Die juristische Presseschau vom 23. Februar 2012: Wahl­k­reis­ein­tei­lung ver­fas­sungs­mäßig – Kas­t­ra­tionen kri­ti­siert – EuGH begu­t­

23.02.2012

Die Wahlprüfungsbeschwerde wurde zwar zurückgewiesen, ein paar Einlassungen zum Wahlrecht können trotzdem gemacht werden. Außerdem in der Presseschau: Der verfassungswidrige Hamburgerische Passivraucherschutz, was der Europarat zu Kastrationen in Deutschland meint, warum ACTA vor dem EuGH liegt, der ewig währende Streit am BGH und wer das schlagende Patent hat.

Wahlkreisgrößen: Über den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) in einer Wahlprüfungsbeschwerde unterrichtet die SZ (Jan Bielicki/Helmut Kerscher) (Kurzmeldung auf SZ.de). In der Sache sei es um den Zuschnitt der Wahlkreise bei der letzten Bundestagswahl gegangen. Die Berechnungsgrundlage dafür sei die "gesamte deutsche Wohnbevölkerung";  darin einbezogen seien auch nicht-wahlberechtigte Kinder und Jugendliche, deren Bevölkerungsanteil regional allerdings unterschiedlich hoch sei. Wären die Kreise deshalb, gemessen an der "Zahl der tatsächlich wahlberechtigten Erwachsenen" nicht mehr "vergleichbar groß", könne dies mit Blick auf die Wahlrechtsgleichheit problematisch werden. Die Beschwerde sei zwar zurückgewiesen worden, der Gesetzgeber müsse, so das BVerfG, jedoch überprüfen, ob Abweichungen  in den Wahlkreisen künftig nicht mehr "nur unerheblich" seien.

Reinhard Müller (FAZ) begrüßt, dass Karlsruhe die Einteilung der Wahlkreise für die Wahl 2009 "nicht angetastet" habe und erinnert weiter an die Klage von SPD und Grünen gegen das erst im letzten Jahr reformierte Wahlrecht. Müller meint, dies sei zwar "nicht besonders verständlich", damit aber "noch nicht verfassungswidrig". Einzelne Verfassungsrichter sollten jedenfalls dem Traum widerstehen, als "Oberwohlfahrtsamt" zu agieren und nur die Einhaltung verfassungsrechtlicher Grenzen prüfen.

Weitere Themen – Rechtspolitik

Datenschutzrecht: Über die Pläne der EU-Kommission zur Datenschutz-Vereinheitlichung spricht mit der taz (Christian Rath) Peter Schaar, Bundesbeauftragter für den Datenschutz. Schaar äußert sich zu den Entwürfen für eine Verordnung zum Datenschutz in Wirtschaft und Verwaltung sowie für eine Richtlinie zum Polizei-Datenschutz. Für Letztere beklage er das zu niedrige Datenschutzniveau, es führe "zur Absenkung deutscher Datenschutzstandards".

Polizeigewalt und Verstümmelung: Im gestern veröffentlichten Bericht des Anti-Folter-Komitee des Europarates seien polizeiliche Gewalt bei Festnahmen, die so genannte Vierpunktfixierung Inhaftierter sowie die chirurgische Kastration von Sexualstraftätern in Deutschland besprochen worden, so die taz (Christian Rath). Trotz einer "relativ positiven" Bewertung sei die Bundesrepublik etwa aufgefordert worden, Stellung zu beziehen, wie die Justiz mit mutmaßlicher Polizeigewalt umgehe.

Die SZ (Charlotte Frank) fokussiert auf das im Bericht geforderte Kastrationsverbot: Gemäß dem "Bundesgesetz über die freiwillige Kastration von 1969" könne Männern nach deren Einwilligung der Hoden entfernt werden. Das Komitee sehe darin jedoch eine "erniedrigende Behandlung", deren gewünschte Wirkung, eine dauerhafte Senkung des Geschlechtstriebs, nicht einmal belegt werden könne. Skepsis herrsche auch hinsichtlich der freien Entscheidung zum Eingriff. Petra Follmar-Otto vom Deutschen Institut für Menschenrechte zweifle laut SZ an einer "freien Entscheidung", wenn Betroffene glaubten, damit einer lebenslangen Verwahrung entgehen zu können; weiter könne nach dem Gesetz in manchen Fällen sogar ein "gesetzlicher Betreuer" die Entscheidung treffen.

