stoff noch nicht sitzt: "Die Leute verkennen, dass irgendwann die Noten kommen". Um schlechte Noten und Enttäuschung zu vermeiden, ist laut Achim Wüst für die meisten ein Studium über zehn Semester sinnvoll. "Jura ist Anwendungswissenschaft", beschreibt der Repetitor. Es reicht daher nicht, den Stoff abstrakt zu behandeln. Er empfiehlt Prüfungskandidaten, möglichst viele Klausuren auf Examensniveau zur Übung zu schreiben. Nur dann bekomme man die nötige Routine, um im Ernstfall den Überblick zu behalten. Er selbst hat sich mit 120 Probeklausuren auseinandergesetzt, ehe er das Examen ablegte. Doch nicht nur an der Routine kann es leicht mangeln, wenn Studenten in acht Semestern durch die Rechtsgebiete sprinten. Auf der Strecke bleibt daneben oft das tiefere Verständnis. So ist auch Tina Winter, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Examenskurs der Uni Hamburg, vorsichtig beim Thema "Freischuss": "Das Grundgerüst können sich viele in der kurzen Zeit draufschaffen, das "Warum" ist bei dem Auswendiggelernten aber manchmal noch lange nicht geklärt".

Die Prüfungsstatistik gibt keinen Aufschluss über Vor- und Nachteile

Bezüglich der Durchfallquote lassen sich in der Statistik allerdings keine Argumente gegen den Freiversuch finden. Knapp 75 Prozent hielten 2009 hinterher ihr Examenszeugnis in den Händen. Damit ist die isolierte Durchfallquote der Freischützen sogar niedriger als in der Gesamtstatistik. Allerdings können in der Auflistung etwas mehr Prüflinge ein besseres Ergebnis als ein "ausreichend" vorweisen. Laut Wüst reicht ein Blick auf die Statistik der ersten Pflichtfachprüfung jedoch nicht aus, um alle Vor- und Nachteile eines eiligen Jurastudiums zu beurteilen. Denn auch im Assessorexamen wird der Pflichtstoff der ersten Prüfung vorausgesetzt. "Wer es ohne gefestigte Kenntnisse im Familien- oder Erbrecht erstmal geschafft hat, muss die Lücken dann zum zweiten Examen schließen", gibt der Repetitor zu bedenken. Die meisten hätten allerdings schon genug damit zu tun, sich in dieser Zeit das Prozessrecht anzueignen, da auch hier in den wenigen Jahren des Studiums nur Zeit für einen groben Überblick war. Neben allen fachlichen Argumenten spielen bei der Planung des Studiums, insbesondere der Dauer, aber auch ganz andere Aspekte eine Rolle. Ein langes Studium muss finanziert werden. Einige müssen den BAföG-Berg oder die Belastung der Eltern mehr berücksichtigen als andere. Auch gibt es diejenigen, die das Leben an der Uni in vollen Zügen genießen, sich über den Speiseplan in der Mensa und über Kaffee-Pausen vor der Bibliothek freuen. Dagegen will so manch anderer Student schnell raus aus dem Hörsaal und rein in die "echte Welt". Eine wahre "Einzelfallentscheidung", würde der Jurist sagen. Mehr auf LTO.de: Prüfungsanfechtung: Keine Angst vor Verböserung

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