Auslandsjahr in Brasilien

Roxin im Hörsaal von São Paulo

von Stefan GiglLesedauer: 5 Minuten
Brasilien ist nicht Bayreuth, das wurde Stefan Gigl spätestens in dem Moment klar, als er auf dem täglichen Weg zur Uni Obdachlosen und Prostituierten begegnete. Im Hörsaal angekommen, gab es jedoch wohlbekannte Namen zu hören: Claus Roxin etwa, der auch in Südamerika zum Pflichtprogramm gehört. Ein Bericht über ein Jahr voller Gemeinsamkeiten und Gegensätze.

São Paulo ist mit 22 Millionen Einwohnern nicht nur die größte Metropole Lateinamerikas, sondern auch ein Ort des täglichen Wahnsinns. Zur hora do rush sind Verkehrsstaus von bis zu 300 Kilometern im inneren Stadtgebiet keine Seltenheit; auf engstem Raum grenzen arme an reiche Bezirke. Die Universität von Sao Paulo ist mit 90.000 Studenten ein eigener Kosmos, die renommierte juristische Fakultät befindet sich aus historischen Gründen in dem als eher gefährlich geltenden Zentrum der Stadt und in unmittelbarer Nähe zu Cracolândia, Hochburg des Crack- und Kokainmissbrauchs. Mein täglicher Weg von der U-Bahn-Station Praça da Sé zur Fakultät führte daher unter anderem an einem Straßenstrich und zahlreichen Obdachlosen vorbei, die unter Planen oder Behelfsbauten am Gehweg lagen. Die bereits wegen ihrer Architektur beeindruckende juristische Fakultät ist gut erhalten und besteht fast ausschließlich aus historisch anmutenden Vorlesungsräumen. Anders sieht indes das Umfeld des Fakultätsgebäudes aus: einige der angrenzenden Häuser stehen leer und werden mitunter von Hausbesetzern mit Beschlag belegt. Wie diese von der Polizei eher rabiat wieder vor die Tür gesetzt wurden, konnte ich eines Morgens auf dem Weg zur Vorlesung beobachten. Bayreuth kam mir im Vergleich doch sehr beschaulich und friedliebend vor.

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Verdreckte Flüsse, verarmte Vorstädte

Aber natürlich war die außergewöhnliche Lage der Fakultät nicht der einzige oder prägendste Eindruck meines Aufenthaltes. São Paulo selbst ist ein Schmelztiegel verschiedener Kulturen und besitzt alles, was man von einer Weltstadt so erwartet. Abends nach einem langen Tag frisch zubereitetes Sushi in der "Japan-Town" Liberdade genießen, die Kultur des Landes in einem der 110 Museen erkunden oder sich dem bunten und tobenden Nachtleben einer südamerikanischen Metropole hingeben – alles kein Problem. Andererseits kommt man nicht daran vorbei, die beiden zu Abwasserkanälen degradierten und übel riechenden Flüsse Rio Pinheiros und Rio Tietê zu bemerken, letzterer umrahmt von einer zehnspurigen Autobahn. Auch den Anblick der ausgedehnten Favela-Gebiete, der brasilianischen Armenviertel, die sich um die Stadt herum gebildet haben, bleibt im Gedächtnis haften.

Roxin lässt grüßen

Ebenfalls unvergesslich, allerdings aus ganz anderen Gründen, bleibt der Besuch meiner ersten Vorlesung. In Großbuchstaben prangte dort das Wort "RECHTSSTAATSPRINZIP" an der Tafel – wohlgemerkt nicht in einer Einführungsveranstaltung für deutsche Auslandsstudenten. Tatsächlich ist das brasilianische Recht stark vom deutschen beeinflusst, wobei in der dortigen Juristenausbildung ein höherer Stellenwert auf die philosophischen Wurzeln gelegt wird. So kam es, dass ich über die Ursprünge unseres Rechtssystems in São Paulo mehr gelernt habe, als vorher in Bayreuth. Auch altbekannte Professoren tauchten in den Vorlesungen auf: Im Strafrecht befasste man sich beispielsweise mit den Ausführungen von Roxin zu Täterschaft und Teilnahme, und im Staatsrecht wurde die Normenpyramide des Österreichers Hans Kelsen besprochen. Ja, sogar der Gutachtenstil wurde den brasilianischen Studenten vereinzelt eingebläut. Auf der anderen Seite gab es im brasilianischen Recht auch Konzepte, die man aus Deutschland ganz sicher nicht gewöhnt ist, so etwa zur Beurteilung der Geschäftsfähigkeit von Indianern. Diese wird im Rahmen des "Estatuto do Índio" danach differenziert, wie sehr die Indianer in die Gesellschaft integriert sind und ab wann eine Vormundschaft als angebracht erscheint.