Weitere Themen – Justiz

Passivrauchen in Hamburg: Im Rahmen einer konkreten Normenkontrolle hat das Bundesverfassungsgericht bereits im Januar dieses Jahres die Regelung des Hamburgerischen Passivraucherschutzgesetzes, wonach für Speisegaststätten keine Ausnahmegenehmigung für die Einrichtung eines separaten Raucherraumes erteilt werden könne, für verfassungswidrig erklärt. Wie es zur Vorlage des Verwaltungsgerichts kam schildert auf seinem Blog "Nebgen-Rough Justice" der Anwalt Christoph Nebgen, der die Klägerin, die Inhaberin einer Gaststätte auf einem Autohof in Hamburg, im Verwaltungsverfahren vertreten hatte.

Volksverhetzung: Mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom November letzten Jahres, in welcher eine Verurteilung durch das Landgericht Mühlhausen wegen "Volksverhetzung durch das Verbreiten von Schriften" aufgehoben wurde, befasst sich spiegel.de (Simone Utler). Ein "Kneipengespräch" und die Weitergabe revisionistischer Aufsätze über die angeblich fehlende Kriegsschuld Deutschlands sei Gegenstand der Verurteilung gewesen. Spiegel.de erläutert die Ausführungen des Gerichts zum Schutz der Meinungsfreiheit.

BVerwG zu Rechtsschutzbedürfnis: Wie lto.de meldet, habe das Bundesverwaltungsgericht mit Urteil vom Donnerstag seine Rechtsprechung aus den 1980ern Jahren zum Rechtsschutzbedürfnis für den Antrag auf die Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer von Sanitätsberufs- oder Zeitsoldaten geändert. Das zuständige Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben könne derartige Anträge nunmehr nicht deswegen als unzulässig abweisen, weil ein Dienstverhältnis aktuell bestehe.

ACTA vor EuGH: Die EU-Kommission hat das umstrittene ACTA-Abkommen dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) vorgelegt, der nun in einem Gutachten dessen Rechtmäßigkeit klären soll. Die FAZ (Nicolas Wolz/Caroline Freisfeld) berichtet, das Gericht solle nun prüfen, ob Urheberrechtsschutz, Meinungsfreiheit und Datenschutz in ein "angemessenen Gleichgewicht" gebracht worden seien. Ein "negatives Urteil" sei nicht unwahrscheinlich: So erinnerte Frank Schorkopf, Göttinger Europarechtler, laut FAZ an das die "Internetfreiheit" unterstützende Urteil des EuGH aus der vergangenen Woche.

Heribert Prantl (SZ) kommentiert: Der EuGH könne sich nun auch als Hüter "sozialer Rechte und Bürgerrechte" zeigen und nicht wie bislang als "juristischer Olymp einer Wirtschaftsunion". Prantl meint zudem, ACTA sei nur eine "Lokomotive, die die Waggons mit dem Gefahrgut" ziehe: Dahinter "lauere" bereits eine schärfere EU-Richtlinie zu Rechten an immateriellen Gütern.

ACTA und Raubritter: In einem "Standpunkt" von Volker Grossmann und Guy Kirsch (FAZ) wird das Abkommen vor dem Hintergrund des geltenden Urheberrechts und der Unterhaltungsindustrie kontextualisiert: Der einzelne Künstler trete seine Rechte an die Unterhaltungsindustrie ab, welche dann die Rendite einfahre, wie "ehedem die Raubritter". Die Industrie wolle sich den Staat "dienstbar" zu machen, so bei ACTA. Grossmann und Kirsch seinen daher versucht zu sagen, der einzelne Künstler werde in der aktuellen Diskussion als "menschliches Schutzschild" gebraucht gegen Gefahren für den Gewinn.

NSU-Ermittlungen: Mit Blick auf die heute stattfindende Trauerfeier für die NSU-Opfer fasst der SWR-Terrorismus-Blog (Holger Schmidt) den Stand der Ermittlungen zusammen.

Gema streitet: Über Stand und Hintergründe des Verfahrens zwischen der Verwertungsgesellschaft Gema und YouTube vor dem Landgericht Hamburg informiert Die Zeit (Jürgen Ziemer): Es gehe darum, "ob und wie" Urheberrechtsverletzungen durch YouTube verhindert werden könnten. Musikstücke, an denen Mitglieder der Verwertungsgesellschaft Rechte besäßen, dürften in keiner Form auf der Plattform abrufbar seien, auch nicht "als Hintergrundmusik eines selbstgedrehten Fallschirmspringer-Videos".

Machtkampf am BHG: Um den Posten des Vorsitzenden des 2. Strafsenats am Bundesgerichtshof tobe weiterhin ein "beispielloser Machtkampf", dem Die Zeit (Sabine Rückert) eine ganze Seite widmet. Nach einer Änderung des Geschäftsverteilungsplans sei momentan Andreas Ernemann der Vorsitzende. Dieser habe jedoch bereits den Vorsitz des 4. Strafsenats inne. Fünf Mitglieder aus dem 2. Strafsenat hielten diese Besetzung für gesetzwidrig und hätten sich im Januar geweigert, über eine Revision zu entscheiden. Daraufhin seien sie "vors Präsidium zitiert und in angespannter Atmosphäre befragt" worden.

Wulff-Verteidiger: Wie das Handelsblatt (Jan Keuchel) meldet, habe Christian Wulff vermutlich die renommierten Strafverteidiger Heiko Lesch und Bernd Müssig von der Kanzlei Redeker, Sellner, Dahs in Bonn engagiert.

Wulff und Geerkens: Was das Zivilrecht mit dem § 778 des Bürgerlichen Gesetzbuches für das Verhältnis zwischen Egon Geerkens und Christian Wulff hinsichtlich der Kreditgewährung durch Edith Geerkens bedeuten könne, erklärt Alexander Schall auf der FAZ Seite "Staat und Recht". Danach könne Herr Geerkens, glaube man seiner Version, einen Kreditauftrag an seine Frau erteilt haben - und damit zu Wulffs Bürgen werden: Damit gäbe es dann auch die "rechtliche und wirtschaftliche Beziehung".

Sonstiges

Die eigene Kanzlei: "Nischen jenseits der klassischen Fachgebiete finden. Ideen haben" – Zwei Ratschläge für junge Rechtsanwälte, die eine eigene Kanzlei gründen wollen oder müssen, mit denen sich im Chancen-Teil der Zeit (Maren Wernecke) ein ausführlicher Beitrag befasst. 156.000 zugelassene Anwälte gebe es zurzeit in Deutschland, wer davon eine eigene Kanzlei gründe müsse mit "Gründungskosten leicht über 10.000 Euro" rechnen.

Das Letzte zum Schluss

Patentrecht: Das "Blog-It-Recht" postet das "taktischste aller Patente". Wer hat's? In der Karikatur: Google.

Beiträge, die in der Presseschau nicht verlinkt sind, finden Sie nur in der heutigen Printausgabe oder im kostenpflichtigen E-Paper des jeweiligen Titels.
Morgen erscheint eine neue LTO-Presseschau.

lto/dc

(Hinweis für Journalisten)

Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 23. Februar 2012: Wahlkreiseinteilung verfassungsmäßig – Kastrationen kritisiert – EuGH begut . In: Legal Tribune Online, 23.02.2012 , https://www.lto.de/persistent/a_id/5618/ (abgerufen am: 25.04.2024 )

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