Regenwälder, wilde Strände, Inkastätten

Neben dem Unterricht blieb genug Zeit, auch das Umland zu bereisen. Als Infrastrukturzentrum Lateinamerikas ist São Paulo der perfekte Ausgangspunkt für eine Erkundungstour durch Brasilien und Südamerika. Von hier aus kann man in den europäisch geprägten Süden des Landes aufbrechen, mit seinen wilden und hellen Sandstränden, oder in den Norden mit seinen starken afrikanischen Einflüssen und dem Amazonas, der grünen Lagune des Landes. Da internationale Flüge innerhalb Lateinamerikas im Vergleich zu Inlandsflügen in Brasilien sehr teuer waren, flog ich in den Semesterferien nach Porto Velho, einer Stadt südlich des Amazonas. Von dort wollte ich über die Grenze nach Peru und anschließend zur sagenumwobenen Inka-Stätte Machu Picchu. Auf der Busfahrt von Porto Velho nach Rio Branco konnte ich mit der lokalen Bevölkerung buchstäblich auf Tuchfühlung gehen. Eigentlich sollte die Reise neun Stunden dauern, doch der Fahrer hatte beschlossen, sich durch Zwischenstopps in diversen kleinen Dörfern ein Zubrot zu verdienen, und die Kapazitäten seines Fahrzeugs bis an die Obergrenze auszureizen. Das Ergebnis: 15 Stunden Busfahrt im Stehen, von allen Seiten zusammengedrückt und umringt von Bewohnern aus dem Amazonas, für die die Begegnung mit einem Ausländer, der mit seltsamen Akzent Portugiesisch spricht, nicht gerade zum Alltag gehörte. Die Leute waren jedoch, wie überhaupt fast alle Brasilianer, die ich kennengelernt habe, sehr offen und herzlich. Gerade bei einem einjährigen Aufenthalt ist die Unterstützung der Einheimischen von großer Bedeutung; sie hat es mir sehr erleichtert, im Land Anschluss zu finden und mein Portugiesisch auf Vordermann zu bringen.

Auslandsjahr auf eigene Faust – nicht nur Vorteile

Das ist sicher ein Vorteil gegenüber einem Erasmus-Aufenthalt: Während man dort relativ schnell Landsleute oder andere Austauschstudenten kennenlernt, und mit diesen dann meist auf Englisch kommuniziert, war ich als einziger deutsche Austauschstudent an der Fakultät ohne organisatorisches Rahmenprogramm gezwungen, mich mit dem Land, den Leuten und der Sprache vertraut zu machen. Allerdings ist ein Auslandssemester ohne Erasmus auch deutlich komplizierter in der Vorbereitung, vor allem bei der Finanzierung. Um die sollte man sich frühzeitig kümmern, denn das Leben in Brasilien ist nicht billiger als in Deutschland, unter Umständen sogar teurer. Eine Möglichkeit, sich etwas hinzu zu verdienen, und nebenbei die eigenen Rechtskenntnisse zu erweitern, besteht darin, vor Ort ein Kanzleipraktikum zu absolvieren. Am Ende meines Aufenthalts war ich bei einer brasilianischen Kanzlei beschäftigt, die sich auf den Markteintritt deutscher Unternehmen in Brasilien spezialisiert hat. Dort konnte ich mir ein Bild von der Bedeutung machen, die das Land und insbesondere São Paulo, das als größte deutsche Industriestadt außerhalb Deutschlands gilt, für deutsche Unternehmen haben - und welchen praktischen Problemen man in Südamerika begegnet.

Hochschulzentrum und DAAD können helfen

Für ein Studium in einem lateinamerikanischen Land bieten vor allem der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD) und das Bayerische Hochschulzentrum für Lateinamerika (BayLat) Förderungen an. Voraussetzung sind bei beiden ein umfangreiches Motivationsschreiben, das den Mehrwert des Auslandsaufenthalts aufzeigt, ein Professorengutachten, Leistungsnachweise sowie ein Sprachnachweis. Sollte man bei dem Jahresstipendium des DAAD in die engere Auswahl kommen, wird man zu einem Vorstellungsgespräch in die Zentrale nach Bonn eingeladen, wo man eine Kommission vom Sinn des Auslandsaufenthaltes überzeugen und wenigstens Grundkenntnisse der Landessprache demonstrieren muss. Ein gewisser Aufwand ist also nötig. Er lohnt sich aber allemal. Neben juristischen Erfahrungen habe ich viel an Lebenserfahrung hinzugewonnen und viele tolle Leute in einem wirklich einzigartigen Land kennengelernt. Stefan Gigl studiert Jura in Bayreuth. Ab Februar 2012 hat er für ein Jahr mit einem DAAD Vollstipendium an der Universidade de São Paulo studiert.

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